1 |
Sie hat sich verrechnet. Ich bin ein alter Sünder, Hofbauer, wer ist dies nicht. Es war ein böser Jugendstreich, den ich ihr spielte, doch wie da alle den Antrag abgelehnt haben, die Güllener im "Goldenen Apostel", einmütig, trotz dem Elend, war es die schönste Stunde in meinem Leben. |
2 |
Nein, wir harrten aus, all die endlosen Jahre, und mit uns das ganze Städtchen, weil es eine Hoffnung gibt, die Hoffnung, dass die alte Größe Güllens auferstehe, dass die Möglichkeit aufs neue begriffen werde, die unsere Heimaterde in so verschwenderischen Hülle und Fülle birgt. |
3 |
Sie sind ein verletztes liebendes Weib. Sie verlangen absolute Gerechtigkeit. Wie eine Heldin der Antike kommen Sie mir vor, wie eine Medea. Doch weil wir Sie im tiefsten begreifen, geben Sie uns den Mut, mehr von Ihnen zu fordern: Lassen Sie den unheilvollen Gedanken der Rache fallen. |
4 |
Ich wollte Ihnen helfen. Aber man schlug mich nieder, und auch Sie wollten es nicht. Was sind wir für Menschen. Die schändliche Milliarde brennt in unseren Herzen. Reißen Sie sich zusammen, kämpfen Sie um Ihr Leben, setzen Sie sich mit der Presse in Verbindung, Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren. |
5 |
Ich habe Klara zu dem gemacht, was sie ist, und mich zu dem, was ich bin, ein verschmierter windiger Krämer. Was soll ich tun, Lehrer von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und auch euch nicht mehr. |
6 |
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft überhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal überfiel ihn die grässliche Angst, er hätte ihn auf immer verloren. |
7 |
Madame Gillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. Äußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, nämlich wie die Mumie eines Mädchens; innerlich aber war sie längst tot. |
8 |
Wenn ein neues Moos entdeckt wird, muss man es mit allen anderen Moosen vergleichen - nur so kann man gewährleisten, dass es nicht bereits bekannt ist. Anschließend muss man eine formelle Beschreibung verfassen, Zeichnungen anfertigen und die Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlichen. |
9 |
Er war aber alles andere als tot. Er schlief nun sehr fest und träumte tief und zog seine Säfte in sich zurück. Schon begannen die Bläschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen. |
10 |
Baldini schaute ihm nach, wie er die Brücke hinunterhatschte, klein, gebückt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Drüben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert. |
11 |
Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplündert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut. |
12 |
Und er nahm einen der Leuchter und ging zur Tür hinaus, hinüber in den Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum Dienstboteneingang führte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den Riegel zurück und öffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen. |
13 |
Der Duft war so himmlisch gut, dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete. Das Parfum war im Vergleich zu "Amor und Psyche" wie eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. |
14 |
Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblätter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemüde. Man hätte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. |
15 |
Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini stürzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. |
16 |
Kosole legt eine Hand hinters Ohr und lauscht. Wir horchen ebenfalls in die Nacht hinaus. Aber es ist nichts anderes zu vernehmen als das dumpfe Geräusch des Artilleriefeuers und das hohe Zwitschern der Granaten. Von rechts kommt dazu noch das Knarren von Maschinengewehren. |
17 |
Jeder hat hier so irgend etwas, der eine seine Frau, der andere sein Geschäft, der dritte seine Stiefel, Valentin Laher seinen Schnaps und Tjaden den Wunsch, noch einmal dicke Bohnen mit Speck zu fressen. Kosole hingegen wird durch das Wort Bildung ohne weiteres gereizt. |
18 |
Unter den Mänteln regt es sich. Ein blasses, schmales Gesicht hebt sich hoch und stöhnt leise. Dort liegt mein Mitschüler, der Leutnant Ludwig Breyer, unser Zugführer. Seit Wochen hat er blutigen Durchfall, es ist zweifellos Ruhr, aber er will nicht zurück ins Lazarett. |
19 |
Er will lieber hier bei uns bleiben, denn wir warten alle darauf, dass es Frieden gibt, und dann können wir ihn gleich mitnehmen. Die Lazarette sind übervoll, niemand kümmert sich da recht um einen, und wenn man erst auf so einem Bett liegt, ist man gleich schon ein Stück mehr tot. |
20 |
Ludwig liegt auf einer Zeltbahn. Er hätte wirklich hinten bleiben können. Max Weil gibt ihm ein paar Tabletten zum Einnehmen. Valentin redet auf ihn ein, Schnaps zu trinken. Ledderhose versucht, eine saftige Schweinerei zu erzählen. Keiner hört hin. Wir liegen herum. Die Zeit geht weiter. |
21 |
Ein Gefechtsläufer bringt den Befehl, weiter zurückzugehen. Weßling nehmen wir in einer Zeltbahn mit, durch die ein Gewehr zum Tragen gesteckt wird, bis wir eine Bahre finden. Vorsichtig tappen wir hintereinander her. Es wird allmählich hell. Silberner Nebel im Gebüsch. |
22 |
Die Luft ist milde wie Wein. Das ist kein November, das ist März. Der Himmel blassblau und klar. In den Lachen am Wege spiegelt sich die Sonne. Wir gehen durch eine Pappelallee. Die Bäume stehen zu beiden Seiten der Straße, hoch und fast unversehrt, nur manchmal fehlt einer. |
23 |
Diese Gegend war früher Hinterland, sie ist nicht so verwüstet worden wie die Kilometer davor, die wir Tag um Tag, Meter um Meter aufgegeben haben. Die Sonne leuchtet auf der braunen Zeltbahn, und während wir durch die gelben Alleen gehen, schweben segelnd immerfort Blätter darauf herunter. |
24 |
Wir zerstören, was zu zerstören ist. Wenig genug. Ein paar Unterstände. Dann kommt der Befehl zum Rückzug. Es ist ein sonderbarer Moment. Wir stehen beieinander und sehen nach vorn. Leichte Nebelschwaden liegen über dem Boden. Die Trichterlinien und Gräben sind deutlich erkennbar. |
25 |
Wir stehen und starren. Die Ferne, der Waldrest, die Höhen, die Linien am Horizont drüben, das war eine furchtbare Welt und ein schweres Leben. Und jetzt bleibt das ohne weiteres zurück, wenn wir die Füße vorwärtssetzen, es versinkt Schritt für Schritt hinter uns, und in einer Stunde ist es weg. |
26 |
Die Kompanie marschiert langsam, denn wir sind müde und haben noch Verwundete bei uns. Dadurch bleibt unsere Gruppe allmählich zurück. Die Gegend ist hügelig, und wenn die Straße ansteigt, können wir von der Höhe aus nach der einen Seite den Rest unserer abziehenden Truppen sehen. |
27 |
Es sind Amerikaner. Wie ein breiter Fluss schieben sich ihre Kolonnen zwischen den Baumreihen vorwärts, und das unruhige Glitzern der Waffen läuft über sie hin. Ringsum aber liegen die stillen Felder, und die Wipfel der Bäume ragen mit ihren herbstlichen Farben aus der vordringenden Flut. |
28 |
Die Amerikaner stutzen, als sie uns sehen. Ihr Gespräch bricht ab. Sie nähern sich langsam. Wir ziehen uns gegen einen Schuppen zurück, um den Rücken gedeckt zu haben, und warten ab. Nach einer Minute des Schweigens löst sich ein baumlanger Amerikaner aus der Gruppe vor uns und winkt. |
29 |
Jetzt aber, unter den mitleidigen Augen der Amerikaner, begreifen wir, wie sinnlos das alles zuletzt noch gewesen ist. Der Anblick ihrer endlosen, reichlich ausgerüsteten Kolonnen zeigt uns, gegen welch eine hoffnungslose Übermacht an Menschen und Material wir standgehalten haben. |
30 |
In den Dörfern starren die Leute hinter uns her. In einem Bahnwärterhaus stehen Blumen am Fenster. Eine Frau mit vollen Brüsten stillt ein Kind. Sie hat ein blaues Kleid an. Hunde bellen uns an. Wolf bellt zurück. Am Wege bespringt ein Hahn eine Henne. Wir rauchen gedankenlos. |
31 |
Wollte man das Argument anbringen, dass es eine körperliche Außenwelt deshalb geben muss, weil wir die Häuser, Menschen oder Sterne nicht sehen würden, wenn es draußen nicht etwas gäbe, das Licht auf unsere Augen reflektiert und unsere Gesichtswahrnehmungen verursacht, so wäre die Antwort klar. |
32 |
Ein kleiner Knacks, dann noch einer. Die Treppe hatte neun Stufen, das wusste ich, es war nämlich besonders schwierig gewesen, sie zu bauen, weil es eine Wendeltreppe war. Also zählte ich neun Knackse, danach wurde es ganz still. Ich dachte, jetzt steht es hinter der Tür. |
33 |
Bei Mymlas muss man wirklich auf alles gefasst sein! Natürlich fühlte mein Gespenst sich gekränkt. Es verlor vollkommen den Faden, wurde ganz zerknittert und begann zu schrumpfen. Im selben Moment, als das arme Gespenst in einem traurigen Rauchkringel verschwand, brach der Jojoks in Gelächter aus. |
34 |
Am nächsten Tag war der Himmel bedeckt. Mumin wachte auf und ging in den stillen, nassen Garten hinaus. Der Sturm hatte sich gelegt, es regnete nicht mehr. Aber nichts war wie sonst. Er blieb lange stehen und guckte und schnupperte in alle Himmelsrichtungen, bis er begriff, woran es lag. |
35 |
Aber der Fluss beruhigte sich keineswegs. Die Ufer krochen näher heran und pressten das schäumende Wasser in eine enge Rinne. Jetzt waren sie in den Einsamen Bergen angekommen. Das Floß wirbelte durch eine tiefe Schlucht, und der Himmelsstreifen über ihnen wurde schmaler. |
36 |
Sie standen nebeneinander und sperrten die Augen auf. Dort, wo das Meer mit seinen weichen blauen Wellen und schaukelnden Möwen hätte sein sollen, war nur ein gähnender Abgrund zu sehen. Dampfwolken stiegen daraus empor, in der Tiefe brodelte es, ein eigenartiger, stechender Geruch hing in der Luft. |
37 |
Am Freitag, dem siebten August, war es vollkommen windstill und fürchterlich heiß. Keiner von ihnen wusste, wie spät es war, sie hatten nur ganz allgemein das Gefühl, dass es zu spät sei. Der Komet war ungeheuer groß geworden, und jetzt sah man ganz deutlich, dass er es auf das Tal abgesehen hatte. |
38 |
Im Morgengrauen begann sich der Schnee auf dem Dach zu bewegen. Er rutschte ein Stück, dann glitt er entschlossen über die Dachkante und landete mit einem weichen Plumps. Jetzt waren alle Fenster in Schnee begraben, durch die Scheiben drang nur noch ein schwaches graues Licht ins Haus. |
39 |
Sie waren nämlich unterwegs, um einen warmen, gemütlichen Platz zu suchen. Dort wollten sie ein Haus bauen, in das man sich verkriechen konnte, bevor der Winter kam. Mumintrolle können Kälte ganz und gar nicht ertragen, daher musste das Haus spätestens im Oktober fertig sein. |
40 |
Immer stärker leuchtete die Tulpe. Die Schlange begann, die Augen zuzukneifen, und plötzlich machte sie mit wütendem Zischen kehrt und glitt hinunter in den Schlamm. Mumin, seine Mutter und das kleine Tier waren so erregt und verblüfft, dass sie lange Zeit keinen Ton herausbrachten. |
41 |
Er scharrte und wühlte, bis sie überhaupt nichts mehr sehen konnte. Und währenddessen rückte er immer näher und näher, und plötzlich grub er sich blitzschnell im Sand ein und buddelte eine sehr tiefe Grube. Schließlich waren nur noch seine Augen unten auf dem Grund der Grube zu sehen. |
42 |
Die Sonne ging bereits unter, und hinter dem Horizont türmten sich bedrohliche schwarze Wolken auf. Es sah nach Sturm aus. Plötzlich erblickten sie weiter hinten am Strand etwas, das sich bewegte – zahllose kleine blasse Gestalten, die sich damit abmühten, ein Segelboot ins Wasser zu schieben. |
43 |
Ab und zu kamen Wellen angerollt, die größer waren als die anderen und über den Berg spritzten. Das Boot sauste mit geblähten Segeln in rasender Fahrt dahin. Manchmal sahen sie eine Seejungfrau auf den Wellenkämmen vorbeiziehen, dann wieder tauchte ein ganzer Schwarm kleiner Seetrolle auf. |
44 |
Dann marschierten sie den ganzen Tag im strömenden Regen weiter. Ebenso am nächsten Tag. Das einzig Essbare, was sie fanden, waren aufgeweichte Jamswurzeln und ein paar Feigen. Am dritten Tag regnete es schlimmer denn je, und jedes kleine Rinnsal war zu einem schäumenden Fluss geworden. |
45 |
Ihre Wanderung wurde immer mühseliger, das Wasser stieg unablässig, und schließlich mussten sie auf einen kleinen Hügel hinaufklettern, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Dort setzten sie sich hin und beobachteten die reißenden Wirbel, die immer näher herausbrausten. |
46 |
Immerhin war es möglich, dass sie etwas Kostbares finden konnten, das nach der Überschwemmung im Wasser umhertrieb. Zum Beispiel einen Schrein voller Juwelen? Er sah sich aufmerksam um, und als er plötzlich etwas im Wasser funkeln sah, stieß er vor Erregung einen Schrei aus. |
47 |
Vereinzelte Hügel, Zäune und Hausdächer ragten bereits über die Wasseroberfläche, und die Vögel hatten begonnen, aus vollem Hals zu singen. Der Sessel trieb sachte auf eine Anhöhe zu, wo es von Leuten wimmelte, die hin und her rannten und ihre Besitztümer aus dem Wasser zogen. |
48 |
So saßen sie am Feuer, erzählten einander von ihren Abenteuern und aßen Suppe, bis der Mond aufgegangen war und die Feuer am Ufer nach und nach gelöscht wurden. Von den Seehasen durften sie eine Decke ausleihen, und dann kuschelten sie sich eng aneinander und schliefen ein. |
49 |
Sie wanderten den ganzen Tag, und wohin sie auch kamen, war es wunderschön. Nach dem Regen schlugen überall die herrlichsten Blumen aus, und die Bäume trugen sowohl Blüten als auch Früchte. Sie brauchten nur leicht an einem Baum zu schütteln, und schon fielen die Früchte ins Gras. |
50 |
Alle paar Minuten drehte sich Sue nach hinten und warf etwas in die angeregte Unterhaltung ihrer Töchter ein. Bob kam es vor, als ob alle wild durcheinander redeten. In seinen Ohren klang das Ganze wie ein unaufhörliches und sinnloses Geschwätz. Schließlich platzte ihm der Kragen. |
51 |
Sie konnten einfach keinen Zusammenhang erkennen zwischen ihrem Geplauder und seiner Tätigkeit des Autofahrens. Und er konnte nicht verstehen, warum sie alle gleichzeitig reden mussten, teilweise sogar über verschiedene Themen, und keine den anderen wirklich zuzuhören schien. |
52 |
Männer kritisieren Frauen wegen ihrer angeblich bescheidenen Fahrkünste, weil sie Stadtpläne nicht lesen können, Straßenkarten verkehrt herum halten, keinen Orientierungssinn haben, zu viel reden, nicht häufig genug nach Sex verlangen und den Klositz nicht wieder hochklappen. |
53 |
Kleine Mädchen wurden geherzt und geküsst, während man Jungen auf den Rücken klopfte und ungehalten reagierte, wenn sie weinten. Bis vor kurzem glaubte man, dass ein Neugeborenes wie eine unbeschriebene Tafel wäre, in die seine Erzieher Vorlieben und Verhaltensweisen einritzen konnten. |
54 |
Dennoch drängt sich eine Frage auf: Wenn Frauen und Männer gleich sind - wie eben diese Gruppen behaupten -, wie konnte es dann geschehen, dass Männer weltweit so stark dominieren? Die Studien zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns halten mehrere Antworten auf diese Frage bereit. |
55 |
Wir haben uns eingehend mit den Ergebnissen führender Paläontologen, Ethnologen, Psychologen, Biologen und Neurowissenschaftlern beschäftigt. Die Unterschiede im Aufbau des weiblichen und männlichen Gehirns sind wissenschaftlich belegt und können nicht bestritten werden. |
56 |
Die Fakten, die wir Ihnen in diesem Buch darlegen, zeigen, dass die Geschlechter zu ganz bestimmten Verhaltensmustern tendieren. Wir wollen damit allerdings nicht sagen, dass sich Frauen und Männer gezwungenermaßen auf die eine oder andere Weise verhalten beziehungsweise verhalten sollten. |
57 |
Wir haben eine Reihe von Konzepten, Methoden und Strategien zusammengestellt, die wissenschaftlich belegt sind und den meisten Lesern offensichtlich erscheinen oder einleuchten werden. Methoden, Praktiken und Meinungen, die keine wissenschaftlichen Grundlagen besitzen, haben wir außen vor gelassen. |
58 |
Die Frau fühlte sich gewürdigt, weil ihr Mann sein Leben für das Wohl seiner Familie riskierte. Sein Erfolg als Mann wurde an seiner Fähigkeit gemessen, eine Beute zu erlegen und heimzubringen, und sein Selbstwertgefühl hing davon ab, inwieweit die Frau seine Leistungen und seine Bemühungen würdigte. |
59 |
Die Familie war darauf angewiesen, dass er seinen Aufgaben als Beute-Jäger und Beschützer nachkam - und sonst nichts. Für ihn war es vollkommen unerheblich, die "Beziehung zu analysieren", ebensowenig erwartete man von ihm, den Müll rauszubringen oder dem Nachwuchs die Windeln zu wechseln. |
60 |
Es war ihm nämlich beim Vorbeischreiten gewesen, nachdem er flüchtig durch die trüben Scheiben des Wagens geblickt hatte, als sei der Fahrer auf das Steuer niedergesunken. Er glaubte, dass der Mann betrunken sei, denn als ordentlicher Mensch kam er auf das Nächstliegende. |
61 |
Der Tote saß bewegungslos neben ihm und nur manchmal, bei einer Unebenheit der Straße etwa, nickte er mit dem Kopf wie ein alter, weiser Chinese, so dass Clenin es immer weniger zu versuchen wagte, die andern Wagen zu überholen. Sie erreichten Biel mit großer Verspätung. |
62 |
Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte — anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und fotografiert worden. |
63 |
Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, "seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell". |
64 |
Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdroß, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete. |
65 |
Um diese Stunde konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle Tage um diese Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit. |
66 |
Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in zerlumptem Anzug. |
67 |
Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und Kämme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des Wesirs aber einen Kamm. |
68 |
Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte, wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und entließ den Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen, was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne, der es entziffern könnte. |
69 |
Es war aber ein Beutel mit Nüssen und Äpfeln, den die Mutter des Morgens da hingehängt hatte und den sie des Nachmittags einem ihrer kleinen Paten bringen wollte. Die meisten Kinder sprangen nun alsbald auf und guckten danach, und auch Barbara, die älteste, stand auf und guckte mit. |
70 |
Und die Kinder flüsterten und sprachen dies und das über den schönen Beutel und was wohl darin sein möchte. Und es gelüstete sie so sehr, es zu wissen, und da riss eines den Beutel von dem Nagel, und Barbara öffnete die Schnur, womit er zugebunden war, und es fielen Äpfel und Nüsse heraus. |
71 |
Kaum hatte die Frau das schlimme Wort aus ihrem Munde gehen lassen, so waren alle die sieben niedlichen Kinderchen weg, als hätte sie ein Wind weggeblasen, und sieben bunte Mäuse liefen in der Stube herum mit roten Köpfchen, wie die Röcke und Mützen der Kinder gewesen waren. |
72 |
Und die Mutter lief ihnen außer Atem nach und konnte weder schreien noch weinen und wusste nicht mehr, was sie tat. So liefen die Mäuse über das Dumsevitzer Feld hin und in einen kleinen Busch hinein, wo einige hohe Eichen standen und in der Mitte ein spiegelhellen Teich war. |
73 |
Und die Mutter blieb stehen, wo sie stand, und rührte keine Hand und keinen Fuß mehr, sie war auch kein Mensch mehr. Sie ward stracks zu einem Stein, und der Stein liegt noch da, wo sie stand und die Mäuslein verschwinden sah; und das ist dieser große runde Stein, an welchem wir sitzen. |
74 |
Und nun höre mal, was nach diesem geschehen ist und noch alle Nacht geschieht! Glocke zwölf, wann alles schläft und still ist und die Geister rundwandeln, da kommen die sieben bunten Mäuse aus dem Wasser heraus und tanzen eine ganze ausgeschlagene Stunde, bis es eins schlägt, um den Stein herum. |
75 |
Und das ist die einzige Zeit, wo die Kinder und die Mutter sich verstehen können und voneinander wissen; die übrige Zeit sind sie wie tot. Dann singen die Mäuse einen Gesang, den ich dir sagen will, und der bedeutet ihre Veränderung, oder dass sie wieder in Menschen verwandelt werden können. |
76 |
Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. |
77 |
Ich glaube, dass die meisten Menschen zuzeiten ihres Lebens Phantasien bilden. Es ist das eine Tatsache, die man lange Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genug gewürdigt hat. Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als das Spielen der Kinder. |
78 |
Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. |
79 |
An den Schöpfungen dieser Erzähler muss uns vor allem ein Zug auffällig werden; sie alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. |
80 |
Die Untersuchungen dieser völkerpsychologischen Bildungen sind nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich, dass sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit entsprechen. |
81 |
Zweierlei Mittel dieser Technik können wir erraten: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. |
82 |
Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muss also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen. Sein Nachbar, der kleine feine Franzose, hat erst drei Tage lang gesprochen und gelacht. |
83 |
War ein Fenster offen? Ist der Sturm im Haus? Wer schlägt die Türen zu? Wer geht durch die Zimmer? – Laß. Wer es auch sei. Ins Turmgemach findet er nicht. Wie hinter hundert Türen ist dieser große Schlaf, den zwei Menschen gemeinsam haben; so gemeinsam wie eine Mutter oder einen Tod. |
84 |
Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst. Der Waffenrock ist im Schlosse verbrannt, der Brief und das Rosenblatt einer fremden Frau. |
85 |
Die Wagen hatten nach und nach alle ihre köstlichen Waren entladen; die Damen hatten sich aus den neidischen Hüllen der Pelzmäntel und Schals herausgeschält und saßen jetzt in langen Reihen, alle in unchristlichem Wichs, an den Wänden hinauf. Es war der erste Ball in dieser Saison. |
86 |
Es war ja dasselbe lustige, naive Ding wie früher und doch so wunderherrlich, so groß, mit so unendlich viel Anstand und Würde! Er hätte sie auf der Stelle am Kopf nehmen und recht abküssen mögen wie früher, wenn sie einen rechten Ausbund von Schelmenstreich gemacht hatte. |
87 |
Ich konnte es mir an dieser Stelle nicht verkneifen, unseren Dozenten darauf aufmerksam zu machen, dass es völlig gleichgültig sei, was in das letzte Kästchen kommt, weil sich immer eine sinnvolle Lösung ergibt. So kann man diese Übung nämlich auch ganz anders ausfüllen. |
88 |
Darin gliedert sich der kreative Prozess in die Präparationsphase, in der das Problem in das Bewusstsein dringt und das vorhandene Wissen aktiviert. Darauf folgt die Inkubationsphase mit unbewussten Verarbeitungsprozessen, manchmal auch als "schöpferische Pause" bezeichnet. |
89 |
Damit drängt sich die Frage auf, ob schlagfertige Menschen nicht einfach nur ein großes Repertoire an angemessenen Äußerungen quasi "auf Lager" haben, das sie abrufen. Zweifellos ist auch dies der Fall, aber selbst mit einem solchen Repertoire kann man nicht jede neue Situation meistern. |
90 |
Nein, es ist gut! es ist alles gut! Ich – ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein anhaltendes Gebet sein. Ich will nicht rechten, und verzeihe mir diese Tränen, verzeihe mir meine vergeblichen Wünsche. |
91 |
Sie meine Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme geschlossen hätte – Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst. Und, darf ich es sagen? Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm. |
92 |
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen werden in ihren Hoffnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen. Ich besuchte mein gutes Weib unter der Linde. Der älteste Junge lief mir entgegen, sein Freudengeschrei führte die Mutter herbei, die sehr niedergeschlagen aussah. |
93 |
Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können. Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. |
94 |
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. |
95 |
Oft hatte ich beide Arme auf der Holzplatte und, schon müde, biss ich in mein Butterbrot. Die stark durchbrochenen Vorhänge bauschten sich im warmen Wind, und manchmal hielt sie einer, der draußen vorüberging, mit seinen Händen fest, wenn er mich besser sehen und mit mir reden wollte. |
96 |
Meistens verlöschte die Kerze bald und in dem dunklen Kerzenrauch trieben sich noch eine Zeitlang die versammelten Mücken herum. Fragte mich einer vom Fenster aus, so sah ich ihn an, als schaue ich ins Gebirge oder in die bloße Luft, und auch ihm war an einer Antwort nicht viel gelegen. |
97 |
Wir liefen enger beisammen, manche reichten einander die Hände, den Kopf konnte man nicht genug hoch haben, weil es abwärts ging. Einer schrie einen indianischen Kriegsruf heraus, wir bekamen in die Beine einen Galopp wie niemals, bei den Sprüngen hob uns in den Hüften der Wind. |
98 |
Endlich gegen 10 Uhr abends kam ich mit einem mir von früher her nur flüchtig bekannten Mann, der sich mir diesmal unversehens wieder angeschlossen und mich zwei Stunden lang in den Gassen herumgezogen hatte, vor dem herrschaftlichen Hause an, in das ich zu einer Gesellschaft geladen war. |
99 |
Wie standen sie einem noch gegenüber, selbst wenn man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also längst nichts mehr zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie nicht hin, sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur aus der Ferne, überzeugten. |
100 |
Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, dass alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. |
101 |
Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. |
102 |
Ich kann es gar nicht verteidigen, dass ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, dass Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig. |
103 |
Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel. |
104 |
Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, die Schwester aber flüsterte: "Gregor, mach auf, ich beschwöre dich". Gregor aber dachte gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren. |
105 |
Es hat mancher heute eine eigene Krankheit, die Bazillenfurcht heißt. Es nagt in ihm nicht der Tuberkelbazillus in der Lunge oder in den Knochen, nicht Eitererreger sind in seinem Blut. Wer von Bazillenfurcht befallen ist, krankt an Bazillen, die nicht in seinem Körper, sondern außer ihm sind. |
106 |
Über hunderttausend Milliarden Bazillen – also eine Million mal Million und dann noch mal hundert – werden es nach allerlei Berechnungen wohl schon sein, die wir in unserm Darm insgesamt beherbergen. Ein ganzes Drittel von dem, was wir aus dem Darm an einem Tage entleeren, sind lauter Bazillen. |
107 |
Nun, einen direkten Beweis in diesen Dingen führen, das kann man natürlich nicht. Denn man müsste ja dann seinen Versuch so einrichten, dass man zusähe, wie lange einer lebte, der keine Bakterien im Darm hätte. Wir Menschen und ebenso alle Tiere haben aber stets ihr Bakterienvolk im Darm. |
108 |
Nicht nur der Dickdarm ist zu lang oder gar nutzlos für uns: auch der Dünndarm ist zu lang geraten. Die Ärzte sind schon häufig genug in die Lage gekommen, einem Patienten kleinere oder größere Stücke aus dem Dünndarm herauszuschneiden, und auch solchen Patienten geht es nach der Operation gut. |
109 |
Aus dem Milchzucker entsteht dabei eine Säure, die man Milchsäure nennt. Die macht die Milch sauer und macht sie dick, denn in der angesäuerten Milch ballt sich das Kasein, der Eiweißstoff der Milch zusammen, das Eiweiß der Milch gerinnt dabei genau so, wie das Hühnereiweiß beim Kochen gerinnt. |
110 |
Wir wissen heute, dass Leben nichts anderes ist, als eine Summe sehr verwickelter chemischer Vorgänge, die sich im Rahmen einer Zelle abspielen. Im Mittelpunkt dieser Vorgänge stehen die Eiweißstoffe, so benannt, weil der Chemiker sie dem Weiß des Hühnereies sehr ähnlich gefunden hat. |
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Ebenso steckt hinter den Lebensäußerungen der lebendigen Substanz, und mögen diese Lebensäußerungen noch so kompliziert und auf den ersten Blick ganz unerklärlich sein, nichts anderes dahinter als ein Stoffverbrauch und Stoffersatz, nichts anderes als der Stoffwechsel der Zellen. |
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Wenn alles Leben nichts anderes ist, als der Stoffwechsel der lebendigen Substanz, so bedeutet der Tod der Zelle, das Erlöschen des Lebens in ihr, dass der Stoffwechsel der Zelle aufgehört hat. Und eine Leiche ist eine Zelle, die nicht mehr den Stoffwechsel hat, den wir Leben nennen. |
113 |
Wir hatten die Tiere mit Alkohol vergiftet. Und es ist uns selbstverständlich, dass die Vergiftung unserer Pantoffeltierchen nur darin bestehen konnte, dass ihr Stoffwechsel gestört, geschädigt war. Der äußere Ausdruck dieser Schädigung des Stoffwechsels ist die Lähmung der Zelle. |
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Aber wenn wir den Versuch zu lange ausdehnen, wenn die Pantoffeltierchen zu lange unter der Einwirkung des Alkohols gewesen sind, so gelingt es trotz Zufuhr von frischer Luft nicht mehr, sie aus dem Zustande der Lähmung zu erwecken. Sie sind tot, sie sind zu Leichen geworden. |
115 |
Aber wir haben bisher nur die Leichen von Zellen gesehen, die wir getötet hatten. Stirbt die Zelle auch eines natürlichen Todes? Wir haben uns ja noch gar nicht darüber Rechenschaft abgegeben, ob es bei den Zellen einen natürlichen Tod gibt, einen Tod, der zum Leben der Zelle gehört. |
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Man hatte gefunden, dass nach einer bestimmten Anzahl von Generationen die Einzelligen aufhörten, sich zu teilen und zugrunde gingen, starben. Wir wollen von allen diesen Dingen später sprechen, wenn wir der ganzen Lebensgeschichte eines Pantoffeltierchens zuhören werden. |
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Leben ist Veränderung, und lebendige Substanz kann nicht sein ohne Veränderung. Alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel der Zelle, auf bestimmten chemischen Wandlungen, auf Zerfall und Wiederaufbau der lebendigen Substanz: ein unverändertes Sein der Zelle ist ein Unding. |
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Unsterblichkeit bedeutet für uns nur, dass im normalen Entwicklungsgang einer Zelle keine Leiche entsteht. Die lebendige Substanz ist unsterblich nur soweit, als man unter Tod die Bildung einer Leiche versteht, einer Zelle, deren Stoffwechsel unwiderruflich erloschen ist. |
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Die obersten Schichten unserer Haut z. B. sind abgestorbene verhornte Zellen, die mit der Zeit von unserer Haut losgelöst und abgestoßen werden, während an ihre Stelle von unten her jüngere Zellen vorrücken, und das Schicksal dieser Jungen ist ebenso besiegelt wie das ihrer Vorgänger. |
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Auch beim Weibe findet periodisch eine Abstoßung von lebendigen Zellen statt, die dem Tode verfallen. Und bei den höheren Tieren ist die Geburt des Kindes damit verknüpft, dass ein Teil des mütterlichen Organismus, der Mutterkuchen, sich vom Körper loslöst und mit all seinen Zellen stirbt. |
121 |
Das Protoplasma dieser Zellen ist ganz geschwunden. Da sind die toten Zellen der Rinde, der Oberhaut der Blätter. Millionen von Zellen des Pflanzenkörpers gehen ferner während des Laubfalls zugrunde, und ihre vielen, vielen Leichen bestimmen das Bild unserer herbstlichen Landschaft. |
122 |
Die toten Zellen der vielzelligen Pflanzen und Tiere – sie sind jede für sich eine Leiche, sie sind Zelleichen. Aber es wird doch niemandem einfallen zu behaupten, ein vielzelliger Organismus sei gestorben, weil ein Teil der Zellen, aus denen er besteht, abgestorben ist. |
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Das wäre eine ganz unsinnige Behauptung. Denn diese toten Zellen gehören ja zum Teil mit zum Zellenstaat von Pflanze und Tier, ohne diese toten Zellen können Pflanze und Tier nicht leben. Die einzelnen Zelleichen schlechtweg machen also den Zellenstaat noch nicht zu einer Leiche. |
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Bestimmte Zellgruppen vielmehr müssen gestorben sein, wenn der große Zellenstaat zu einer Leiche werden soll. Ja, noch mehr: schon wenn bestimmte Zellen im Zellenstaat nicht mehr so recht auf ihrem Posten sind, ohne tot zu sein, auch dann schon kann der Zellenstaat zugrunde gehen. |
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Und alle Zellen des Körpers werden unter der schlechten Arbeit der Nierenzellen zu leiden haben, und es wird die Stunde kommen, wo die Zellen des Herzens oder die Zellen des Gehirnes versagen werden. Sie werden sterben – und es beginnt das große Sterben der Zellen im Zellenstaat. |
126 |
Die Windungen des Gehirnes, die aus Nervenzellen bestehen, sind schmäler geworden, weit klaffen die Furchen zwischen den Windungen. Aber nicht nur kleiner, auch härter sind die Organe im Alter geworden. Derb und zähe fühlt sie der Arzt in der Hand, wenn er die Leichenschau übt. |
127 |
Das Bindegewebe ist natürlich auch in lebensfrischen Organen, in Nieren, Leber usw. stets vorhanden. Es bildet gewissermaßen die weichen Daunen, in denen die Zellen der Organe gebettet liegen. Das Bindegewebe nun kommt im Alter zu üppiger Entwicklung. Das wäre noch nicht so schlimm. |
128 |
Die elastischen Röhren gehören mit zum Pumpapparat des Blutkreislaufes, sie arbeiten bei der Verteilung des Blutes im Körper dem Herzen in die Hand. Ein Pumpwerk nämlich, das eine Flüssigkeit durch starre Röhren treibt, gibt einen unterbrochenen Strom, einen Strom in einzelnen Stößen. |
129 |
Vor allem wird das die Nervenzellen treffen, die gegenüber Sauerstoffmangel außerordentlich empfindlich sind. Die Sinne des Kranken umnebeln sich, und schließlich wird unser Patient bewusstlos. Aber noch steht die Atmung nicht ganz still und das Herz tut noch seine Arbeit. |
130 |
Ein Patient geht an einer Erkrankung der Niere zugrunde. Sein Körper ist mit Stoffen überschwemmt, die normalerweise in den Stoffhaushalt seines Organismus nicht hineingehören. Der Kranke liegt bewusstlos da. Aber solange das Herz noch arbeitet, ist noch nicht alle Hoffnung geschwunden. |
131 |
Doch die Stoffe, die aus den kranken Nieren in das Blut gelangen, wirken auch auf das Herz, und das Herz ist im Laufe der Zeit, wo die Nieren krank sind, geschwächt worden. Schließlich versagt das Herz, das Herz steht still. Der Kranke stirbt. Das Herz hat sein Machtwort gesprochen. |
132 |
So können wir mit Nothnagel sagen: Der Mensch stirbt fast immer vom Herzen aus. So lange dieses in der Brust sich zusammenzieht, und sei es noch so schwach, noch so mühsam, so lange lebt der Mensch – der letzte Herzschlag, und erst dann ist alles unwiederbringlich zu Ende. |
133 |
Gut, das Herz steht still, und die Zellen im Zellenstaat beginnen zu sterben. Aber die Herzmuskelzellen sind noch nicht tot, wenn das Herz zu schlagen aufhört. Dass dem so ist, haben in schöner Weise Versuche gezeigt, die vor mehr als zehn Jahren der russische Physiologe Kuljabko ausgeführt hat. |
134 |
Aber wir kennen auch Fälle, wo die Herzmuskelzellen vollkommen gesund sind, und doch das Herz plötzlich seinen Dienst versagt und stillsteht. Das kommt zuweilen nach heftigen Gemütsbewegungen vor, nach einem heftigen Schlag auf den Kopf, nach starken Erschütterungen, denen der Körper ausgesetzt war. |
135 |
Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt – aber es war doch besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. |
136 |
Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps. Draußen quietschte das Tor. Ich zerriss den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. |
137 |
Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. |
138 |
Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstört zurück, als hätte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. |
139 |
Wir hatten für den täglichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade passte, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflügel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hätten das alles besser machen können – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. |
140 |
Der Mann fasste das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, dass er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, dass der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. |
141 |
Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl hässlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, dass bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. |
142 |
Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick musste hinter uns zurück, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er musste abermals zurück. |
143 |
Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ärgerlich, die Lippen zusammengepresst, saß er vorgebeugt da – das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plötzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Kläffer neben sich klein beizugeben. |
144 |
Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß. |
145 |
Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokühlern hin- und hertorkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. |
146 |
Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflügeln, ein siegreicher Dreckfink. |
147 |
Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. |
148 |
Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blass, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich – aber ich dachte mir nichts weiter dabei. |
149 |
Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die Auskunft musste gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloss sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde später. |
150 |
Ich dachte an den Zettel, den ich morgens in der Werkstatt geschrieben hatte. Ich war etwas traurig gewesen. Ich war es jetzt nicht mehr. Es war alles gleich – solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. |
151 |
Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. |
152 |
Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz. Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand. |
153 |
In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern Abend irgendwo gelassen haben musste, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. |
154 |
Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. |
155 |
Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände. "Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!" In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Körper. |
156 |
Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrenspieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. |
157 |
Drei Tage später wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmützen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklärten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hätten selbst genug Arbeitslose. |
158 |
Er ging trotzdem am nächsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen müssen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum drittenmal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. |
159 |
Da gab er es auf. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und büffelte wie verrückt, als hätte es noch Zweck. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. |
160 |
Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. |
161 |
Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schräg durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy glühte wie ein Rubin. |
162 |
Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Den Beinamen hatte sie, weil sie so unverwüstlich war. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen. |
163 |
Aber im Dezember musste die Kleine zu oft aus dem warmen Zimmer in den ungeheizten Verschlag. So kam es, dass sie sich erkältete und oft weinte, wenn gerade jemand da war. Rosa musste sich von ihr trennen, so schwer es ihr auch wurde. Sie gab sie in ein teures Kinderheim. |
164 |
Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. |
165 |
Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schliff. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. |
166 |
Ich schlenderte nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wusste ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Unschlüssig wanderte ich umher. Ich verstand jetzt nicht mehr, weshalb ich eigentlich hierher gewollt hatte. Schließlich ging ich über den Korridor, um Georgie zu besuchen. |
167 |
Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so stumpf. Verrückt, dachte ich und schüttelte den Kopf. Dann hob ich noch einmal den Hörer auf und rief Köster an. |
168 |
Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die nächtliche Stadt. Die Straßen waren hell und leer. Die Firmenschilder leuchteten. In den Schaufenstern brannte zwecklos das Licht. In einem standen nackte Wachspuppen mit gemalten Köpfen. Sie sahen gespenstisch und pervers aus. |
169 |
Wir standen glänzend mit ihm. Als Ingenieur war er zwar ein scharfer Satan, der nichts durchgehen ließ, aber als Schmetterlingsfachmann war er weich wie Butter. Er hatte eine große Sammlung, und wir hatten ihm einmal einen dicken Schwärmer geschenkt, der nachts in unsere Werkstatt geflogen war. |
170 |
Und von dem Rest bezahlst du, wenn ihr ausgeht, was du isst und trinkst. Außerdem ist es immer gut, wenn man ein paar Mark in der Tasche hat, die man nicht braucht und für alle Fälle parat hält. Ja. Und hier ist das Kuvert von Tante Marthas Brief. Da stecke ich das Geld hinein. |
171 |
Emil hatte keinen Vater mehr. Doch seine Mutter hatte zu tun, frisierte in ihrer Stube, wusch blonde Köpfe und braune Köpfe und arbeitete unermüdlich, damit sie zu essen hatten und die Gasrechnung, die Kohlen, die Miete, die Kleidung, die Bücher und das Schulgeld bezahlen konnten. |
172 |
Da hätte er seine Schularbeiten verbummeln oder von Naumanns Richard abschreiben sollen? Da hätte er, wenn es sich machen ließ, die Schule schwänzen sollen? Er sah, wie sie sich bemühte, ihn nichts von dem entbehren zu lassen, was die andern Realschüler bekamen und besaßen. |
173 |
Aber er war keiner von der Sorte, die nichts anders kann, weil sie feig ist und geizig und nicht richtig jung. Er war ein Musterknabe, weil er einer sein wollte! Er hatte sich dazu entschlossen, wie man sich etwa dazu entschließt, nicht mehr ins Kino zu gehen oder keine Bonbons mehr zu essen. |
174 |
Er liebte das Lob, das er in der Schule und überall erhielt, nicht deshalb, weil es ihm, sondern weil es seiner Mutter Freude machte. Er war stolz darauf, dass er ihr, auf seine Weise, ein bisschen vergelten konnte, was sie für ihn, ihr ganzes Leben lang, ohne müde zu werden, tat. |
175 |
Dann kam der Personenzug nach Berlin, mit Heulen und Zischen, und hielt. Emil fiel der Mutter noch ein bisschen um den Hals. Dann kletterte er mit seinem Koffer in ein Abteil. Die Mutter reichte ihm die Blumen und das Stullenpaket nach und fragte, ob er Platz hätte. Er nickte. |
176 |
Dann drehte sie sich langsam um und ging nach Hause. Und weil sie das Taschentuch sowieso schon in der Hand hielt, weinte sie gleich ein bisschen. Aber nicht lange. Denn zu Hause wartete schon Frau Fleischermeister Augustin und wollte gründlich den Kopf gewaschen haben. |
177 |
Er tastete die rechte Jackentasche ab und gab erst Ruhe, als er das Kuvert knistern hörte. Die Mitreisenden sahen so weit ganz vertrauenerweckend und nicht gerade wie Räuber und Mörder aus. Neben dem schrecklich schnaufenden Mann saß eine Frau, die an einem Schal häkelte. |
178 |
Wenn doch wenigstens noch irgendjemand zugestiegen wäre! Der Zug hielt ein paarmal, aber es kam kein Mensch. Dabei war es erst vier Uhr, und Emil hatte noch über zwei Stunden zu fahren. Er kniff sich in die Beine. In der Schule half das immer, wenn Herr Bremser Geschichte gab. |
179 |
Emil überlegte nicht lange, sondern rannte, was er konnte, davon. Über eine Wiese, an vielen Bäumen vorbei, durch einen Bach, dem Wolkenkratzer zu. Manchmal sah er sich um; der Zug donnerte hinter ihm her, ohne abzulassen. Die Bäume wurden über den Haufen gerannt und zersplitterten. |
180 |
Er rannte hinein und hindurch und am andern Ende wieder hinaus. Der Zug kam hinter ihm her. Emil hätte sich am liebsten in eine Ecke gesetzt und geschlafen, denn er war so schrecklich müde und zitterte am ganzen Leibe. Aber er durfte nicht einschlafen! Der Zug ratterte schon durchs Haus. |
181 |
Die Bäume waren ganz klein geworden, und die gläserne Mühle war kaum noch zu erkennen. Aber, o Schreck! die Eisenbahn kam das Haus hinauf gefahren! Emil kletterte weiter und immer höher. Und der Zug stampfte und knatterte die Leitersprossen empor, als wären es Schienen. |
182 |
Und als die Pferde schwitzend über den Dachrand krochen und der Zug hinterher, hob Emil sein ausgebreitetes Taschentuch hoch über den Kopf und sprang ins Leere. Er hörte noch, wie der Zug die Schornsteine über den Haufen fuhr. Dann verging ihm für eine Weile Hören und Sehen. |
183 |
Emil setzte sich mit einem Ruck bolzengerade und flüsterte: "Er ist ja fort!" Die Knie zitterten ihm. Ganz langsam stand er auf und klopfte sich mechanisch den Anzug sauber. Jetzt war die nächste Frage: Ist das Geld noch da? Und vor dieser Frage hatte er eine unbeschreibliche Angst. |
184 |
Emil durchwühlte die Tasche mit der linken Hand. Er befühlte und presste das Jackett von außen mit der rechten. Es blieb dabei: die Tasche war leer, und das Geld war weg. Emil zog die Hand aus der Tasche. Und nicht bloß die Hand, sondern die Nadel dazu, mit der er das Geld vorhin durchbohrt hatte. |
185 |
Er wickelte das Taschentuch um den Finger und weinte. Natürlich nicht wegen des lächerlichen bisschen Bluts. Vor vierzehn Tagen war er gegen den Laternenpfahl gerannt, dass der bald umgeknickt wäre, und Emil hatte noch jetzt einen Buckel auf der Stirn. Aber geheult hatte er keine Sekunde. |
186 |
Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, und wäre er noch so tapfer, dem ist nicht zu helfen. Emil wusste, wie seine Mutter monatelang geschuftet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. |
187 |
Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und zu guter Letzt raubte er sie aus. |
188 |
In Schnellzügen konnte man wenigstens durch die Wagen laufen, von einem Ende des Zuges zum andern, bis ins Dienstabteil, und Diebstähle melden. Aber hier! In so einem Bummelzug! Da musste man bis zur nächsten Station warten, und inzwischen war der Mensch im steifen Hut über alle Berge. |
189 |
Am liebsten wäre er auf den Kerl losgerannt, hätte sich vor ihm aufpostiert und gerufen: Her mit dem Geld! Doch der sah nicht so aus, als würde er dann antworten: aber gern, mein gutes Kind. Hier hast du's. Ich will es bestimmt nicht wieder tun. Ganz so einfach lag die Sache nicht. |
190 |
Der Dieb ging langsam über die Straße, sah noch einmal rückwärts und spazierte ziemlich beruhigt weiter. Dann kam eine Straßenbahn, mit der Nummer 177, von links angefahren und hielt. Der Mann überlegte einen Augenblick, stieg auf den Vorderwagen und setzte sich an einen Fensterplatz. |
191 |
Emil stellte sich wieder in seine Ecke, wurde gedrückt und auf die Füße getreten und dachte erschrocken: Ich habe ja kein Geld! Wenn der Schaffner herauskommt, muss ich einen Fahrschein lösen. Und wenn ich es nicht kann, schmeißt er mich 'raus. Und dann kann ich mich gleich begraben lassen. |
192 |
Er sah sich die Leute an, die neben ihm standen. Konnte er einen von ihnen am Mantel zupfen und sagen: Borgen Sie mir doch, bitte, das Fahrgeld? Ach, die Menschen hatten so ernste Gesichter! Der Eine las Zeitung. Zwei andere unterhielten sich über einen großen Bankeinbruch. |
193 |
Ganz genau so wird es mir gehen, dachte Emil traurig. Ich werde sagen, Herr Grundeis hat mir hundertvierzig Mark gestohlen. Und niemand wird es mir glauben. Und der Dieb wird sagen, das sei eine Frechheit von mir, und es wären nur drei Mark fünfzig gewesen. So eine verdammte Geschichte. |
194 |
Niemand kümmerte sich um ihn. Ein fremder Herr hatte ihm zwar einen Fahrschein geschenkt. Doch nun las er schon wieder Zeitung. Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wusste, wo er aussteigen sollte. |
195 |
Jetzt hieß es wieder einmal vorsichtig sein. Wie ein Detektiv, der Flöhe fängt. Emil orientierte sich flink, entdeckte an der Ecke einen Zeitungskiosk und lief, so rasch er konnte, dahinter. Das Versteck war ausgezeichnet. Es lag zwischen dem Kiosk und einer Litfaßsäule. |
196 |
Wenn der Kerl jetzt aufstand, konnte die Rennerei weitergehen. Blieb er aber, dann konnte Emil hinter dem Kiosk stehen, bis er einen langen grauen Bart kriegte. Es fehlte wirklich nur noch, dass ein Schupomann angerückt kam und sagte: Mein Sohn, du machst dich verdächtig. |
197 |
Er drehte sich um und sah, wie mindestens zwei Dutzend Jungen, Gustav allen voran, die Trautenstraße heraufmarschiert kamen. Sie setzten sich auf die zwei weißen Bänke, die in den Anlagen stehen, und auf das niedrige eiserne Gitter, das den Rasen einzäunt, und zogen ernste Gesichter. |
198 |
Es sind noch eine Mark und fünfzig Pfennige. Hier, Gerold, nimm und zähle nach! Proviant ist da. Geld haben wir. Die Telefonnummer weiß jeder. Noch eins, wer nach Hause muss, saust ab! Aber mindestens fünf Leute müssen da bleiben. Wir werden inzwischen unser Möglichstes tun. |
199 |
Der Mann im steifen Hut wurde sichtlich nervös. Er ahnte dunkel, was ihm bevorstünde, und stiefelte mit Riesenschritten. Aber es war umsonst. Er entging seinen Feinden nicht. Plötzlich blieb er wie angenagelt stehen, drehte sich um und lief die Straße, die er gekommen war, wieder zurück. |
200 |
Herr Grundeis dachte nicht daran zu rufen, im Gegenteil. Ihm wurde die Geschichte immer unheimlicher. Er bekam förmlich Angst und wusste nicht mehr, wohin. Schon sahen Leute aus allen Fenstern. Schon rannten die Ladenfräuleins mit ihren Kunden vor die Geschäfte und fragten, was los wäre. |
201 |
Nur die engeren Bekannten brachten Emil zum Hotel und zum Bahnhof Nollendorfplatz. Und er bat sie, am Nachmittag den kleinen Dienstag anzurufen. Der würde dann wissen, wie alles verlaufen wäre. Und er hoffe sehr, sie noch einmal zu sehen, ehe er nach Neustadt zurückführe. |
202 |
Warum diese Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, obgleich der Parallelismus derselben mit der spekulativen das erstere zu erfordern scheint, darüber gibt diese Abhandlung hinreichenden Aufschluss. |
203 |
Diejenigen, welche sich solcher hohen Erkenntnisse rühmen, sollten damit nicht zurückhalten, sondern sie öffentlich zur Prüfung und Hochschätzung darstellen. Sie wollen beweisen; wohlan! so mögen sie denn beweisen, und die Kritik legt ihnen, als Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füßen. |
204 |
Man muss sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem unteren und oberen Begehrungsvermögen darin zu finden glauben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen, oder dem Verstande ihren Ursprung haben. |
205 |
Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei es auf Island, sei es auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. |
206 |
Etwa hundert Häuser und Hütten bilden hier eine lange, schmale Gasse, die sich nur da, wo eine von Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee die Gasse durchschneidet, platzartig erweitert. An ebendieser Stelle findet sich denn auch die ganze Herrlichkeit von Dorf Stechlin zusammen. |
207 |
Neben diesem Kirchhof samt Kirche setzt sich dann die von Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis sie vor einer über einen sumpfigen Graben sich hinziehenden und von zwei riesigen Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke haltmacht. |
208 |
Seine Jahre bei den Kürassieren waren im wesentlichen Friedensjahre gewesen; nur anno vierundsechzig war er mit in Schleswig, aber auch hier, ohne zur Aktion zu kommen. Es kommt für einen Märkischen nur darauf an, überhaupt mit dabei gewesen zu sein; das andre steht in Gottes Hand. |
209 |
Das war Engelke, sein alter Diener, der seit beinahe fünfzig Jahren alles mit seinem Herrn durchlebt hatte, seine glücklichen Leutnantstage, seine kurze Ehe und seine lange Einsamkeit. Engelke, noch um ein Jahr älter als sein Herr, war dessen Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. |
210 |
Dubslav verstand es, die Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär' es auch ohne diese Kunst gegangen. Denn Engelke war einer von den guten Menschen, die nicht aus Berechnung oder Klugheit, sondern von Natur hingebend und demütig sind und in einem treuen Dienen ihr Genüge finden. |
211 |
Rechts daneben lief ein sogenannter Poetensteig, an dessen Ausgang ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zusammengezimmerter Aussichtsturm aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen. |
212 |
Nur die Vereinigung der väterlichen und der ärztlichen Autorität in einer Person, das Zusammentreffen des zärtlichen Interesses mit dem wissenschaftlichen bei derselben, haben es in diesem einen Falle ermöglicht, von der Methode eine Anwendung zu machen, zu welcher sie sonst ungeeignet gewesen wäre. |
213 |
Alle seine Aussprüche zeigen, dass er das Ungewöhnliche der Situation mit der Ankunft des Storches in Zusammenhang bringt. Er macht zu allem, was er sieht, eine sehr misstrauische, gespannte Miene, und zweifellos hat sich das erste Misstrauen gegen den Storch bei ihm festgesetzt. |
214 |
Ein etwa gleichzeitiger Traum unseres Hans kontrastiert recht auffällig mit der Dreistigkeit, die er gegen die Mutter gezeigt hat. Es ist der erste durch Entstellung unkenntliche Traum des Kindes. Dem Scharfsinne des Vaters ist es aber gelungen, ihm die Lösung abzugewinnen. |
215 |
Ich sende Ihnen wieder ein Stückchen Hans, diesmal leider Beiträge zu einer Krankengeschichte. Wie Sie daraus lesen, hat sich bei ihm in den letzten Tagen eine nervöse Störung entwickelt, die mich und meine Frau sehr beunruhigt, weil wir kein Mittel zu ihrer Beseitigung finden konnten. |
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Am 7. Jänner geht er mit dem Kindermädchen wie gewöhnlich in den Stadtpark, fängt auf der Straße an zu weinen und verlangt, dass man mit ihm nach Hause gehe, er wolle mit der Mammi schmeicheln. Zu Hause befragt, weshalb er nicht weiter gehen wollte und geweint hat, will er es nicht sagen. |
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Am 8. Jänner will die Frau selbst mit ihm spazierengehen, um zu sehen, was mit ihm los ist, und zwar nach Schönbrunn, wohin er sehr gerne geht. Er fängt wieder an zu weinen, will nicht weggehen, fürchtet sich. Schließlich geht er doch, hat aber auf der Straße sichtlich Angst. |
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Dies das Grundphänomen des Zustandes. Erinnern wir uns noch zur Bestätigung der beiden Verführungsversuche, die er gegen die Mutter unternimmt, von denen der erste noch in den Sommer fällt, der zweite, knapp vor dem Ausbruche der Straßenangst, einfach eine Empfehlung seines Genitales enthält. |
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Auch seine, an zwei Abenden hintereinander vor dem Schlafengehen wiederholten, ängstlichen und noch deutlich zärtlich getönten Zustände beweisen, dass zu Beginn der Erkrankung eine Phobie vor der Straße oder dem Spaziergange oder gar vor den Pferden noch gar nicht vorhanden ist. |
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Vor dieser Versuchung müssen wir uns noch in einem andern Punkte hüten. Hans hat gestanden, dass er sich jede Nacht vor dem Einschlafen zu Lustzwecken mit seinem Penis beschäftigt. Nun, wird der Praktiker gerne sagen, nun ist alles klar. Das Kind masturbiert, daher also die Angst. |
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Mein Eindruck geht dahin, dass das Bild des kindlichen Sexuallebens, wie es aus der Beobachtung des kleinen Hans hervortritt, in sehr guter Übereinstimmung mit der Schilderung steht, die ich in meiner Sexualtheorie nach psychoanalytischen Untersuchungen an Erwachsenen entworfen habe. |
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Sonderbar; ich weiß mich zu erinnern, als ich mich vor 22 Jahren in den Streit der wissenschaftlichen Meinungen einzumengen begann, mit welchem Spotte damals von der älteren Generation der Neurologen und Psychiater die Aufstellung der Suggestion und ihrer Wirkungen empfangen wurde. |
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In der sieghaften Schlußphantasie zieht er dann die Summe aller seiner erotischen Wunschregungen, der aus der autoerotischen Phase stammenden und der mit der Objektliebe zusammenhängenden. Er ist mit der schönen Mutter verheiratet und hat ungezählte Kinder, die er nach seiner Weise pflegen kann. |
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Von seiner Geheimlehre haben alle Nationen geborgt. Indien, Persien, Chaldäa, Medea, China, Japan, Assyrien, das alte Griechenland und Rom und andere alte Länder nahmen an dem Fest der Wissenschaften teil, welches die Hierophanten und Meister aus dem Lande der Isis freigebig bereiteten. |
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Als die Jahre nach seinem Scheiden von diesem Daseinsplan vergingen (die Überlieferung erzählt, dass er dreihundert Jahre im Körper lebte), vergötterten die Ägypter Hermes und machten ihn unter dem Namen Thoth zu einem ihrer Götter, und nannten ihn Hermes, den Gott der Weisheit. |
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Aber es hat immer einige treue Seelen gegeben, welche das Licht erhielten, es sorglich pflegten und nicht verlöschen ließen. Dank diesen starken Herzen, diesen furchtlosen Geistern besitzen wir noch heute die Wahrheit. Diese Wahrheit ist jedoch nur selten in Büchern zu finden. |
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Die genaue Bedeutung dieses Wortes ist seit Jahrhunderten verloren gegangen. Diese Lehren jedoch sind vielen bekannt, denen sie im Lauf der Jahrhunderte mündlich überliefert worden sind. So viel wir wissen, sind Kybalions Regeln niemals niedergeschrieben oder gedruckt worden. |
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Das Kybalion war nur eine Sammlung von Maximen, Axiomen und Regeln, die jedem Außenstehenden unverständlich waren, sie wurden aber von den Schülern wohl verstanden, nachdem all die Axiome, Maxime und Regeln den Neophyten von den Eingeweihten erklärt und erläutert worden waren. |
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Der Originaltext ist für den modernen Schüler schwer verständlich, da er von dunklen Ausdrücken absichtlich verschleiert ist. Die originalen Maxime, Axiome und Regeln aus dem Kybalion erscheinen unter Anführungszeichen und sind im Text eingerückt, unsere eigenen Worte sind normal gedruckt. |
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Das Verständnis dieses großen hermetischen Prinzips befähigt das Individuum, die Gesetze des mentalen Universums zu erfassen und zu seinem Nutzen und Fortschritt anzuwenden. Der hermetische Schüler kann die großen mentalen Gesetze intelligent anwenden, statt sie zufällig zu benützen. |
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Vor langen Jahren schrieb ein alter hermetischer Meister: "Wer die Wahrheit von der mentalen Natur des Universums erfasst hat, ist wohl vorgeschritten auf dem Pfade der Meisterschaft." Und diese Worte sind heute ebenso wahr wie zu der Zeit, da sie niedergeschrieben wurden. |
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Wir fühlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht. Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz für unsere Denkmäler. Da stehen sie, angeführt wie eine Kompanie von einem dünnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tür seinen Posten hat. |
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Wir verkaufen mehr davon als von den ganz einfachen, und man weiß nicht, ob man diesen verspäteten Ehrgeiz der Hinterbliebenen rührend oder absurd finden soll. Das nächste sind die Hügelsteine aus Sandstein mit eingelassenen Platten aus Marmor, grauem Syenit oder schwarzem schwedischem Granit. |
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Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfängt uns ein Sprühregen, den der Wind in kurzen Stößen wie einen nassen Schleier umherfegt. Isabelle drückt sich an mich. Ich blicke den Hügel hinunter zur Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. |
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Er braucht uns nichts zu erklären. Frau Beckmann ist ein ebenbürtiger Gegner für Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat ihm bereits zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie mit einer Vase oder einem Schüreisen anrichten kann. |
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Es ist noch kein halbes Jahr her, dass zwei Einbrecher von ihr nachts in der Werkstatt überrascht wurden. Beide lagen hinterher wochenlang im Krankenhaus, und einer hat sich nie von einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell über den Schädel erholt, bei dem er gleichzeitig ein Ohr verlor. |
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Knopf stolpert zu seiner Tür hinüber. Ich gehe die Treppen hinauf und beschließe, Isabelle von dem Geld, das ich bei Karl Brill gewonnen habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas gewöhnlich nur Unglück, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. |
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Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken. |
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Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt - und sie kommt zweimal am Tage -, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. |
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Zum Schluss wollen wir euch noch einmal daran erinnern, dass nach dem Prinzip der Entsprechung, welches die Wahrheit enthält: "Wie oben, so unten, wie unten, so oben", alle sieben hermetischen Prinzipien auf all den zahlreichen physischen, mentalen und spirituellen Plänen in voller Wirksamkeit sind. |
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Das Prinzip von der mentalen Substanz ist natürlich auf alle Pläne anwendbar, weil alle im Mind des Alls gehalten werden. Das Prinzip der Entsprechung manifestiert sich auf allen Plänen, weil zwischen den einzelnen Plänen Übereinstimmung, Harmonie und Entsprechung besteht. |
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Das Prinzip des Rhythmus manifestiert sich auf jedem Plan, da die Bewegung der Phänomene ihre Ebbe und Flut, ihr Steigen und Fallen, ihr Eingehen und Ausgehen hat. Das Prinzip von Ursache und Wirkung manifestiert sich auf jedem Plan, da jede Wirkung ihre Ursache und jede Ursache ihre Wirkung hat. |
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Dieses Jahrhunderte alte hermetische Axiom enthält eines der größten Prinzipien des Universums. Je weiter wir in unserer Betrachtung der übrigen Prinzipien fortschreiten, desto klarer werden wir die Wahrheit der universellen Natur dieses großen Prinzips der Entsprechung sehen. |
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Die Moleküle, aus denen die einzelnen Arten der Materie zusammengesetzt sind, sind in einem Zustand fortwährender Schwingung und Bewegung umeinander und gegeneinander. Die Moleküle sind aus Atomen zusammengesetzt, welche gleicherweise in einem Zustand andauernder Bewegung und Schwingung sind. |
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Diese drei Energieformen werden von der Wissenschaft noch nicht verstanden, doch neigen die Fachautoren zu der Ansicht, dass auch sie Manifestationen einer Form von schwingender Energie sind, eine Tatsache, welche von den Hermetikern seit undenklichen Zeiten erkannt und gelehrt wurde. |
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Vor einiger Zeit machte ich in Gesellschaft eines schweigsamen Freundes und eines jungen, bereits rühmlich bekannten Dichters einen Spaziergang durch eine blühende Sommerlandschaft. Der Dichter bewunderte die Schönheit der Natur um uns, aber ohne sich ihrer zu erfreuen. |
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Alles, was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm entwertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es bestimmt war. Wir wissen, dass von solcher Versenkung in die Hinfälligkeit alles Schönen und Vollkommenen zwei verschiedene seelische Regungen ausgehen können. |
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Die eine führt zu dem schmerzlichen Weltüberdruss des jungen Dichters, die andere zur Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit. Nein, es ist unmöglich, dass all diese Herrlichkeiten der Natur und der Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt draußen, wirklich in Nichts zergehen sollten. |
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Es wäre zu unsinnig, und zu frevelhaft daran zu glauben. Sie müssen in irgend einer Weise fortbestehen können, allen zerstörenden Einflüssen entrückt. Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg unseres Wunschlebens, als dass sie auf einen Realitätswert Anspruch erheben könnte. |
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Ich konnte mich weder entschließen, die allgemeine Vergänglichkeit zu bestreiten, noch für das Schöne und Vollkommene eine Ausnahme zu erzwingen. Aber ich bestritt dem pessimistischen Dichter, dass die Vergänglichkeit des Schönen eine Entwertung desselben mit sich bringe. |
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Ich hielt diese Erwägungen für unanfechtbar, bemerkte aber, dass ich dem Dichter und dem Freunde keinen Eindruck gemacht hatte. Ich schloss aus diesem Misserfolg auf die Einmengung eines starken affektiven Moments, welches ihr Urteil trübte, und glaubte dies auch später gefunden zu haben. |
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Wenn wir jetzt an die Musterung der Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen herangehen, die das Gefühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns zu erwecken vermögen, so ist die Wahl eines glücklichen ersten Beispiels offenbar das nächste Erfordernis. |
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Der Vater bittet die Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange Krankheit beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deutung des Sandmannes entscheidet, wird in dieser Phantasie des Kindes den fortwirkenden Einfluss jener Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. |
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Greifen wir darum ein anderes Beispiel aus weit schlichteren Verhältnissen heraus: In der Krankengeschichte eines Zwangsneurotikers habe ich erzählt, dass dieser Kranke einst einen Aufenthalt in einer Wasserheilanstalt genommen hatte, aus dem er sich eine große Besserung holte. |
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Es erübrigt uns nur noch, die Einsicht, die wir gewonnen haben, an der Erklärung einiger anderer Fälle des Unheimlichen zu erproben. Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt. |
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Aber mit dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Unheimlichen nicht gelöst. Unser Satz verträgt offenbar keine Umkehrung. Nicht alles was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich. |
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Ich glaube, es fügt sich ausnahmslos unserem Lösungsversuch, läßt jedesmal die Zurückführung auf altvertrautes Verdrängtes zu. Doch ist auch hier eine wichtige und psychologisch bedeutsame Scheidung des Materials vorzunehmen, die wir am besten an geeigneten Beispielen erkennen werden. |
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Von diesen und anderen Details der Begebenheit würden wir aber abhängen, wenn wir die Wahrscheinlichkeit eines dem Träumer unbewussten Abschätzens und Erratens zu erwägen hätten. Ich sagte mir auch, es würde nichts nützen, wenn ich auf einige solcher Anfragen Antwort bekäme. |
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Im Laufe des angestrebten Beweisverfahrens würden doch immer neue Zweifel auftauchen, die nur beseitigt werden könnten, wenn man den Mann vor sich hätte und alle die dazugehörigen Erinnerungen bei ihm auffrischen würde, die er vielleicht als unwesentlich beiseite geschoben hat. |
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Von sechs bis zehn Jahren besuchte ich die Gemeindeschule und dann bis sechzehn Jahre die höhere Schule der Ursulinerinnen in B. Mit zehn Jahren habe ich innerhalb vier Wochen, es waren acht Nachhilfestunden, soviel Französisch nachgeholt, als andere Kinder in zwei Jahren lernen. |
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Lese ich heute ein französisches Werk, dann denke ich auch sofort in Französisch, während mir das bei Englisch nie passiert, trotzdem ich englisch besser beherrsche. Meine Eltern sind Bauersleute, die durch Generationen nie andere Sprachen als deutsch und polnisch gesprochen haben. |
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Nun etwas, was Sinnestäuschung sein soll, Ansichtssache! Ich habe eine Freundin, die sich einen Witwer mit fünf Kindern geheiratet hat, den Mann lernte ich erst durch meine Freundin kennen. In deren Wohnung sehe ich fast jedes Mal, wenn ich bei ihr bin, eine Dame aus und eingehen. |
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Um den Stamm der Palme schlingt eine Frau ihren Arm und beugt sich ganz tief ins Wasser, wo ein Mann versucht, an Land zu kommen. Zuletzt legt sie sich auf die Erde, hält sich mit der Linken an der Palme fest und reicht, so weit wie möglich, ihre Rechte dem Manne ins Wasser, ohne ihn zu erreichen. |
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Wenn im Traum eine Frau einen Mann aus dem Wasser zieht (oder ziehen will), so kann das heißen, sie will seine Mutter sein (anerkennt ihn als Sohn wie die Pharaotochter den Moses) oder auch: sie will durch ihn Mutter werden, einen Sohn von ihm haben, welcher als sein Ebenbild ihm gleichgesetzt wird. |
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Am Ende dieses offenbar angstvollen Traumes fällt die Träumerin aus dem Bett. Das ist eine neuerliche Darstellung der Niederkunft. Die analytische Erforschung der Höhenphobien, der Angst vor dem Impuls, sich aus dem Fenster zu stürzen, hat Ihnen gewiss allen das nämliche Ergebnis geliefert. |
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Könnten wir die Schreiberin sprechen, so würden wir die Frage an sie richten, ob nicht der Vater seiner Farbe nach in dem braunen Pferd, das sie so menschlich ansieht, erkannt werden darf. Die zweite Erinnerung ist mit der ersten durch das gleiche verständnisvolle Ansehen assoziativ verknüpft. |
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Die nächsten beiden Erinnerungen gehören zusammen, sie bieten der Deutung noch geringere Schwierigkeiten. Das Schreien der Mutter bei ihrer Niederkunft erinnert sie direkt an das Quieken der Schweine bei einer Hausschlachtung und versetzt sie in dieselbe mitleidige Raserei. |
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Mit diesen Andeutungen der Zärtlichkeit für den Vater, der genitalen Berührungen mit ihm und der Todeswünsche gegen die Mutter ist der Umriss des weiblichen Ödipuskomplexes gezogen. Die lang bewahrte sexuelle Unwissenheit und spätere Frigidität entsprechen diesen Voraussetzungen. |
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Wie die Verhältnisse liegen, musste ich mich damit begnügen ihr zu schreiben, ich sei überzeugt, dass sie an der Nachwirkung einer starken Gefühlsbindung an den Vater und der entsprechenden Identifizierung mit der Mutter leide, hoffe aber selbst nicht, dass diese Aufklärung ihr nützen werde. |
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Doch kann versucht werden, das was zum Einteilen erforderlich ist, zum Voraus im Allgemeinen verständlich zu machen, obgleich auch dabei ein Verfahren der Methode in Anspruch genommen werden muss, das seine volle Verständigung und Rechtfertigung erst innerhalb der Wissenschaft erhält. |
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Vor siebzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, den Bankier Herz, dessen große, schwerfällige Figur mit dem feinen jüdischen Kopfe mir noch aus meiner frühesten Kinderzeit vor Augen steht, da meine Eltern, als ich zwei Jahre alt war, die Frankfurter Verwandten besucht hatten. |
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Gewöhnlich ruhten ihre beiden kleinen Hände regungslos auf der grünseidenen Decke, die mit kostbaren Spitzen eingefasst war. Die ungemein zarte Haut war bleich wie alter, weißer Atlas, der etwas vergilbt ist und seinen Glanz verloren hat, wie auch über ihrem Gesicht kein Schimmer von Röte lag. |
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Als ich sie nach ihm fragte, hob die Tante sacht die linke Hand, die ihn trug, und hielt sie nahe vor die Augen, deren Sehkraft schon ein wenig geschwächt war. Es ist auch ein Trauerring, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, nachdem sie ihn eine Weile still betrachtet hatte. |
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Der, von dem ich ihn habe, ist lange schon nicht mehr auf der Erde. Neben den anderen nimmt er sich nicht glänzend aus, und doch ist er mir der liebste von allen. Dass er so dick ist, kommt davon her, weil er eine kleine Haarlocke einschließt, die man sieht, wenn man die innere Kapsel öffnet. |
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Ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr getan, will's auch jetzt nicht, es greift mich zu sehr an. Die Emailinschrift aber kannst du selbst lesen. Sie hielt mir den Ring wieder hin, und ich buchstabierte: Lebe wohl! Dann sank die Hand wieder auf die seidene Decke. Wir schwiegen eine Weile. |
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Sie nickte still vor sich hin. Jawohl, lieb Kind, sagte sie, ich wusste das selbst, es wäre kindisch gewesen, mir's verleugnen zu wollen. Aber Anbeter, was man so nennt, die sich einbildeten, sie könnten sich Hoffnungen machen, in besondere Gunst bei mir zu kommen, die hatte ich eigentlich nicht. |
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Du weißt aber, bei uns Juden versteht sich's von selbst, dass die Frauen ihren Männern treu bleiben, und die etwa eine Ausnahme von der Regel machten, wurden nicht zum besten darum angesehen, selbst in der damaligen Zeit, wo die guten alten Sitten sehr ins Wackeln kamen. |
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Schön sah er dann erst recht nicht aus, eher komisch, aber bei alledem auch wieder ehrwürdig, mit der großen Nase in dem glattrasierten gelblichen Gesicht, dem feinen blassen Munde und den kleinen, tiefliegenden Augen, die aber, wenn er sich einmal in Eifer sprach, ganz merkwürdig leuchteten. |
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In der Gesellschaft erzählte man sich, er sei in Paris als ein gefährlicher mangeur de coeurs bekannt gewesen, und man wunderte sich, dass er in Frankfurt gar keinen Abenteuern nachging. Dass er mein Haus so fleißig besuchte, erklärte man sich durch eine Verliebtheit in eine meiner Töchter. |
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Ich verstand nicht, dass es Sünde hätte sein können, das Liebenswürdige zu lieben und das Schöne schön zu finden. Meinen Pflichten als Gattin und Mutter wurde ich darum nicht untreu, wenn ich in dem Umgang mit diesem reizenden jungen Freunde mein Herz lebhafter schlagen fühlte. |
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Lachen hatten sich auf der Chaussee gebildet. Ihre ganze Oberschicht bestand aus einem weichen, feinen Schmutz, der sich teigig an die Stiefel ansetzte, sofort krustete; und vor allem war er kalt, von einer Kälte des Eiswassers, unterer Schichten unter dem Wasser, die nie die Sonne sahen. |
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Es lag Hohn und Trotz gegen die Gesellschaft in seiner Art, das Bewusstsein eines Ichs, der Kraft, in diesem Menschen, der mit klaffenden Schuhen über die Landstraße stapfte, Hass gegen die Kälte, der er den Alkohol entgegensetzte, den brennenden Rausch, der besser hitzt wie Feuer. |
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Ein gewisser Galgenhumor kam über ihn, während sein Gefährte ängstlich in seine blaugefrornen Finger pustete, die besten Stellen im Matsch aussuchte, um seine Füße zu schonen, vor allem die Schuhe, die trotzdem schon barsten, Wasser einließen, das sickerte, quietschte zwischen den Sohlen. |
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Die Mutter saß da und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem goldbedruckten Gesangbuch. Es war hart, dass man keine Arbeit fand. Aber er vertraute auf Gott. Und Berlin war nah, wo Tausende arbeiteten und aßen. Sehr müde war er und weit konnte es nicht mehr sein. |
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Von beiden Seiten reihten sich dunkle, niedrige Schuppen um gemauerte Schlote, mit Latten eingezingelte Höfe. Man sah die schwarzen Eisenconstructionen zum Heben, die achatne Spiegelung der Fensterscheiben, ungeheure, stumpfe Massen aufgeschichteten Materials, die warteten, sich zersetzten. |
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Jemand musste an ihrer Seite heraufgekommen sein. Er war wohl von rückwärts nahe gekommen. Sie hatten ihn nicht gehört, weil der weiche Schmutz alle Schritte erstickte. Und es war finster. Sie sahen, dass es ein Mann war. Er mochte in ihrer eigenen Größe sein, nicht über Mittelgröße. |
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Die ganze Glocke drehte sich, sang und schwang. Der kleine Handwerksbursche sang laut, vorwärts stolpernd im schleimigen Straßenkot, zwischen den schwarzen Fabrikschuppen mit hohen Schloten, vor der Stadt, die rings umher anfing sich zu entzünden, wie ein Halbkreis der Hölle mit feurigen Augen. |
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Sonst Reklamen in großen Lettern von Wein, Bier, Rum, Punsch, Zettel in lebhaften Farben so zusammengestellt, dass sie sich möglichst schnitten, das Auge herausforderten. Aber der Straßenstaub hatte sie ausgebleicht, Alles war von derselben schmutziggrauen Schleimschicht überzogen. |
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Die Fenster hingen schief in ihren Rahmen. Gegen das Haus lagen schwarze, faulende Holzplanken aufgeschichtet von irgend einem Neubau, der nie fertig wurde. Die Fenster nach der Straße zu waren durch schwere Rollbretter geschützt. In den oberen Stockwerken hatte man die Jalousien heruntergelassen. |
290 |
Dieser Mann war lang und hager; sein glatt rasiertes, scharf und spitz gezeichnetes Gesicht wurde von einem borstigen roten Kehlbarte umrahmt; fuchsrot waren auch die kurzgeschorenen Kopfhaare, wie man sehen konnte, da er den alten, abgegriffenen Filzhut weit in den Nacken geschoben hatte. |
291 |
Um die Hüften hatte er sich ein rotes Fransentuch geschlungen, aus welchem die Griffe des Messers und zweier Pistolen blickten. Hinter ihm lag ein ziemlich neues Gewehr und ein leinener Schnappsack, welcher mit zwei Bändern versehen war, um auf dem Rücken getragen zu werden. |
292 |
Der eine von ihnen war ein Weißer von hoher, außerordentlich kräftiger Gestalt. Er trug einen so kräftigen, dunkeln Vollbart, dass man nur die Augen, die Nase und den oberen Teil der Wangen erkennen konnte. Auf seinem Kopfe saß eine alte Bibermütze, welche im Laufe der Jahre fast kahl geworden war. |
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Er hatte gehofft, dass Großer sich weigern und dann durch Drohungen zum Trinken zwingen lassen werde; dieser aber war der Klügere gewesen, hatte erst getrunken und dann ganz offen gesagt, dass er zu klug sei, Veranlassung zu einem Krakehl zu geben. Das wurmte den Cornel. |
294 |
Die an Deck sich befindenden Männer hatten ebenso wie der Cornel laut aufgeschrien. Nur vier von ihnen hatten mit keiner Wimper gezuckt, nämlich der Schwarzbärtige, welcher jetzt ganz vorn am Bug saß, der riesenhafte Herr, welchen der Cornel zum dritten Drink einladen wollte und die beiden Indianer. |
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Ich bin der berühmte Menageriebesitzer Jonathan Boyler und befinde mich seit einiger Zeit mit meiner Truppe in Van Büren. Da dieser schwarze Panther in New Orleans für mich angekommen war, so begab ich mich mit meinem erfahrensten Tierbändiger dorthin, um ihn abzuholen. |
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Dies jedoch darf ich ohne gewisse Gegenleistung nicht gestatten. Um den Reiz dieses seltenen Schauspiels zu erhöhen, werde ich eine Fütterung des Tieres anbefehlen. Wir arrangieren drei Plätze, den ersten zu einem Dollar, den zweiten zu einem halben und den dritten zu einem Vierteldollar. |
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Er nahm seinen Hut ab und kassierte die Dollars ein, während sein Tierbändiger, den er herbeigerufen hatte, die zu der Schaustellung nötigen Vorbereitungen traf. Die Passagiere waren meist Yankees, und als solche erklärten sie sich mit der jetzigen Wendung der Angelegenheit einverstanden. |
298 |
Dort setzten sie sich nieder, verbanden ihrem Anführer die Hand, sprachen leise und angelegentlich miteinander und warfen dabei Blicke nach dem berühmten Jäger, welche zwar keineswegs freundliche waren, aber doch bewiesen, welch einen gewaltigen Respekt sie vor ihm hatten. |
299 |
Der Bändiger brachte die Hälfte eines Schafes herbei und legte sie vor dem Käfig nieder. Als der Panther das Fleisch erblickte, gebärdete er sich wie unsinnig. Er sprang auf und ab und fauchte und brüllte, dass die furchtsameren der Zuschauer sich noch weiter zurückzogen als bisher. |
300 |
Der Panther hatte sich über seine Mahlzeit hergemacht, deren Knochen zwischen seinen Zähnen wie Pappe zermalmt wurden. Er schien nur auf seinen Fraß zu achten, und so konnte wohl selbst der Laie der Ansicht sein, dass es keine große Gefahr auf sich habe, gerade jetzt den Käfig zu betreten. |
301 |
Es war nicht gesagt, ob der Tierbändiger dabei bewaffnet sein solle. Er holte seinen Totschläger, eine Peitsche, deren Knauf eine Explosionskugel enthielt. Griff das Tier ihn an, so bedurfte es nur eines kräftigen Hiebes seinerseits, den Panther augenblicklich zu töten. |
302 |
Um einzutreten, musste er sich bücken. Dabei bedurfte er beider Hände, um die Tür zu halten, und dann, wenn er sich im Käfige befand, wieder zu schließen; deshalb hatte er den Totschläger zwischen die Zähne genommen und war also, wenn auch nur für diesen kurzen Augenblick, wehrlos. |
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Zwar war er schon oft bei dem Tiere im Käfige gewesen, aber unter ganz andern Umständen. Da war dasselbe nicht tagelang im Dunkeln gewesen; es hatten sich nicht so viele Menschen in der Nähe befunden, und es hatte auch nicht das Stampfen der Maschine und das Rauschen und Brausen der Räder gegeben. |
304 |
Eben schob der Bändiger den gesenkten Kopf herein - eine geradezu gedankenschnelle Bewegung des Raubtieres, ein blitzähnliches Aufzucken, und es hatte den Kopf, aus dessen Mund der Totschläger fiel, im Rachen und zerkrachte ihn mit einem einzigen Bisse in Splitter und zu Brei. |
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Das ganze Deck bildete einen Wirrwarr von fliehenden und vor Angst schreienden Personen. Die Türen nach den Kajüten und den Unterdecks waren verstopft. Man duckte sich hinter Fässern und Kisten nieder und sprang doch wieder auf, weil man sich da nicht vollständig sicher fühlte. |
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Der Steamer stoppte und blieb dann dadurch auf der Stelle halten, dass die Räder nur so viel Wasser griffen, als nötig war, die Rücktrift zu vermeiden. Da die Gefahr für die Passagiere jetzt vorüber war, eilten alle aus den verschiedenen Verstecken hervor und an das Geländer. |
307 |
Niemand hörte auf ihn. Alle beugten sich über die Reling, um in den Fluss hinabzusehen. Da lag der Panther, als vortrefflicher Schwimmer, mit ausgebreiteten Pranken auf dem Wasser und sah sich nach der Beute um - vergeblich. Der kühne Knabe war mit dem Mädchen nicht zu sehen. |
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Die am und jenseits des Mississippi liegenden Staaten wurden von ihnen förmlich überschwemmt. Dort trat bald ein Scheideprozess ein, indem die Ehrlichen unter ihnen Arbeit nahmen, wo sie dieselbe fanden, selbst wenn die Beschäftigung nur eine wenig lohnende und dabei anstrengende war. |
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Sie überfielen nicht bloß einzelne Farmen, sondern selbst kleinere Städte, um sie vollständig auszurauben. Sie bemächtigten sich sogar der Eisenbahnen, überwältigten die Beamten und bedienten sich der Züge, um schnell in ein andres Gebiet zu gelangen und dort dieselben Verbrechen zu wiederholen. |
310 |
Der Cornel hatte seine Aufmerksamkeit natürlich auch auf die wunderliche Gestalt gerichtet, welche sich dem Schiffe auf so zerbrechlichem Flosse näherte und, nur so wie beiläufig, das mächtige Raubtier erlegte. Er hatte gelacht, als Tom den sonderbaren Namen Tante Droll aussprach. |
311 |
Er setzte den unterbrochenen Gang nach hinten fort. Dort war jetzt der Vater des geretteten Mädchens aus der Kajüte angekommen, um zu melden, dass seine Tochter aus ihrer Ohnmacht erwacht sei, sich verhältnismäßig wohl fühle und nun nur der Ruhe bedürfe, um sich vollständig zu erholen. |
312 |
Also diese Leute sind mir nun vollständig gleichgültig. Ich begreife nur nicht, dass dieser Ingenieur hinauf in das Felsengebirge will und doch ein junges Mädchen bei sich hat. Er hat nur dieses eine Kind. Die Tochter liebt ihn sehr und hat sich nicht von ihm trennen wollen. |
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Wenn das Schiff sinkt, was sehr langsam geschieht, so steigt die Wasserlinie außen. Das muss der Offizier oder Steuermann bemerken, wenn er nicht blind ist. Es wird das einen solchen Lärm und Schreck geben, dass der Ingenieur zunächst gar nicht an sein Messer denken wird. |
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Auch der Ingenieur befand sich unter ihnen. Er hatte seine Frau und Tochter mit, welch letztere sich von ihrem Schrecken und dem unfreiwilligen Wasserbade vollständig erholt hatte. Diese drei Personen suchten die Indianer auf, da die beiden Damen denselben noch nicht gedankt hatten. |
315 |
Er fand die Luke, welche weiter nach unten führte, und stieg die zweite Treppe hinab, welche mehr Stufen als die obere besaß. Unten angekommen, strich er ein Zündholz an und leuchtete um sich. Um sich genau zu orientieren, musste er weiter gehen und noch mehrere Hölzer verbrennen. |
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Die Außenwände, aus leichtem Holzgetäfel bestehend waren mit ziemlich großen Fenstern versehen, deren Öffnungen jetzt nur mit Gaze verschlossen waren. Zwischen jeder Kabinenseite und dem betreffenden Schiffsborde führte ein schmaler Gang hin, der leichteren Passage wegen. |
317 |
Er hätte vor Freude über das, was er sah, laut aufjubeln mögen. An der linken Wand hing über dem Bette ein brennendes, nach unten, um den Schläfer nicht zu stören, verhülltes Nachtlämpchen. Darunter lag, fest schlafend, mit dem Gesichte nach der Wand gekehrt, der Ingenieur. |
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Die Gesellschaft schien sich sehr sicher zu fühlen, denn keiner gab sich die Mühe, leise zu sprechen. Hätten diese Leute die Nähe eines Feindes angenommen, so wäre das Feuer wohl nach indianischer Weise genährt worden, so dass es eine nur kleine, nicht weit sichtbare Flamme gab. |
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Auch der Rafter ist nicht an die Scholle gebunden und führt ein freies, fast unabhängiges Dasein. Er streift aus einem Staate in den andern und aus einer County in die andre. Menschen und deren Wohnungen sucht er nicht gern auf, weil das Gewerbe, welches er treibt, eigentlich ein ungesetzliches ist. |
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Dennoch bleibt der Rafter meist unbelästigt, denn er ist ein kräftiger und kühner Gesell, mit welchem in der Wildnis, fern von aller Hilfe, nicht so leicht jemand anzubinden wagt. Allein kann er natürlich nicht arbeiten, sondern es tun sich stets mehrere, meist vier bis acht oder zehn zusammen. |
321 |
Nein, denn es war nur einer. Er kannte natürlich die Verhältnisse nicht und hatte gemeint, dass ein Dieb oder sonstiger Verbrecher gezüchtigt werde. Aus der Haltung meines Kopfes hatte er schon von weitem gesehen, dass mein Leben keinen Penny wert sei, wenn er nicht schon aus der Ferne Einhalt tue. |
322 |
Oder hättest du es etwa anders gemacht? Aus ihrer eiligen Flucht erkannte er zwar, dass sie ein böses Gewissen hatten, aber die eigentlichen Umstände wusste er doch nicht. Dann sah er mich hängen und die losgebundenen Leichen, die er vorher nicht hatte bemerken können, am Boden liegen. |
323 |
Als ich erwachte, kniete er neben mir, gerade wie der Samariter in der heiligen Schrift. Er hatte mich von den Fesseln und dem Knebel befreit, verbot mir aber, zu sprechen, eine Untersagung, auf welche ich nicht achtete. Ich fühlte wahrhaftig keine Schmerzen und wollte auf und fort, um mich zu rächen. |
324 |
Nun legten sie sich auf die Erde nieder und krochen nach dem Feuer hin. Dabei benutzten sie als Deckung die Büsche, welche auf der Lichtung standen. Die Tramps saßen nahe am Bache, dessen Ufer mit dichtem Schilfe bewachsen war; das letztere reichte bis an das Lager hin. |
325 |
Warum? Habt ihr denn nicht gehört, dass diese Roten unsern Lagerplatz kennen? Natürlich werden sie uns überfallen wollen, wahrscheinlich am Morgen. Da sie sich aber sagen müssen, dass wir den Toten vermissen und infolgedessen Verdacht schöpfen werden, so ist es möglich, dass sie noch eher kommen. |
326 |
Zwei, drei Tramps, welche beschäftigt waren, den Missourier zu binden und zu knebeln, um ihn dann in den Fluss zu werfen, fielen unter seinen nächsten Streichen. Dann zog er, das noch nicht abgeschossene Gewehr wegwerfend, die Revolver und feuerte auf die übrigen Feinde. |
327 |
Als sie die Schüsse unten am Flusse fallen hörten, glaubten sie diese beiden in Gefahr. Um sie womöglich zu retten, griffen sie zu den Waffen, verließen das Haus und rannten, so gut die Finsternis es ihnen gestattete, der Gegend zu, in welcher die Schüsse gefallen waren. |
328 |
Dabei schrien sie aus Leibeskräften, um dadurch die Tramps von den Bedrohten abzuschrecken. Ihnen voran lief der junge Bär, da er die Stelle, an welcher die Tramps lagerten, genau kannte. Er ließ von Zeit zu Zeit seine Stimme hören, um die Rafters in der rechten Richtung zu erhalten. |
329 |
Als er mich niederwarf und mit Füßen trat, stach ich ihm mit dem Messer in die Wade, hüben hinein und drüben heraus, so, dass das Messer stecken blieb. Er mag den Unterschenkel entblößen. Ist er der Richtige, was ich gar nicht bezweifle, so müssen die zwei Narben noch zu sehen sein. |
330 |
Dann, als sie die Grenze desselben unten erreicht hatten, steuerte der Cornel nach der Mitte des Flusses, gerade als die Rafters mit den Pferden und Gefangenen die brennende Hütte erreichten. Diese erhoben kein geringes Klagen, als sie ihre Habe im Feuer zu Grunde gehen sahen. |
331 |
Die Haltung dieses Mannes war diejenige eines geübten Reiters; sein Gesicht - ja, dieses Gesicht war eigentlich ein sehr sonderbares. Der Ausdruck desselben war geradezu dumm zu nennen, und zwar nicht etwa ausschließlich durch die Nase, welche zwei ganz verschiedene Seiten hatte. |
332 |
Eingerahmt wurde dieses Gesicht von einem Kehlbarte, dessen lange dünne Haare vom Halse aus bis über das Kinn hervorstarrten. Der Bart wurde gestützt durch zwei riesige Vatermörder, deren bläulicher Glanz verriet, dass der Reiter es in der Prairie vorzog, Gummiwäsche zu tragen. |
333 |
Jetzt wurden auf der Höhe des nächsten Wellenhügels zwei Gestalten, welche dort im Grase gelegen hatten, sichtbar, eine lange und eine sehr kleine. Beide waren ganz gleich gekleidet, ganz in Leder wie echte, richtige Westmänner, selbst ihre breitkrempigen Hüte waren von Leder. |
334 |
Nach kurzer Zeit begannen die Pferde zu schnauben, und gleich darauf sah man den Indianer kommen. Er befand sich in den besten Mannesjahren und trug die gewöhnliche indianische Lederkleidung, welche an einigen Stellen zerrissen und an andern mit frischem Blute befleckt war. |
335 |
Wir kamen vorgestern dort an, suchten die Gegend ab und überzeugten uns, dass kein feindliches Wesen vorhanden sei. Wir fühlten uns also sicher und schlugen unser Lager bei den Gräbern auf. Gestern jagten wir, um Fleisch zur Speise zu haben, und heute nahmen wir die Feier vor. |
336 |
Sie waren mehrere hundert Köpfe stark; wir töteten einige von ihnen; sie erschossen acht von uns; ich wurde mit den übrigen vier überwältigt und gebunden. Man hielt Gericht über uns, und wir erfuhren, dass wir heute Abend am Feuer gemartert und dann verbrannt werden sollten. |
337 |
Endlich blieb der Häuptling stehen und flüsterte: Meine Brüder mögen lauschen. Ich habe die Stimmen der Tramps vernommen. Sie horchten und bemerkten bald, dass der Rote sich nicht geirrt hatte. Man hörte sprechen, wenn auch aus weiter Ferne, so dass die Worte nicht verstanden werden konnten. |
338 |
Das ist sehr gut, denn nun sind sie vorbereitet und werden, wenn wir ihnen nahe kommen, uns nicht etwa durch eine Bewegung der Freude und Überraschung verraten. Diese Tramps sind keine Westmänner. Es ist eine ungeheure Dummheit von ihnen, die Gefangenen nicht in ihre Mitte zu nehmen. |
339 |
Unbegreiflich war es den Tramps, dass die Ermordung der Wächter so vollständig lautlos hatte vor sich gehen können. Wie hätten sie sich aber gewundert, wenn sie gewusst hätten, dass es nur ein einziger gewesen war, der dieses indianische Meisterstück fertig gebracht hatte. |
340 |
Aber sie sind wohl auf dem Rückwege von der Nacht überrascht worden und haben sich verirrt. Oder haben sie sich gelagert, um sich nicht zu verirren, und stoßen morgen früh zu uns. Jedenfalls werden wir ihre Fährte treffen, denn sie nahmen genau die Richtung, welche wir einhalten müssen. |
341 |
Diese Vorsichtsmaßregel war in einer Gegend, welche oft von räuberischen Indianern durchzogen wird, sehr geboten. In jenen Gegenden kommt, oder wenigstens kam es oft vor, dass ein einsames Haus, eine Farm, mehrere Tage lang von den Bewohnern gegen solches Gesindel verteidigt werden musste. |
342 |
Einer schob den andern dem Verderben entgegen, denn sobald ein Pferd landete, wurde der Reiter desselben von der Farm aus durch eine Kugel aus dem Sattel geholt. In der Zeit von kaum zwei Minuten gab es zwanzig bis dreißig ledige Pferde, welche hüben führerlos umhersprangen. |
343 |
Das vermochten die Tramps nicht auszuhalten; sie stoben auseinander und ließen ihre Toten und Verwundeten liegen, da es höchst gefährlich für sie war, sich bei und mit denselben aufzuhalten. Die ledigen Pferde rannten instinktmäßig dem Farmhause zu, und man öffnete das Tor, um sie hereinzuholen. |
344 |
Als dann die Tramps doch den Versuch machten, sich ihrer Verwundeten anzunehmen, wurden sie nicht belästigt, da es einem Akt der Menschlichkeit galt. Man sah, dass sie dieselben unter eine ferne Baumgruppe schafften, um sie dort, so gut die Verhältnisse es erlaubten, zu verbinden. |
345 |
Das Ufer war hier nicht hoch. Er kroch leise hinauf. Jenseits der Büsche brannten an den beiden Mauerecken die Feuer, gegen die sich die Gegenstände in leidlich erkennbaren Umrissen abhoben. Höchstens zehn Schritte vom Ufer entfernt saßen vier Personen, die Gefangenen mit ihrem Wächter. |
346 |
Weiter zurück sah der Kleine die Tramps in allen möglichen Stellungen ruhen. Er kroch, ohne das Gewehr wegzulegen, weiter, bis er sich hinter dem Wächter befand. Nun erst legte er es weg und griff zum Messer. Der Tramp musste sterben, ohne einen Laut ausstoßen zu können. |
347 |
Die fünf bewegten sich vorsichtig am Ufer hin, bis sie eine geeignete Stelle fanden. Dort richteten sie sich auf, und jeder stellte sich hinter einen Baum, der ihm Deckung gewährte. Sie befanden sich im vollständigen Dunkel und hatten die Tramps deutlich genug vor sich, um genau zielen zu können. |
348 |
Sie waren nicht im Stande, die Gegner zu zählen; die Schar derselben erschien ihnen in dem von den Feuern nur dürftig erhellten nächtlichen Dunkel als eine doppelt und dreifach größere, als sie wirklich war. Das vermehrte ihre Angst, und die Flucht erschien ihnen der einzige Rettungsweg. |
349 |
Die Indianer hatten sich nicht an der Verfolgung beteiligt. Nach den Skalps der Weißen lüstern, waren sie zurückgeblieben und hatten den Kampfplatz und das daran stoßende Gebüsch bis an den Fluß sorgfältig abgesucht, um jeden noch lebenden Tramp zu töten und zu skalpieren. |
350 |
Da an eine Rückkehr der Tramps nicht zu denken war, so konnte man, wenigstens was die Indianer betraf, den Rest der Nacht der Siegesfreude widmen. Sie erhielten zwei Rinder, welche geschlachtet und verteilt wurden, und bald ging von den Feuern der kräftige Duft des Bratens aus. |
351 |
Zuweilen blieb er stehen, wie um auszuruhen, aber die Hoffnung, Menschen zu treffen, trieb ihn immer schnell wieder zur neuen Anstrengung seiner müden Füße. Er musterte wieder und immer wieder den Horizont, doch lange vergeblich, bis endlich sein Auge froh aufleuchtete. |
352 |
Er hatte draußen am Horizont einen Mann bemerkt, auch einen Fußgänger, welcher von rechts her kam, so dass beide Richtungen zusammenstoßen mussten. Das gab seinen Gliedern neue Spannkraft; er schritt schnell und weit aus und sah bald, dass er von dem andern bemerkt wurde. |
353 |
Um seinen Hals war ein blauseidenes Tuch geschlungen und vorn in eine große, breite Doppelschleife, welche die ganze Brust bedeckte, geknüpft. Den Kopf beschattete ein breitkrempiger Strohhut. An einem um den Hals gehenden Riemen hing vorn ein Kasten aus poliertem Holze. |
354 |
Der Mann war lang und dürr, das glatt rasierte Gesicht scharf geschnitten und hager. Wer in diese Züge und in die kleinen, listigen Augen blickte, der wusste sofort, dass er einen echten Yankee vor sich habe, einen Yankee von jener Sorte, deren Durchtriebenheit sprichwörtlich geworden ist. |
355 |
Die Schüsse gingen los - denkt Euch, ich war nicht getroffen, aber meine Kugel war ihm gerade durch das Herz gegangen. Die Flinte, die gar nicht mir gehörte, festhaltend, rannte ich entsetzt fort. Ich behaupte, dass der Lauf krumm ist; die Kugel geht volle drei Ellen zu weit nach links. |
356 |
Ich bin offen gegen Euch, weil ich denke, dass Ihr meinen Antrag annehmen werdet. Eigentlich bin ich Schneider; dann wurde ich Friseur, nachher Tanzlehrer; später gründete ich ein Erziehungsinstitut für junge Ladies, als das aufhörte, griff ich zur Ziehharmonika und wurde wandernder Musikant. |
357 |
Ihr glaubt gar nicht, welche Kuren ich mit diesen Wassern schon gemacht habe, und ich nehme Euch das gar nicht übel, denn ich glaube es selbst auch nicht. Die Hauptsache ist, dass man die Wirkung nicht abwartet, sondern das Honorar einzieht und sich aus dem Staube macht. |
358 |
Er hing sich den Kasten wieder um, und dann schritten sie miteinander der Farm entgegen. Nach kaum einer halben Stunde sahen sie dieselbe von weitem liegen; sie schien nicht groß zu sein. Nun musste Haller den Kasten tragen, da sich das nicht für den Prinzipal, Doktor und Magister schickte. |
359 |
Vor demselben waren drei Pferde angebunden, ein sicheres Zeichen, dass sich Fremde hier befanden. Diese saßen in der Wohnstube und tranken Hausbier, welches der Farmer selbst gebraut hatte. Die Fremden waren allein, da sich nur die Farmersfrau daheim befand und jetzt in dem kleinen Stalle war. |
360 |
Dann entspann sich ein Gespräch, währenddessen die Wirtin am Herdfeuer beschäftigt war. Über demselben hing ein Kessel, in welchem das Mittagessen kochte. Als dasselbe fertig war, trat sie vor das Haus und stieß nach der Sitte jener Gegenden in das Horn, um die Ihrigen herbeizurufen. |
361 |
Diese kamen von den naheliegenden Feldern. Es war der Farmer, ein Sohn, eine Tochter und ein Knecht. Sie reichten den Gästen, besonders dem Arzte, mit aufrichtiger Freundlichkeit die Hand und setzten sich dann zu ihnen, um das Mahl, vor und nach welchem gebetet wurde, einzunehmen. |
362 |
Ich glaube es, ich glaube es, Sir! Ihr kommt gerade zur richtigen Zeit. Ich habe eine Kuh im Stalle stehen. Was das heißen will, werdet Ihr wissen. Hier zu Lande kommt eine Kuh nur dann in den Stall, wenn sie schwer krank ist. Sie hat zwei Tage nichts gefressen und hängt den Kopf bis zur Erde herab. |
363 |
Als der Magister erklärte, dass er unverzüglich nach der ersteren aufbrechen werde, fragte ihn der Farmer nach dem Honorare. Hartley verlangte fünf Dollar und bekam sie auch sehr gern ausgezahlt. Dann brach er mit seinem Famulus auf, welcher wieder den Kasten auf sich lud. |
364 |
Ich habe es gut mit Euch gemeint. Schade, dass Euer Gewissen ein so zartes ist! Ich danke Gott, dass er mir kein andres gegeben hat. Hier habt Ihr Euern Kasten zurück. Ich möchte Euch gern erkenntlich für das sein, was Ihr an mir getan habt, aber ich kann nicht, es ist mir unmöglich. |
365 |
Des Menschen Wille ist sein Himmelreich; darum will ich nicht weiter in Euch dringen. Aber wir brauchen uns trotzdem nicht sogleich zu trennen. Euer Weg ist fünfzehn Meilen weit, bis zu der betreffenden Farm, auch der meinige, und wir können also wenigstens bis dahin beisammen bleiben. |
366 |
Die Schweigsamkeit in welche er nun verfiel, ließ vermuten, dass die Rechtlichkeit des Schreibers nicht ganz ohne Eindruck auf ihn geblieben sei. So wanderten sie nebeneinander weiter und richteten ihre Augen nur nach vorwärts, bis sie hinter sich Pferdegetrappel vernahmen. |
367 |
Dabei hoffte er im Stillen, dass der Cornel nichts finden werde, da er seine Barschaft sehr gut versteckt glaubte. Der jetzt schwarz gefärbte Rote untersuchte alle Taschen, fand aber nur wenige Dollar. Dann betastete er jeden Zoll breit des Anzuges, um zu fühlen, ob vielleicht etwas eingenäht sei. |
368 |
Das ist wahr. Wie ist's nur möglich, dass ich nicht auf diesen Gedanken gekommen bin! Gerade du bist mit der Feder bewandert und hättest diese Rolle übernehmen können. Und ich hätte sie wohl auch richtig ausgeführt. Es wären damit alle Schwierigkeiten beseitigt gewesen. |
369 |
Gewiss! Natürlich ist's noch Zeit! Wir wissen ja, wohin die beiden wollen; der Weg ist ihnen von dem Farmer angedeutet worden und führt hier vorüber. Wir brauchen also nur zu warten, bis sie kommen. Ganz richtig, tun wir das! Aber es genügt nicht, dem Schreiber den Brief abzunehmen. |
370 |
Wir zwei reiten zurück und holen die andern. Du wirst uns dann in der Gegend finden, wo die Bahn über den Eagle-tail geht. Genau können wir die Stelle vorher nicht bestimmen. Ich werde Vorposten in der Richtung nach Sheridan aufstellen, auf welche du unbedingt treffen musst. |
371 |
Wollen wir ihnen nochmals in die Hände laufen? Wir müssen gewärtig sein, dass sie bedauern, uns nicht unschädlich gemacht zu haben, und dann, wenn wir wieder auf sie treffen, das Versäumte nachholen. Mein Geld haben sie; aber mein Leben möchte ich ihnen nicht auch noch hinterdrein tragen. |
372 |
Ich denke es. Ich bin ein so kräftiger Kerl, dass wir wohl an Ort und Stelle sein werden, ehe das Wundfieber eintritt. Auf alle Fälle hoffe ich, dass Ihr mich nicht vorher verlasset. Gewisslich nicht. Solltet Ihr unterwegs liegen bleiben, so suche ich Leute auf, welche Euch zu sich holen werden. |
373 |
Hartley schüttete alle seine gefärbten Tropfen weg und füllte die Phiolen mit reinem Wasser, um unterwegs den Verband nach Bedarf befeuchten zu können. Dann brachen sie wieder auf. Sie kamen über eine Prairie von so kurzem Grase, dass die Fußspuren kaum zu erkennen waren. |
374 |
Ein andrer hätte den Schreiber auf die Verfolger aufmerksam gemacht; Hartley aber tat das nicht; er setzte den Weg mit verdoppelter Schnelligkeit fort, und als Haller sich über diese plötzliche Eile wunderte, stellte er ihn durch den ersten besten plausiblen Grund zufrieden. |
375 |
Ihr wollt nach Sheridan und habt meinetwegen vom geraden Weg abweichen müssen. Wer weiß, ob und wann wir in der jetzigen Richtung eine Farm finden; da könnt Ihr Euch tagelang mit mir herumquälen, während es doch ein höchst einfaches Mittel gibt, diese Aufopferung ganz unnötig zu machen. |
376 |
Er war kein Jäger oder Fallensteller, aber er wusste, dass er keine Fährte zurücklassen dürfe, und hatte auch zuweilen gehört, wie man es machen müsse, um eine Spur zu verwischen. Indem er in die Büsche eindrang, suchte er sich solche Stellen aus, welche keine Fußeindrücke aufnahmen. |
377 |
Kaum war das geschehen, so hörte er die Stimmen der drei Reiter und den Schritt ihrer Pferde. Sie ritten vorüber, ohne zu bemerken, dass die Spur von jetzt an eine nur einfache war. Der Yankee schob die Zweige nach der betreffenden Richtung auseinander; er konnte hinaus auf die Prairie blicken. |
378 |
Die Tramps sahen ihn, und ließen ihre Pferde in Galopp fallen. Jetzt hörte er sie, drehte sich um und blieb erschrocken stehen. Bald hatten sie ihn erreicht; sie sprachen mit ihm; er deutete ostwärts; jedenfalls sagte er ihnen, dass der Yankee in dieser Richtung nach der Farm zurückgekehrt sei. |
379 |
Ein Reiter, welcher ein lediges Pferd neben her führte, kam von rechts her über die Prairie geritten. Er stieß auf die Spur der beiden Tramps und hielt an, um abzusteigen. Nachdem er sich sorgfältig nach allen Richtungen umgeschaut hatte, bückte er sich nieder, um die Spur zu untersuchen. |
380 |
In der Hand hielt er ein Doppelgewehr, dessen Schaft mit vielen silbernen Nägeln beschlagen war. Sein Gesicht, matt hellbraun mit einem leisen Bronzehauch, hatte fast römischen Schnitt, und nur die ein wenig hervorstehenden Backenknochen erinnerten an den Typus der amerikanischen Rasse. |
381 |
Eigentlich war die Nähe eines Roten ganz geeignet, den Yankee, welcher überhaupt nicht zum Helden geboren war, mit Angst zu erfüllen. Aber je länger dieser letztere in das Gesicht des Indianers blickte, um so mehr kam es ihm vor, als ob er sich vor diesem Mann nicht zu fürchten brauche. |
382 |
Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apachen. Meine Hand richtet sich gegen die bösen Menschen, und mein Arm schützt jeden, der ein gutes Gewissen hat. Ich werde nach deiner Wunde sehen; noch notwendiger als das aber ist, zu erfahren, warum die Mörder umgekehrt sind, um euch zu folgen. |
383 |
Er holte die Leiche aus dem Gebüsch und untersuchte die Taschen noch einmal. Der Tote bot einen grässlichen Anblick, nicht etwa zufolge der Kugelwunde, sondern weil man sein Gesicht mit Messern kreuz und quer zerschnitten hatte, so dass es ganz unkenntlich geworden war. |
384 |
Auf der Farm hat mein weißer Bruder zwar Pflege, aber keinen Arzt; in Sheridan aber wird es einen solchen geben. Auch versteht sich Winnetou auf Behandlung der Wunden. Er kann zersplitterte Knochen wieder fest machen und besitzt ein ausgezeichnetes Mittel gegen das Wundfieber. |
385 |
Der Rote holte eine getrocknete Pflanze aus seiner Satteltasche, befeuchtete sie und legte sie auf die Wunde; dann schnitt er zwei Holzschienen zurecht und verband mit Hilfe derselben den Arm so kunstgerecht, wie ein Wundarzt es mit den gegebenen Mitteln auch nicht besser fertig gebracht hätte. |
386 |
Hierauf nahm der Yankee den Hut ab und faltete die Hände. Ob er dabei wirklich betete, war zu bezweifeln. Der Apache blickte ernst in die untergehende Sonne. Es war, als ob sein Auge jenseits des Westens die ewigen Jagdgründe suche. Er war ein Heide, aber er betete ganz gewiss. |
387 |
Sonst gab es keine Unterbrechung, und als die zunehmende Kühle den Morgen verkündete, sagte sich der letztere, dass er recht gut im Stande sei, noch länger im Sattel zu sitzen. Nun graute der Osten, doch waren die Linien des Terrains noch nicht zu erkennen, da ein dicker Nebel auf der Erde lag. |
388 |
Die beiden hatten weder ihn noch sein Pferd gesehen; nur sein dunkler, breitkrempiger Hut, welcher über dem dichten, am Boden hinkriechenden Nebelschwaden hervorragte, war für einen Augenblick sichtbar gewesen. Einige Sekunden später war der Hufschlag schon nicht mehr zu hören. |
389 |
Man sah da Hotels und Salons, in denen in Deutschland nicht der geringste Handwerker hätte wohnen mögen. Auch gab es einige allerliebste hölzerne Wohnungen, deren Konstruktion eine solche war, dass sie zu jeder Zeit abgebrochen und an einem andern Orte wieder zusammengesetzt werden konnten. |
390 |
Ja. Er ist mir während des Rittes in dieser Nacht gekommen und hat sich vervollständigt, als ich hörte, was die Tramps vorher getan haben. Diese Geschöpfe sind keine Krieger, mit denen man ehrenvoll kämpfen kann, sondern räudige Hunde, welche man mit Stöcken erschlagen muss. |
391 |
Wer mutet Euch das zu? Die Tramps müssen nur überzeugt sein, dass sich Geld in dem Zuge befindet. Ihr stellt den Kundschafter als Schreiber an und stellt Euch so, als ob Ihr ihm großes Vertrauen schenktet. Ihr teilt ihm mit, dass hier ein Zug hält, in welchem sich eine große Menge Geldes befindet. |
392 |
Und die Verantwortlichkeit wollte ich auch sehr gern übernehmen, wenn ich nur so leidlich an das Gelingen glauben könnte. Aber es gibt da noch ganz andre Fragen. Wer soll den Zug leiten? Es ist gewiss, dass der Maschinist und der Feuermann von den Tramps erschossen werden. |
393 |
Ein Maschinist wird sich wohl finden, und den Feuermann mache ich. Ich glaube, wenn ich mich dazu erbiete, so beweise ich dadurch, dass keine Gefahr dabei vorhanden ist. Wir werden das Nähere noch besprechen; die Hauptsache ist, dass wir nicht allzu lange zu warten brauchen. |
394 |
Aber das war keine Anstrengung für ihn, denn ein Westmann ist an viel Schwierigeres gewöhnt. Die Zeit verging, wenn auch langsam, aber doch. Unten in den Häusern und Hütten brannten noch die Lichter. Hier oben aber bei der Wohnung des Ingenieurs war alles in tiefes Dunkel gehüllt. |
395 |
Dieser Mann gehört zu meinen Leuten. Es muss etwas Unerwartetes geschehen sein, sonst würde er sich nicht hier sehen lassen. Hoffentlich ist es nichts Allzuschlimmes. Er weiß, dass ich hier sozusagen inkognito bin, und wird also keinen andern als nur Euch nach mir fragen. |
396 |
Vielleicht ist's sogar etwas Gutes, auf alle Fälle aber etwas, was Ihr erfahren musstet. Darum wurde ich ausgewählt, Euch die Nachricht zu bringen. Ich bin scharf geritten und habe mich stets auf der Eisenbahn gehalten, wo die Tramps sich jedenfalls nicht sehen lassen werden. |
397 |
Der Winter kam allzufrüh, und es war eine vollständige Unmöglichkeit, durch den Massenschnee von dort herüber nach dem Silbersee zu kommen. Jedenfalls waren sie um den Alten in großer Sorge. Sie wussten ihn allein und mussten überzeugt sein, dass er in dieser Einsamkeit zu Grunde gehen müsse. |
398 |
Ich schätze, dass es geraten ist, mich kurz zu fassen, und will nur sagen, dass wir drei den ganzen Winter miteinander verlebten. Zu hungern brauchten wir nicht; es gab Wild genug; aber die Kälte hatte den Alten zu sehr angegriffen, und als die ersten lauen Lüfte wehten, mussten wir ihn begraben. |
399 |
Er hatte uns lieb gewonnen und teilte uns, um sich uns dankbar zu erweisen, das Geheimnis vom Schatze des Silbersees mit. Er besaß ein uraltes Lederstück, auf welchem sich eine genaue Zeichnung der betreffenden Stelle befand, und erlaubte uns, eine Kopie davon zu machen. |
400 |
Unsre Waffen aber behielten sie, ein Umstand, den wir ihnen nicht danken konnten, da wir ohne Waffen allen Fährlichkeiten, sogar dem Hungertode preisgegeben waren. Glücklicher oder vielmehr unglücklicherweise trafen wir am dritten Tage auf einen Jäger, von welchem wir Fleisch erhielten. |
401 |
Freilich hat uns unsre Schweigsamkeit nichts genützt. Da nur er Waffen hatte, so ging er oft fort, um zu jagen, und dann saßen wir beide beisammen und sprachen fast nur von dem Schatze. Da ist er denn einmal heimlich zurückgekehrt, hat sich hinter uns geschlichen und unser Gespräch belauscht. |
402 |
Als er darauf wieder nach Fleisch ging, forderte er mich auf, mitzugehen, da vier Augen mehr sehen als zwei. Nach einer Stunde, als wir uns weit genug von Engel entfernt hatten, sagte er mir, dass er alles gehört habe und uns zur Strafe für unser Misstrauen die Zeichnung abnehmen werde. |
403 |
Und eine solche Stelle gab es gar nicht weit entfernt vom Hause des Ingenieurs. Man hatte in das Terrain schneiden müssen, und so stieg hart am Geleise eine Böschung auf, deren Höhe einige Bäume trug. Von dort oben herunter gab es den besten Überblick, und die Bäume gewährten die nötige Deckung. |
404 |
Der kühne Jäger näherte sich ihnen so weit, dass er mit dem Kopfe den Stamm des Baumes, neben welchem sie saßen, berührte. Er hätte beide mit der Hand ergreifen können. Er konnte sich so nahe an sie wagen, weil sein grauer Anzug selbst für das schärfste Auge nicht vom Boden zu unterscheiden war. |
405 |
Eine so große Zahl ist ihm für seine weiteren Pläne nur hinderlich. Und ich gebe ihm da ganz recht. Je mehr Personen wir sind, desto kleiner ist der Gewinn, der auf den einzelnen fällt. Ich denke, dass er sich die Besten auswählt und mit ihnen ganz plötzlich verschwinden wird. |
406 |
Dass die Tramps das nun Folgende beobachten würden, war gar nicht möglich, da dieselben jedenfalls schon aufgebrochen waren. Der Fluss zwang sie, sich bei ihrem Ritte in einer solchen Entfernung von der Bahn zu halten, dass sie gar nicht gewahren konnten, was auf derselben geschah. |
407 |
Er wendete sich nach der Mündung desselben und schwamm eine kleine Strecke aufwärts, bis er ein Gestrüpp erblickte, welches seine dichten Zweige, die durch hängengebliebenes Spülgras für das Auge noch undurchdringlicher geworden waren, vom Ufer aus bis ins Wasser niederhing. |
408 |
Von seinen Schultern hing der mit Federn geschmückte Kriegsmantel auf den Rücken des Pferdes nieder; aber der Kopf trug nicht mehr den Schmuck der Adlerschwingen. Er war besiegt worden und wollte diese Auszeichnung erst wieder anlegen, wenn er seine Rache befriedigt hatte. |
409 |
Man ritt immer am Wasser aufwärts. Dieses hatte im Frühjahre während des Hochwassers an den Ufern gefressen. Losgerissene Steine und Stämme lagen überall, und man kam infolgedessen nur sehr langsam vorwärts, besonders da die Sänfte nur schwer über solche Hindernisse zu bringen war. |
410 |
Als man dann die Lehne des Berges hinter sich hatte, wurde es besser. Die größte Steigung war überwunden, und je weniger Fall das Wasser hatte, desto weniger zerstört war die Umgebung des Baches. Was die Fährte betrifft, welcher man folgte, so konnte dieselbe gar nicht deutlicher sein. |
411 |
Einige Male näherte man sich dem Apachen so, dass man ihn zu sehen bekam. Seine Haltung war eine sehr unbesorgte. Er wusste, dass die Utahs ihre Aufmerksamkeit wohl schwerlich hinter sich richteten. Zehn Uhr war es gewesen, als Old Firehand mit seinen Leuten vom See aufgebrochen war. |
412 |
Wenn ihr euch gut anschleicht, so muss es euch gelingen, sie zu umschlingen und zu binden, bevor sie recht erwachen. Nehmt genug Riemen mit! Jetzt komm; ich werde wählen, wer dich begleiten soll. Die Zurückbleibenden werden sich grämen; aber sie sollen dafür die vordersten an den Marterpfählen sein. |
413 |
Diese hatten sich in Anbetracht ihrer numerischen Überlegenheit nicht mit Schießgewehren, sondern nur mit den Messern bewaffnet. Es galt, die Weißen so zu überrumpeln und zusammenzudrücken, dass es zu gar keinem Kampfe kommen konnte. Nun wurde der Weitermarsch zu Fuße angetreten, ein Weg von drei englischen Meilen. |
414 |
Plötzlich legten sich zwei Hände um seinen Hals und vier andre ergriffen ihn an den Armen und Beinen. Er konnte nicht atmen, die Besinnung schwand ihm, und als er wieder zu sich kam, war er gefesselt und in dem Munde steckte ein Knebel, welcher ihn am Schreien verhinderte. |
415 |
Neben ihm saß ein Indianer, welcher ihm die Spitze seines Messers auf die Brust gesetzt hielt. Das erkannte er, obgleich der Schein des Mondes nicht herunter auf die Sohle des Canons drang. Inzwischen war das Feuer verlöscht, und der Häuptling hatte abermals zwei Krieger zu sich beordert. |
416 |
Diese beiden von Osten nach Westen gehenden Nebenthäler bildeten mit dem Hauptcanon und dem Walde ein Rechteck, dessen innere Fläche aus dem hohen, stundenlangen Felsenblocke bestand, in welchen die Gewässer sich ihre senkrechten und mehrere hundert Fuß tiefen Wege eingefressen hatten. |
417 |
Droll sagte sich natürlich, dass dieselben nicht an einer dunkeln Stelle zu suchen seien. Sicher, wenn auch langsam, aber doch stetig kamen sie näher, was freilich nicht ohne alle Gefahr bewerkstelligt werden konnte. Es kam einigemale vor, dass ein Roter ganz nahe an ihnen vorüberhuschte. |
418 |
Später aber hörte dieses Hin- und Herlaufen auf. Diejenigen, welche den Totengesang übernommen hatten, hockten um die Leiche, und die andern hatten sich ausgestreckt, um eine Stunde zu schlafen. So gelangten die beiden bis hinter die Wachen, welche den Platz der Gefangenen umstanden. |
419 |
Das geschah so schnell, dass es finster war, ehe die Wächter den Vorgang recht begriffen. Sie stießen ihre Warnungsrufe zu spät aus, denn schon drangen die Gefangenen durch den Wald dem See entgegen. Old Shatterhand war allen voran; hinter ihm kamen Winnetou und Firehand. |
420 |
Da hörten sie zwar den Ruf der Wächter, aber zugleich sahen sie die Gestalten der Befreiten auf sich zukommen - einige Sekunden später waren sie zu Boden geworfen, entwaffnet und gebunden. Die Weißen griffen nach ihren in der Nähe liegenden Gewehren, ungefragt, ob jeder sein eigenes erwische. |
421 |
Als die Wächter nun unter den letzten Bäumen erschienen, sahen sie ihre Anführer am Boden liegen, und daneben knieten einige Weiße mit gezückten Messern, augenblicklich bereit, die Häuptlinge zu erstechen. Hinter dieser Gruppe standen die andern mit angelegten Gewehren. |
422 |
Vielleicht hatten sie geglaubt, unbemerkt eindringen und dann die von den Feuern beschienenen Feinde schnell niederschießen zu können. Als das nicht gelungen war, hatte ihre Tapferkeit ihnen nicht gestattet, zurückzuweichen; sie waren dennoch vorgedrungen und kämpften nun mit viel Verlust. |
423 |
In der Mitte des Sees lag eine grüne Insel mit einem seltsamen Luftziegelbau. Er schien aus der Zeit zu stammen, in welcher die jetzigen Indianer noch die Urbewohner nicht verdrängt hatten. Auf dem Grasstreifen standen mehrere Hütten, in deren Nähe einige Kanoes am Ufer angebunden waren. |
424 |
Die Festlichkeit währte bis zum frühen Morgen. Die aufgehende Sonne sah zu, als die Helden des Friedensschlusses sich in ihre Decken wickelten, um einzuschlafen. Was die Zeichnung betrifft, welche der rote Cornel gehabt hatte, so war sie verschwunden, sie wäre nun auch gegenstandslos gewesen. |
425 |
Wenn ich mir vorstellen könnte, dass alle an der Psychologie Interessierten diese Schrift lesen werden, so wäre ich auch darauf vorbereitet, dass schon an dieser Stelle ein Teil der Leser haltmacht und nicht weiter mitgeht, denn hier ist das erste Schibboleth der Psychoanalyse. |
426 |
Wenn also, um zu unserem Argument zurückzukehren, dies der Weg ist, wie etwas an sich Unbewusstes vorbewusst wird, so ist die Frage, wie machen wir etwas Verdrängtes (vor)bewusst, zu beantworten: indem wir solche vbw Mittelglieder durch die analytische Arbeit herstellen. |
427 |
Streben wir nach graphischer Darstellung, so werden wir hinzufügen, das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System W dessen Oberfläche bildet, also etwa so wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. |
428 |
Auf die Entstehung des Ichs und seine Absonderung vom Es scheint noch ein anderes Moment als der Einfluss des Systems W hingewirkt zu haben. Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. |
429 |
Uranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums sind Objektbesetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden. Späterhin kann man nur annehmen, dass die Objektbesetzungen vom Es ausgehen, welches die erotischen Strebungen als Bedürfnisse empfindet. |
430 |
Auch eine Gleichzeitigkeit von Objektbesetzung und Identifizierung, also eine Charakterveränderung, ehe das Objekt aufgegeben worden ist, kommt in Betracht. In diesem Fall könnte die Charakterveränderung die Objektbeziehung überleben und sie in gewissem Sinne konservieren. |
431 |
Ein anderer Gesichtspunkt besagt, dass diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl in eine Ichveränderung auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen zu ihm vertiefen kann, allerdings auf Kosten einer weitgehenden Gefügigkeit gegen dessen Erlebnisse. |
432 |
Es scheint, als ob die in der Identifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Ödipuskomplexes. |
433 |
Der Ausgang der Ödipussituation in Vater- oder in Mutteridentifizierung scheint also bei beiden Geschlechtern von der relativen Stärke der beiden Geschlechtsanlagen abzuhängen. Dies ist die eine Art, wie sich die Bisexualität in die Schicksale des Ödipuskomplexes einmengt. |
434 |
Mit der Erwähnung der Phylogenese tauchen aber neue Probleme auf, vor deren Beantwortung man zaghaft zurückweichen möchte. Aber es hilft wohl nichts, man muss den Versuch wagen, auch wenn man fürchtet, dass er die Unzulänglichkeit unserer ganzen Bemühung bloßstellen wird. |
435 |
Wir sagten bereits, wenn unsere Gliederung des seelischen Wesens in ein Es, ein Ich und ein Über-Ich einen Fortschritt in unserer Einsicht bedeutet, so muss sie sich auch als Mittel zum tieferen Verständnis und zur besseren Beschreibung der dynamischen Beziehungen im Seelenleben erweisen. |
436 |
Die Möglichkeit, das Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subjekt sich wenigstens ohne Widerspruch zu denken, bewies die Kritik der reinen Vernunft, indem sie die Einwürfe dawider durch Aufdeckung des dialektischen Scheins in denselben vernichtete. |
437 |
Es gibt also ein unbegrenztes, aber auch unzugängliches Feld für unser gesamtes Erkenntnisvermögen, nämlich das Feld des Übersinnlichen, worin wir keinen Boden für uns finden, also auf demselben weder für die Verstandes- noch Vernunftbegriffe ein Gebiet zum theoretischen Erkenntnis haben können. |
438 |
Was aber nicht in die Einteilung der Philosophie kommen kann, das kann doch, als ein Hauptteil, in die Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt kommen, wenn es nämlich Prinzipien enthält, die für sich weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauche tauglich sind. |
439 |
Hierzu kommt aber noch (nach der Analogie zu urteilen) ein neuer Grund, die Urteilskraft mit einer anderen Ordnung unserer Vorstellungskräfte in Verknüpfung zu bringen, welche von noch größerer Wichtigkeit zu sein scheint, als die der Verwandtschaft mit der Familie der Erkenntnisvermögen. |
440 |
Alle Veränderung hat ihre Ursache (allgemeines Naturgesetz); die transzendentale Urteilskraft hat nun nichts weiter zu tun, als die Bedingung der Subsumtion unter dem vorgelegten Verstandesbegriff a priori anzugeben: und das ist die Sukzession der Bestimmungen eines und desselben Dinges. |
441 |
Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist insofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen. |
442 |
Als nun endlich der Landgraf ledig wurde, sollte er auf des Kaisers Geheiß, sobald er nach Hessen zurückkehren würde, diesen hartnäckigen Heinz von Lüder unter dem Ziegenhainer Tore in Ketten aufhängen lassen, und zu dem Ende wurde ein kaiserlicher Abgeordneter als Augenzeuge mitgegeben. |
443 |
Die hier gebotenen, mühselig genug zutage geförderten Brocken von Erkenntnis mögen an sich wenig befriedigend wirken, aber die Arbeit anderer Untersucher mag an sie anschließen, und der gemeinsamen Bemühung kann die Leistung gelingen, die für den einzelnen vielleicht zu schwer ist. |
444 |
Hier habe er keine solche Gelegenheit, verkehre selten und in unregelmäßigen Intervallen. Vor Prostituierten empfinde er Ekel. Sein Sexualleben sei überhaupt kümmerlich gewesen, Onanie habe nur eine geringe Rolle gespielt, im 16. oder 17. Jahre. Seine Potenz sei normal; erster Koitus mit 26 Jahren. |
445 |
Er habe sonst nichts von meinen Schriften gelesen, aber vor kurzem beim Blättern in einem Buche von mir die Aufklärung sonderbarer Wortverknüpfungen gefunden, die ihn so sehr an seine eigenen "Denkarbeiten" mit seinen Ideen gemahnt hätten, dass er beschlossen habe, sich mir anzuvertrauen. |
446 |
Dieser Student wurde später sein Hauslehrer und änderte dann plötzlich sein Benehmen, indem er ihn zum Trottel herabsetzte. Er merkte endlich, dass jener sich für eine seiner Schwestern interessierte und sich mit ihm nur eingelassen habe, um Zutritt ins Haus zu gewinnen. |
447 |
Lina tröstete mich und erzählte mir, dass ein Mädchen, welches etwas Derartiges mit einem ihr anvertrauten Buben gemacht hatte, für mehrere Monate eingesperrt worden sei. Ich glaube nicht, dass sie etwas Unrechtes mit mir angestellt hat, aber ich nahm mir viel Freiheiten gegen sie heraus. |
448 |
Wenn ich zu ihr ins Bett kam, deckte ich sie auf und rührte sie an, was sie sich ruhig gefallen ließ. Sie war nicht sehr intelligent und offenbar geschlechtlich sehr bedürftig. 23 Jahre alt, hatte sie schon ein Kind gehabt, dessen Vater sie später heiratete, so dass sie heute Frau Hofrat heißt. |
449 |
Gedanken an den Tod des Vaters haben mich frühzeitig und durch lange Zeit beschäftigt und sehr traurig gestimmt. Ich vernehme bei dieser Gelegenheit mit Erstaunen, dass sein Vater, um den sich doch seine heutigen Zwangsbefürchtungen kümmern, schon vor mehreren Jahren gestorben ist. |
450 |
Eine vollständige Zwangsneurose, der kein wesentliches Element mehr abgeht, zugleich der Kern und das Vorbild des späteren Leidens, der Elementarorganismus gleichsam, dessen Studium allein uns das Verhältnis der komplizierten Organisation der heutigen Erkrankung vermitteln kann. |
451 |
Er ist absolut typisch, wenn auch wahrscheinlich nicht der einzig mögliche Typus. Noch ein Wort über die sexuellen Früherlebnisse des Patienten, ehe wir zum Inhalte der zweiten Sitzung übergehen. Man wird sich kaum sträuben, sie als besonders reichhaltig und wirkungsvoll zu bezeichnen. |
452 |
Der Charakter der vorzeitigen sexuellen Aktivität wird im Gegensatze zur Hysterie hier niemals vermisst. Die Zwangsneurose lässt viel deutlicher als die Hysterie erkennen, dass die Momente, welche die Psychoneurose formen, nicht im aktuellen, sondern im infantilen Sexualleben zu suchen sind. |
453 |
Hier unterbricht er sich, steht auf und bittet mich, ihm die Schilderung der Details zu erlassen. Ich versichere ihm, dass ich selbst gar keine Neigung zur Grausamkeit habe, ihn gewiss nicht gerne quälen wolle, dass ich ihm natürlich aber nichts schenken könne, worüber ich keine Verfügung habe. |
454 |
Ich werde mich nicht verwundern, wenn das Verständnis der Leser an dieser Stelle versagt, denn auch die ausführliche Darstellung, die mir der Patient von den äußeren Vorgängen dieser Tage und seiner Reaktionen auf sie gab, litt an inneren Widersprüchen und klang heillos verworren. |
455 |
Ich erspare mir die Wiedergabe dieser Details, von denen wir das Wesentliche bald nachholen können, und bemerke noch, dass er sich am Ende dieser zweiten Sitzung wie betäubt und verworren benahm. Erst bei einer dritten Erzählung gelang es, ihn zur Einsicht in diese Unklarheiten zu bringen. |
456 |
Erst bei einer dritten Erzählung gelang es, ihn zur Einsicht in diese Unklarheiten zu bringen. Ich erspare mir die Wiedergabe dieser Details, von denen wir das Wesentliche bald nachholen können, und bemerke noch, dass er sich am Ende dieser zweiten Sitzung wie betäubt und verworren benahm. |
457 |
Ich erhielt von ihm in dieser Stunde nur noch die Aufklärung, dass er von Anfang an, auch bei allen früheren Befürchtungen, dass seinen Lieben etwas geschehen werde, diese Strafen nicht allein in die Zeitlichkeit, sondern auch in die Ewigkeit, ins Jenseits verlegt habe. |
458 |
Der grausame Hauptmann beging einen Irrtum, als er bei der Einhändigung des Pakets mahnte, die Kronen 3.80 dem A. zurückzugeben. Unser Patient musste wissen, dass dies ein Irrtum sei. Trotzdem leistete er den auf diesen Irrtum gegründeten Schwur, der ihm zur Qual werden musste. |
459 |
1361 Ihr als Leiter der Internationalen Assoziation müsst einen festen Standpunkt in dieser überragenden Frage haben. Ich für meinen Teil habe es daher für meine Pflicht gehalten, ausführlich auf die Sache einzugehen – selbst auf die Gefahr hin, eure Geduld auf eine harte Probe zu stellen. |
460 |
Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine, und deine goldene Krone, die mag ich nicht; aber wenn du mich lieb haben willst und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, in deinem Bettlein schlafen. |
461 |
Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert; hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. |
462 |
Dann schliefen sie ein, und am anderen Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf, und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. |
463 |
Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hinten auf und war voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Weges gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. |
464 |
Später sagten sie, nicht nur meine Schwester, auch ich als Bruder werde angeklagt werden. Ich nickte lächelnd. Alle blickten wir zum Hofe zurück, wie man eine ferne Rauchwolke beobachtet und auf die Flamme wartet. Und wirklich, bald sahen wir Reiter ins weit offene Hoftor einreiten. |
465 |
Staub erhob sich, verhüllte alles, nur die Spitzen der hohen Lanzen blinkten. Und kaum war die Truppe im Hof verschwunden, schien sie gleich die Pferde gewendet zu haben und war auf dem Wege zu uns. Ich drängte meine Schwester fort, ich werde alles allein ins Reine bringen. |
466 |
Schon waren die Reiter bei uns, noch von den Pferden herab fragten sie nach meiner Schwester. Sie ist augenblicklich nicht hier, wurde ängstlich geantwortet, werde aber später kommen. Die Antwort wurde fast gleichgültig aufgenommen; wichtig schien vor allem, dass sie mich gefunden hatten. |
467 |
Es waren hauptsächlich zwei Herren, der Richter, ein junger, lebhafter Mann, und sein stiller Gehilfe. Ich wurde aufgefordert in die Bauernstube einzutreten. Langsam, den Kopf wiegend, an den Hosenträgern rückend, setzte ich mich unter den scharfen Blicken der Herren in Gang. |
468 |
Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. |
469 |
Von der Bahre war das Tuch zurückgeschlagen. Es lag dort ein Mann mit wild durcheinandergewachsenem Haar und Bart, gebräunter Haut, etwa einem Jäger gleichend. Er lag bewegungslos, scheinbar atemlos mit geschlossenen Augen da, trotzdem deutete nur die Umgebung an, dass es vielleicht ein Toter war. |
470 |
Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, dass ich auf der Erde blieb und dass mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. |
471 |
Hier liege ich seit damals, als ich, noch lebendiger Jäger Gracchus, zu Hause im Schwarzwald eine Gemse verfolgte und abstürzte. Alles ging der Ordnung nach. Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen. |
472 |
Ich hatte gern gelebt und war gern gestorben, glücklich warf ich, ehe ich den Bord betrat, das Lumpenpack der Büchse, der Tasche, des Jagdgewehrs vor mir hinunter, das ich immer stolz getragen hatte, und in das Totenhemd schlüpfte ich wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid. |
473 |
Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen; wäre als Aufgabe gesetzt mir zu helfen, so blieben alle Türen aller Häuser geschlossen, alle Fenster geschlossen, alle liegen in den Betten, die Decken über den Kopf geschlagen, eine nächtliche Herberge die ganze Erde. |
474 |
Manchmal trat einer vor und durchquerte die Fahrbahn. Ein kleines Mädchen hielt in den vorgestreckten Händen ein müdes Hündchen. Zwei Herren machten einander Mitteilungen. Der eine hielt die Hände mit der innern Fläche nach oben und bewegte sie gleichmäßig, als halte er eine Last in Schwebe. |
475 |
Man arbeitet so übertrieben im Amt, dass man dann sogar zu müde ist, um seine Ferien gut zu genießen. Aber durch alle Arbeit erlangt man noch keinen Anspruch darauf, von allen mit Liebe behandelt zu werden, vielmehr ist man allein, gänzlich fremd und nur Gegenstand der Neugierde. |
476 |
Zwar bin ich vorsichtig gekleidet, aber ich werde mich selbst Leuten anschließen müssen, die spät am Abend spazieren. Es sind dort Teiche, man wird entlang der Teiche spazierengehen. Da werde ich mich sicher erkälten. Dagegen werde ich mich bei den Gesprächen wenig hervortun. |
477 |
Er sprang oft hoch, so dass das Wasser viel spritzte und Vorübergehende ihn sehr tadelten. Da rief ihn die Dame und hielt ihn fortan mit der Hand; doch weinte er nicht. Raban erschrak da. War es nicht schon spät? Da er Überzieher und Rock offen trug, griff er rasch nach seiner Uhr. |
478 |
Er sah dabei auf den Hut eines kleinen Mädchens nieder, der, aus rotgefärbtem Stroh geflochten, auf dem gewellten Rande ein grünes Kränzchen trug. Noch hatte er es in der Erinnerung, als er schon auf der Straße war, die ein wenig in der Richtung anstieg, in die er gehen wollte. |
479 |
Da schien es Raban, er werde auch noch die lange schlimme Zeit der nächsten vierzehn Tage überstehen. Denn es sind nur vierzehn Tage, also eine begrenzte Zeit, und wenn auch die Ärgernisse immer größer werden, so vermindert sich doch die Zeit, während welcher man sie ertragen muss. |
480 |
Kutscher und Spaziergänger sind schüchtern und jeden Schritt, den sie vorwärts wollen, erbitten sie von mir, indem sie mich ansehen. Ich ermuntere sie, sie finden kein Hindernis. Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich. |
481 |
Ich werde viel darauf achten müssen. Und ihr Mund ist so breit und die Unterlippe ragt ohne Zweifel hier vor, ja, ich erinnere mich jetzt auch daran. Und das Kleid! Natürlich, ich verstehe nichts von Kleidern, aber diese ganz knapp genähten Ärmel sind sicher hässlich, wie ein Verband sehn sie aus. |
482 |
Raban, der den Koffer unter dem Arm hielt, wurde vom Trottoir hinuntergezogen und trat stark in eine unsichtbare Pfütze. Im Wagen kniete auf der Bank ein Kind und drückte die Fingerspitzen beider Hände an die Lippen, als nähme es Abschied von jemandem, der jetzt davonging. |
483 |
Die Unsicherheit beider Deutungen aber lässt wohl mit Recht darauf schließen, dass keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. |
484 |
Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. |
485 |
Nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. |
486 |
Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloss ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. |
487 |
Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen. |
488 |
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Russland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden. |
489 |
Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und hätte er es jetzt nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt. |
490 |
So geschah es Georg, dass er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann. |
491 |
Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien. |
492 |
Es war das aber lediglich eine Formalität, eingeführt zur Beruhigung der Massen, denn die Eingeweihten wussten wohl, dass der Hungerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das geringste nur gegessen hätte; die Ehre seiner Kunst verbot dies. |
493 |
Nichts war dem Hungerkünstler quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten. |
494 |
Er verschwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn günstigenfalls für bescheiden, meist aber für reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehen. |
495 |
Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen. |
496 |
Natürlich hatte das in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. |
497 |
Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrückten. |
498 |
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. |
499 |
Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein. Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. |
500 |
Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen. Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts. Dem Bösen kann man nicht in Raten zahlen – und versucht es unaufhörlich. |
501 |
Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist. Die Tatsache, dass es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewissheit. Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts. |
502 |
Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben. Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen. |
503 |
Hat es beim einzelnen Menschen doch diesen Anschein – und den hat es vielleicht immer –, so erklärt sich dies dadurch, dass jemand im Menschen etwas verlangt, was diesem Jemand zwar nützt, aber einem zweiten Jemand, der halb zur Beurteilung des Falles herangezogen wird, schwer schadet. |
504 |
Zu diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhen wollenden Menschen. Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen. |
505 |
Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob du dich nicht irgendwo außerhalb deines Kreises versteckt hältst. Das Böse ist manchmal in der Hand wie ein Werkzeug, erkannt oder unerkannt lässt es sich, wenn man den Willen hat, ohne Widerspruch zur Seite legen. |
506 |
Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht, wenn alles ringsherum still ist, so hört man zum Beispiel das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels. |
507 |
Ist hier wärmer als unten auf der winterlichen Erde? Weiß ragt es rings, mein Kübel das einzig Dunkle. War ich früher hoch, bin ich jetzt tief, der Blick zu den Bergen renkt mir den Hals aus. Weißgefrorene Eisfläche, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer. |
508 |
Auf dem hohen, keinen Zoll breit einsinkenden Schnee, folge ich der Fußspur der kleinen arktischen Hunde. Mein Reiten hat den Sinn verloren, ich bin abgestiegen und trage den Kübel auf der Achsel. Meinen innigsten Dank für das Beethovenbuch. Den Schopenhauer beginne ich heute. |
509 |
Möchten Sie doch mit Ihrer allerzartesten Hand, mit Ihrem allerstärksten Blick für die wahrhafte Realität, mit dem gezügelten und mächtigen Grundfeuer Ihres dichterischen Wesens, mit Ihrem phantastisch weiten Wissen noch weiter solche Denkmäler aufrichten – zu meiner unaussprechlichen Freude. |
510 |
Ich langte nur in den Gang und zog den Mann vorsichtig an seinem Seidengürtel zu mir herein. Es war offenbar ein Gelehrter, klein, schwach, mit Hornbrille, schütterem grauschwarzem steifem Ziegenbart. Ein freundliches Männchen, hielt den Kopf geneigt und lächelte mit halbgeschlossenen Augen. |
511 |
Heute beginnt die große Verhandlung im Prozess meines Bruders Bucephalus gegen die Firma Trollhätta. Ich führe die Klage, und da die Verhandlung zumindest einige Tage dauern wird, und zwar ohne eigentliche Unterbrechung, werde ich in den nächsten Tagen überhaupt nicht nach Hause kommen. |
512 |
Sie denken vielleicht nach, wie es möglich ist, ein solches Gebäude in diesem fürchterlichen Winter genügend zu heizen. Es wird nicht geheizt. In einem solchen Fall gleich an die Heizung denken, das kann man nur in dem niedlichen Landstädtchen, in dem Sie Ihr Leben verbringen. |
513 |
Das Trocadero wird nicht geheizt, aber dadurch wird der Fortgang des Prozesses nicht gehindert, im Gegenteil, mitten in dieser von allen Seiten herauf und herab strahlenden Kälte wird in ganz ebenbürtigem Tempo kreuz und quer, der Länge und der Breite nach, prozessiert. |
514 |
Es tut mir von Herzen leid, dass du dich nach mir verzehrst. Oft schon sah ich aufrichtig traurig in dein abgehärmtes Gesicht, wenn du im Hof standst und zu meinem Fenster aufblicktest. Nun, ich bin dir nicht ungünstig gesinnt und hast du auch mein Herz noch nicht, so kannst du es doch erobern. |
515 |
Ein Irrtum. Es war nicht meine Türe oben auf dem langen Gang, die ich geöffnet hatte. "Ein Irrtum", sagte ich und wollte wieder hinausgehen. Da sah ich den Inwohner, einen mageren bartlosen Mann, mit festgeschlossenem Munde an einem Tischchen sitzen, auf dem nur eine Petroleumlampe stand. |
516 |
Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzichten und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig, und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. |
517 |
Der Schneider hat für sich, die Frau und sechs Kinder nur ein Zimmer, das gleichzeitig Küche ist. Überdies aber hat er noch einen Mieter bei sich, einen Schreiber von der Steuerbehörde. Dieser Zimmerbelag geht doch ein wenig über das Übliche hinaus, das ja in unserem Hause schon arg genug ist. |
518 |
Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehen sollte, erstanden hatte. |
519 |
Schon ist sie in die äußerste linke Ecke des Tisches gedrängt, und an ihr regelmäßig auf und nieder schwingend wie ein Maschinenkolben die Rechte. Stattdessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken und ich unehrlicher Schiedsrichter nicke dazu. |
520 |
Endlich gelang es unsern Truppen, beim Südtor in die Stadt einzubrechen. Meine Abteilung lagerte in einem Vorstadtgarten unter halb verbrannten Kirschbäumen und wartete auf Befehle. Als wir aber den hohen Ton der Trompeten vom Südtor hörten, konnte uns nichts mehr halten. |
521 |
Oder vielmehr etwas Untröstliches ohne den Hauch des Trostes? Ein Ausweg läge darin, dass das Erkennen als solches Trost ist. Man könnte also wohl denken: Du musst dich beseitigen, und könnte sich doch ohne Fälschung dieser Erkenntnis aufrechterhalten, am Bewusstsein, es erkannt zu haben. |
522 |
Psychologie ist die Beschreibung der Spiegelung der irdischen Welt in der himmlischen Fläche oder richtiger: Die Beschreibung einer Spiegelung, wie wir, Vollgesogene der Erde, sie uns denken, denn eine Spiegelung erfolgt gar nicht, nur wir sehen Erde, wohin wir uns auch wenden. |
523 |
Vor Ekel sträubt sich dann der Fluss, nimmt eine rückläufige Strömung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glücklich, singen Danklieder und streicheln den Empörten. Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen. |
524 |
Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B – undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet. |
525 |
Verschiedenheit der Anschauungen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschauung des kleinen Jungen, der den Hals strecken muss, um noch knapp den Apfel auf der Tischplatte zu sehen, und die Anschauung des Hausherrn, der den Apfel nimmt und frei dem Tischgenossen reicht. |
526 |
Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. |
527 |
Das Glück begreifen, dass der Boden, auf dem du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken. Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet? Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. |
528 |
Muss ich aber solche Kreise um mich ziehen, dann tue ich es besser untätig im bloßen Anstaunen des ungeheuerlichen Komplexes und nehme nur die Stärkung, die e contrario dieser Anblick gibt, mit nach Hause. Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. |
529 |
Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen. |
530 |
Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher gehts – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt. Die verschiedenen Formen der Hoffnungslosigkeit auf den verschiedenen Stationen des Wegs. |
531 |
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott. |
532 |
Der Himmel ist stumm, nur dem Stummen Widerhall. Es bedurfte der Vermittlung der Schlange: das Böse kann den Menschen verfuhren, aber nicht Mensch werden. Bett, Verstopfung, Rückenschmerz, gereizter Abend, Katze im Zimmer, Zerworfenheit. Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt. |
533 |
Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg. Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung. |
534 |
Nicht wesentlich enttäuscht. Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben. Der Lehrer hat die wahre, der Schüler die fortwährende Zweifellosigkeit. |
535 |
Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne dass dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann. |
536 |
Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite: Zerstörung des Paradieses, die dritte – und diese wäre die schrecklichste Strafe gewesen –: Absperrung des ewigen Lebens und unveränderte Belassung alles andern. |
537 |
Ein Kampf, in dem auf keine Weise und in keinem Stadium Rückendeckung zu bekommen ist. Und trotzdem man es weiß, vergisst man es immer wieder. Und selbst wenn man es nicht vergisst, sucht man doch die Deckung, nur um sich beim Suchen auszuruhen, und trotzdem man weiß, dass es sich rächt. |
538 |
Die Welt kann nur von der Stelle aus für gut angesehen werden, von der aus sie geschaffen wurde, denn nur dort wurde gesagt: Und siehe, sie war gut – und nur von dort aus kann sie verurteilt und zerstört werden. Immer bereit, sein Haus ist tragbar, er lebt immer in seiner Heimat. |
539 |
Du willst also die Welt bekämpfen, und zwar mit Waffen, die wirklicher sind als Hoffnung und Glaube. Solche Waffen gibt es wahrscheinlich, aber sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen erkennbar und brauchbar; ich will zuerst sehn, ob du diese Voraussetzungen hast. |
540 |
Der Ausgleich wäre allerdings möglich, dass die Zerlegung nur eine solche in der Zeit ist, also nur eine zwar in jedem Augenblick, tatsächlich sich aber gar nicht vollziehende Zerlegung. Es kann ein Wissen vom Teuflischen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teuflisches, als da ist, gibt es nicht. |
541 |
Dein Wille ist frei, heißt: er war frei, als er die Wüste wollte, er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, er ist frei, da er die Gangart wählen kann, er ist aber auch unfrei, da du durch die Wüste gehen musst, unfrei, da jeder Weg labyrinthisch jedes Fußbreit Wüste berührt. |
542 |
Ein Mensch hat freien Willen, und zwar dreierlei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jetzt kann er es allerdings nicht mehr rückgängig machen, denn er ist nicht mehr jener, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen damaligen Willen ausführt, indem er lebt. |
543 |
23. Februar. Ungeschriebener Brief. Die Frau, noch schärfer ausgedrückt vielleicht, die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst. Das Verführungsmittel dieser Welt sowie das Zeichen der Bürgschaft dafür, dass diese Welt nur ein Übergang ist, ist das gleiche. |
544 |
Das Grausamste des Todes: ein scheinbares Ende verursacht einen wirklichen Schmerz. Die Klage am Sterbebett ist eigentlich die Klage darüber, dass hier nicht im wahren Sinn gestorben worden ist. Noch immer müssen wir uns mit diesem Sterben begnügen, noch immer spielen wir das Spiel. |
545 |
Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. |
546 |
Abraham ist in folgender Täuschung begriffen: Die Einförmigkeit dieser Welt kann er nicht ertragen. Nun ist aber die Welt bekanntlich ungemein mannigfaltig, was jederzeit nachzuprüfen ist, indem man eine Handvoll Welt nimmt und näher ansieht. Das weiß natürlich auch Abraham. |
547 |
Neben seiner Beweisführung geht eine Bezauberung mit. Einer Beweisführung kann man in die Zauberwelt ausweichen, einer Bezauberung in die Logik, aber beide gleichzeitig erdrücken, zumal sie etwas Drittes sind, lebender Zauber oder nicht zerstörende, sondern aufbauende Zerstörung der Welt. |
548 |
Nur durch Arbeit den Lebensunterhalt erwerben. Vor keiner Arbeit sich scheuen, zu welcher die Kräfte ohne Schädigung der Gesundheit hinreichen. Entweder selbst die Arbeit wählen, oder, falls dies nicht möglich, sich der Anordnung des Arbeitsrates fugen, welcher sich der Regierung unterstellt. |
549 |
Rechte: Maximalarbeitszeit sechs Stunden, für körperliche Arbeit vier bis fünf. Bei Krankheit und im unfähigen Alter Aufnahme in staatliche Altersheime, Krankenhäuser. Das Arbeitsleben als eine Angelegenheit des Gewissens und eine Angelegenheit des Glaubens an den Mitmenschen. |
550 |
Der Lehrer, der auch teilnahm, tritt schon aus der Gruppe und übernimmt des kleinen Grafen Unterricht. Mit einem Stecken schiebt er alles vom Tisch hinunter, was dort war, zieht ihn mit der Fläche nach vorn als Tafel in die Höhe und schreibt darauf mit einer Kreide die Ziffer. |
551 |
Auch das habe ich erwartet. Auch sie wird man gegen die Wand werfen müssen. Was immer es auch sei, was mich zwischen den zwei Mühlsteinen, die mich sonst zerreiben, hervorzieht, empfinde ich, vorausgesetzt, dass es nicht allzu großen körperlichen Schmerz mit sich bringt, als Wohltat. |
552 |
Sein Programm war ein wenig einförmig, aber infolge der Zweifellosigkeit der Leistung immer wieder anziehend. An die Vorstellung, in der ich ihn zum ersten Male sah, erinnere ich mich, trotzdem es schon zwanzig Jahre her ist und ich damals ein ganz kleiner Junge war, natürlich noch ganz genau. |
553 |
Das Wohl der Leute, glaube mir, liegt uns mehr am Herzen als das Wohl des Werkes. Warum auch nicht? Das Werk kann immer wieder neu errichtet werden, es kostet nur Geld, zum Teufel mit dem Geld, geht aber ein Mensch zugrunde, so geht eben ein Mensch zugrunde, es bleibt die Witwe, die Kinder. |
554 |
Es wird schwere Arbeit sein. Ich beginne damit, dass ich dich bitte, dich zusammenzuringeln. Zusammenringeln sagte ich und du streckst dich. Verstehst du mich denn nicht? Du verstehst mich nicht. Ich rede doch sehr verständlich: Zusammenringeln! Nein, du fasst es nicht. |
555 |
Von dieser Treppe aber war nichts zu lesen. Das mag sein, antwortete ich mir selbst, du wirst eben ungenau gelesen haben. Oft warst du zerstreut, hast Absätze ausgelassen, hast dich sogar mit Überschriften begnügt, vielleicht war dort die Treppe erwähnt und es entging dir so. |
556 |
Es war einer, der seine Frau ermordet hatte, zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt worden war und nun das dreiundzwanzigste Gefängnisjahr hinter sich hatte. Der Fürst wollte ihn sehn, man führte ihn in die Zelle, vorsichtshalber war der Gefangene für diesen Tag in Ketten gelegt worden. |
557 |
Als ich abends nach Hause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein übergroßes Ei. Es war fast so hoch wie der Tisch und entsprechend ausgebaucht. Leise schwankte es hin und her. Ich war sehr neugierig, nahm das Ei zwischen die Beine und schnitt es vorsichtig mit dem Taschenmesser entzwei. |
558 |
Der Quälgeist wohnt im Walde. In einer längst verlassenen Hütte aus alten Köhlerzeiten. Tritt man ein, merkt man nur einen unaustreibbaren Modergeruch, sonst nichts. Kleiner als die kleinste Maus, unsichtbar selbst einem nahegebrachten Auge, drückt sich der Quälgeist in einen Winkel. |
559 |
Zerrissener Traum. Die Laune eines früheren Fürsten verfügte, das Mausoleum müsse unmittelbar bei den Sarkophagen einen Wächter haben. Vernünftige Männer hatten sich dagegen ausgesprochen, schließlich ließ man den sonst vielfach beengten Fürsten in dieser Kleinigkeit gewähren. |
560 |
Vor einer Mauer lag ich am Boden, wand mich vor Schmerz, wollte mich einwühlen in die feuchte Erde. Der Jäger stand neben mir und drückte mir einen Fuß leicht ins Kreuz. "Ein kapitales Stück", sagte er zum Treiber, der mir den Kragen und Rock durchschnitt, um mich zu befühlen. |
561 |
Die Fahrt ging flott, verdurstend mit offenem Mund sog ich den hochgewirbelten Staub in mich, hie und da spürte ich den freudigen Griff des Herrn an meinen Waden. Was trag ich auf meinen Schultern? Es war ein stürmischer Abend, ich sah den kleinen Geist aus dem Gebüsche kriechen. |
562 |
Die Räuber hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns. Öde Felder, öde Fläche, hinter Nebeln das bleiche Grün des Mondes. Er verlässt das Haus, er findet sich auf der Straße, ein Pferd wartet, ein Diener hält den Bügel, der Ritt geht durch hallende Öde. |
563 |
Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. |
564 |
Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, daß er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiß hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. |
565 |
Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. |
566 |
Daß die Veränderung der Stimme nichts anderes war als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheit der Reisenden, daran zweifelte er nicht im geringsten. Die Decke abzuwerfen war ganz einfach; er brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fiel von selbst. |
567 |
Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil er so ungemein breit war. Er hätte Arme und Hände gebraucht, um sich aufzurichten; statt dessen aber hatte er nur die vielen Beinchen, die ununterbrochen in der verschiedensten Bewegung waren und die er überdies nicht beherrschen konnte. |
568 |
Der Rücken schien hart zu sein; dem würde wohl bei dem Fall auf den Teppich nichts geschehen. Das größte Bedenken machte ihm die Rücksicht auf den lauten Krach, den es geben müßte und der wahrscheinlich hinter allen Türen wenn nicht Schrecken, so doch Besorgnisse erregen würde. |
569 |
Es ist schon eine Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt. Da hat er zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen geschnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt drin im Zimmer; Sie werden ihn gleich sehen, wenn Gregor aufmacht. |
570 |
Das waren doch vorläufig wohl unnötige Sorgen. Noch war Gregor hier und dachte nicht im geringsten daran, seine Familie zu verlassen. Augenblicklich lag er wohl da auf dem Teppich, und niemand, der seinen Zustand gekannt hätte, hätte im Ernst von ihm verlangt, daß er den Prokuristen hereinlasse. |
571 |
Aber wegen dieser kleinen Unhöflichkeit, für die sich ja später leicht eine passende Ausrede finden würde, konnte Gregor doch nicht gut sofort weggeschickt werden. Und Gregor schien es, daß es viel vernünftiger wäre, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, statt ihn mit Weinen und Zureden zu stören. |
572 |
Nur einen kleinen Augenblick Geduld! Es geht noch nicht so gut, wie ich dachte. Es ist mir aber schon wohl. Wie das nur einen Menschen so überfallen kann! Noch gestern abend war mir ganz gut, meine Eltern wissen es ja, oder besser, schon gestern abend hatte ich eine kleine Vorahnung. |
573 |
Für alle die Vorwürfe, die Sie mir jetzt machen, ist ja kein Grund; man hat mir ja davon auch kein Wort gesagt. Sie haben vielleicht die letzten Aufträge, die ich geschickt habe, nicht gelesen. Übrigens, noch mit dem Achtuhrzug fahre ich auf die Reise, die paar Stunden Ruhe haben mich gekräftigt. |
574 |
Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, daß es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. |
575 |
Die Zuversicht und Sicherheit, womit die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen. |
576 |
Da er die Türe auf diese Weise öffnen mußte, war sie eigentlich schon recht weit geöffnet, und er selbst noch nicht zu sehen. Er mußte sich erst langsam um den einen Türflügel herumdrehen, und zwar sehr vorsichtig, wenn er nicht gerade vor dem Eintritt ins Zimmer plump auf den Rücken fallen wollte. |
577 |
Ich bin ja dem Herrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. |
578 |
Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Überzeugung gebildet, daß Gregor in diesem Geschäft für sein Leben versorgt war, und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, daß ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war. |
579 |
Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiß hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen; sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet. |
580 |
Wenn sich Gregor nur hätte umdrehen dürfen, er wäre gleich in seinem Zimmer gewesen, aber er fürchtete sich, den Vater durch die zeitraubende Umdrehung ungeduldig zu machen, und jeden Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der tödliche Schlag auf den Rücken oder auf den Kopf. |
581 |
Vielleicht merkte der Vater seinen guten Willen, denn er störte ihn hierbei nicht, sondern dirigierte sogar hie und da die Drehbewegung von der Ferne mit der Spitze seines Stockes. Wenn nur nicht dieses unerträgliche Zischen des Vaters gewesen wäre! Gregor verlor darüber ganz den Kopf. |
582 |
Er war schon fast ganz umgedreht, als er sich, immer auf dieses Zischen horchend, sogar irrte und sich wieder ein Stück zurückdrehte. Als er aber endlich glücklich mit dem Kopf vor der Türöffnung war, zeigte es sich, daß sein Körper zu breit war, um ohne weiteres durchzukommen. |
583 |
Langsam schob er sich, noch ungeschickt mit seinen Fühlern tastend, die er jetzt erst schätzen lernte, zur Türe hin, um nachzusehen, was dort geschehen war. Seine linke Seite schien eine einzige lange, unangenehm spannende Narbe, und er mußte auf seinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. |
584 |
Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte sah, das Gas angezündet, aber während sonst zu dieser Tageszeit der Vater seine nachmittags erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der Schwester mit erhobener Stimme vorzulesen pflegte, hörte man jetzt keinen Laut. |
585 |
Und aus Zartgefühl, da sie wußte, daß Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit nur Gregor merken könne, daß er es sich so behaglich machen dürfe, wie er wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt zum Essen ging. |
586 |
Seine Wunden mußten übrigens auch schon vollständig geheilt sein, er fühlte keine Behinderung mehr, er staunte darüber und dachte daran, wie er vor mehr als einem Monat sich mit dem Messer ganz wenig in den Finger geschnitten, und wie ihm diese Wunde noch vorgestern genug wehgetan hatte. |
587 |
Rasch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte er den Käse, das Gemüse und die Sauce; die frischen Speisen dagegen schmeckten ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und schleppte sogar die Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg. |
588 |
Er war schon längst mit allem fertig und lag nur noch faul auf der gleichen Stelle, als die Schwester zum Zeichen, daß er sich zurückziehen solle, langsam den Schlüssel umdrehte. Das schreckte ihn sofort auf, trotzdem er schon fast schlummerte, und er eilte wieder unter das Kanapee. |
589 |
Gewiß wollten auch sie nicht, daß Gregor verhungere, aber vielleicht hätten sie es nicht ertragen können, von seinem Essen mehr als durch Hörensagen zu erfahren, vielleicht wollte die Schwester ihnen auch eine möglicherweise nur kleine Trauer ersparen, denn tatsächlich litten sie ja gerade genug. |
590 |
Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig gegen die Tür schlagen, hielt ihn aber sofort wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch, das er damit verursacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle verstummen lassen. |
591 |
Eigentlich hätte er ja mit diesen überschüssigen Geldern die Schuld des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen haben können, und jener Tag, an dem er diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit näher gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet hatte. |
592 |
Oder er scheute nicht die große Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die Fensterbrüstung hinaufzukriechen und, in den Sessel gestemmt, sich ans Fenster zu lehnen, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. |
593 |
Er erkannte daraus, daß ihr sein Anblick noch immer unerträglich war und ihr auch weiterhin unerträglich bleiben müsse, und daß sie sich wohl sehr überwinden mußte, vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie seines Körpers nicht davonzulaufen, mit der er unter dem Kanapee hervorragte. |
594 |
Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes Leintuch aus. |
595 |
Gregor hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem Platze rückten, und wie die Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche fürchtete, daß sie sich überanstrengen werde. |
596 |
Er warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden seines langen Uniformrockes zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem Gesicht auf Gregor zu. |
597 |
Ein ihm sofort nachfliegender drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte sich weiterschleppen, als könne der überraschende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechsel vergehen; doch fühlte er sich wie festgenagelt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne. |
598 |
Der Haushalt wurde immer mehr eingeschränkt; das Dienstmädchen wurde nun doch entlassen; eine riesige knochige Bedienerin mit weißem, den Kopf umflatterndem Haar kam des Morgens und des Abends, um die schwerste Arbeit zu leisten; alles andere besorgte die Mutter neben ihrer vielen Näharbeit. |
599 |
Schmutzstreifen zogen sich die Wände entlang, hie und da lagen Knäuel von Staub und Unrat. In der ersten Zeit stellte sich Gregor bei der Ankunft der Schwester in derartige besonders bezeichnende Winkel, um ihr durch diese Stellung gewissermaßen einen Vorwurf zu machen. |
600 |
Aber selbst wenn die Schwester, erschöpft von ihrer Berufsarbeit, dessen überdrüssig geworden war, für Gregor, wie früher, zu sorgen, so hätte noch keineswegs die Mutter für sie eintreten müssen und Gregor hätte doch nicht vernachlässigt zu werden brauchen. Denn nun war die Bedienerin da. |
601 |
Die Bedienerin aber, statt sich zu fürchten, hob bloß einen in der Nähe der Tür befindlichen Stuhl hoch empor, und wie sie mit groß geöffnetem Munde dastand, war ihre Absicht klar, den Mund erst zu schließen, wenn der Sessel in ihrer Hand auf Gregors Rücken niederschlagen würde. |
602 |
Unnützen oder gar schmutzigen Kram ertrugen sie nicht. Überdies hatten sie zum größten Teil ihre eigenen Einrichtungsstücke mitgebracht. Aus diesem Grunde waren viele Dinge überflüssig geworden, die zwar nicht verkäuflich waren, die man aber auch nicht wegwerfen wollte. |
603 |
Ebenso auch die Aschenkiste und die Abfallkiste aus der Küche. Was nur im Augenblick unbrauchbar war, schleuderte die Bedienerin, die es immer sehr eilig hatte, einfach in Gregors Zimmer; Gregor sah glücklicherweise meist nur den betreffenden Gegenstand und die Hand, die ihn hielt. |
604 |
Sonderbar schien es Gregor, daß man aus allen mannigfachen Geräuschen des Essens immer wieder ihre kauenden Zähne heraushörte, als ob damit Gregor gezeigt werden sollte, daß man Zähne brauche, um zu essen, und daß man auch mit den schönsten zahnlosen Kiefern nichts ausrichten könne. |
605 |
Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung. Er war entschlossen, bis zur Schwester vorzudringen, sie am Rock zu zupfen und ihr dadurch anzudeuten, sie möge doch mit ihrer Violine in sein Zimmer kommen, denn niemand lohnte hier das Spiel so, wie er es lohnen wollte. |
606 |
Der Vater schien wieder von seinem Eigensinn derartig ergriffen, daß er jeden Respekt vergaß, den er seinen Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon in der Tür des Zimmers der mittlere der Herren donnernd mit dem Fuß aufstampfte und dadurch den Vater zum Stehen brachte. |
607 |
Der Vater schien durch die Worte der Schwester auf bestimmtere Gedanken gebracht zu sein, hatte sich aufrecht gesetzt, spielte mit seiner Dienermütze zwischen den Tellern, die noch vom Nachtmahl der Zimmerherren her auf dem Tische standen, und sah bisweilen auf den stillen Gregor hin. |
608 |
Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. |
609 |
Er hatte bloß angefangen sich umzudrehen, um in sein Zimmer zurückzuwandern, und das nahm sich allerdings auffallend aus, da er infolge seines leidenden Zustandes bei den schwierigen Umdrehungen mit seinem Kopfe nachhelfen mußte, den er hierbei viele Male hob und gegen den Boden schlug. |
610 |
Nun sahen ihn alle schweigend und traurig an. Die Mutter lag, die Beine ausgestreckt und aneinandergedrückt, in ihrem Sessel, die Augen fielen ihr vor Ermattung fast zu; der Vater und die Schwester saßen nebeneinander, die Schwester hatte ihre Hand um des Vaters Hals gelegt. |
611 |
Als er die Umdrehung vollendet hatte, fing er sofort an, geradeaus zurückzuwandern. Er staunte über die große Entfernung, die ihn von seinem Zimmer trennte, und begriff gar nicht, wie er bei seiner Schwäche vor kurzer Zeit den gleichen Weg, fast ohne es zu merken, zurückgelegt hatte. |
612 |
Erst als er schon in der Tür war, wendete er den Kopf, nicht, vollständig, denn er fühlte den Hals steif werden, immerhin sah er noch, daß sich hinter ihm nichts verändert hatte, nur die Schwester war aufgestanden. Sein letzter Blick streifte die Mutter, die nun völlig eingeschlafen war. |
613 |
Er machte bald die Entdeckung, daß er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, daß er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich. |
614 |
Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen. Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die ganz von weichem Staub bedeckt war, spürte er schon kaum. |
615 |
An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. |
616 |
Diese aber legte den Finger an den Mund und winkte dann hastig und schweigend den Herren zu, sie möchten in Gregors Zimmer kommen. Sie kamen auch und standen dann, die Hände in den Taschen ihrer etwas abgenützten Röckchen, in dem nun schon ganz hellen Zimmer um Gregors Leiche herum. |
617 |
Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. |
618 |
Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Pflege, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. |
619 |
Er lachte vor Vergnügen, sich über den Katechismus mokieren zu können, und hatte wahrscheinlich nur zu diesem Zwecke das kleine Examen vorgenommen. Er erkundigte sich nach Tonys Acker und Vieh, fragte, wieviel sie für den Sack Weizen nähme und erbot sich, Geschäfte mit ihr zu machen. |
620 |
Sein rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht, dem er beim besten Willen keinen Ausdruck von Bosheit zu geben vermochte, wurde von schneeweiß gepudertem Haar eingerahmt, und etwas wie ein ganz leise angedeutetes Zöpflein fiel auf den breiten Kragen seines mausgrauen Rockes hinab. |
621 |
Sie war eine korpulente Dame mit dicken, weißen Locken über den Ohren, einem schwarz und hellgrau gestreiften Kleide ohne Schmuck, das Einfachheit und Bescheidenheit verriet, und mit noch immer schönen und weißen Händen, in denen sie einen kleinen, sammetnen Pompadour auf dem Schoße hielt. |
622 |
Er trug einen zimmetfarbenen Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des Gelenkes eng um die Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem weißen, waschbaren Stoff und waren an den Außenseiten mit schwarzen Streifen versehen. |
623 |
Denn es war frühzeitig kalt geworden. Draußen, jenseits der Straße, war schon jetzt, um die Mitte des Oktober, das Laub der kleinen Linden vergilbt, die den Marienkirchhof umstanden, um die mächtigen gotischen Ecken und Winkel der Kirche pfiff der Wind, und ein feiner, kalter Regen ging hernieder. |
624 |
Herr Buddenbrook aber war böse auf diese Weisheit, er verlangte durchaus zu wissen, wer dem Kinde diese Stupidität beigebracht habe, und als sich ergab, Ida Jungmann, die kürzlich für die Kleinen engagierte Mamsell aus Marienwerder, sei es gewesen, mußte der Konsul diese Ida in Schutz nehmen. |
625 |
An seiner Sammetweste blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen. Justus, sein Sohn, mit kleinem Backenbart und spitz emporgedrehtem Schnurrbart, ähnelte, was Figur und Benehmen anbetraf, stark seinem Vater; auch über die nämlichen runden und eleganten Handbewegungen verfügte er. |
626 |
Man war bald bei den Geschäften und verfiel unwillkürlich mehr und mehr dabei in den Dialekt, in diese behaglich schwerfällige Ausdrucksweise, die kaufmännische Kürze sowohl wie wohlhabende Nachlässigkeit an sich zu haben schien, und die hie und da mit gutmütiger Selbstironie übertrieben wurde. |
627 |
Kaum aber war aus dieser unscheinbaren Hülle der goldgelbe, traubensüße alte Malvasier in die kleinen Dessertweingläser geflossen, als der Augenblick gekommen war, da Pastor Wunderlich sich erhob und, während das Gespräch verstummte, das Glas in der Hand, in angenehmen Wendungen zu toasten begann. |
628 |
Und Johann Buddenbrook dankte für alle die freundlichen Worte, als Oberhaupt der Familie zum ersten und als älterer Chef des Handelshauses zum zweiten – und schickte Thomas nach einer dritten Bouteille Malvasier, denn die Berechnung hatte sich als falsch erwiesen, daß zwei genügen würden. |
629 |
Auch Lebrecht Kröger sprach. Er erlaubte sich, sitzen zu bleiben dabei, weil das einen noch kulanteren Eindruck machte, und nur aufs gefälligste mit Kopf und Händen zu gestikulieren, während er seinen Trinkspruch den beiden Damen des Hauses, Mme. Antoinette und der Konsulin, gelten ließ. |
630 |
Lebrecht Kröger saß noch genau so aufrecht an seinem Platze, wie zu Beginn der Mahlzeit, Pastor Wunderlich blieb weiß und formgewandt, der alte Buddenbrook hatte sich zwar ein bißchen zurückgelegt, wahrte aber den feinsten Anstand, und nur Justus Kröger war ersichtlich ein wenig betrunken. |
631 |
Sie verließ schnell hinter dem Folgmädchen, das Butter, Käse und Früchte serviert hatte, den Saal – und wahrhaftig, dort im Halbdunkel, auf der runden Polsterbank, die sich um die mittlere Säule zog, saß, lag oder kauerte der kleine Christian und ächzte leise und herzbrechend. |
632 |
Er hatte, so jung er war, die Hand manches wackeren Bürgers in der seinen gehalten, der seine letzte Keule Rauchfleisch, seinen letzten gefüllten Puter verzehrt hatte und, sei es plötzlich und überrascht in seinem Kontorsessel oder nach einigem Leiden in seinem soliden alten Bett, sich Gott befahl. |
633 |
Aber man stieg zur Rechten die reinlich gehaltene Treppe ins erste Stockwerk hinauf, woselbst der Konsul seinen Gästen die weiße Türe zum Billardsaale öffnete. Herr Köppen warf sich erschöpft auf einen der steifen Stühle, die an den Wänden des weiten, kahl und streng aussehenden Raumes standen. |
634 |
Pastor Wunderlich aber war an ein Fenster getreten und kicherte, der Bewegung seiner Schultern nach zu urteilen, still vor sich hin. Man blieb noch eine gute Weile beisammen, hier hinten im Billardsaal, denn Hoffstede hatte noch mehr Scherze ähnlicher Art in Bereitschaft. |
635 |
Der Konsul aber geleitete die Gäste die Treppe hinunter über die Diele und bis vor die Haustür auf die Straße hinaus. Ein scharfer Wind trieb den Regen seitwärts herunter, und die alten Krögers krochen, in dicke Pelzmäntel gewickelt, eiligst in ihre majestätische Equipage, die schon lange wartete. |
636 |
Nun, dasselbe schlug nieder und die Bodenseite auf den Knaben, mit solchem Knall und solcher Gewalt, daß die Nachbarn vor die Türe kamen und ihrer sechs genug zu tun hatten, es wieder aufzurichten. Sein Kopf ward gequetscht, und das Blut rann heftig über alle seine Gliedmaßen. |
637 |
Der Kirchturm droben, auf dem mattfarbigen Gemälde, das über dem Sekretär hing und einen altertümlichen Marktplatz darstellte, besaß eine wirkliche Uhr, die nun auf ihre Weise zehn schlug. Der Konsul verschloß die Familienmappe und verwahrte sie sorgfältig in einem hinteren Fache des Sekretärs. |
638 |
Tony blieb ein bißchen stehen, um auf ihre Nachbarin Julchen Hagenström zu warten, mit der sie den Schulweg zurückzulegen pflegte. Dies war ein Kind mit etwas zu hohen Schultern und großen, blanken, schwarzen Augen, das nebenan in der völlig von Weinlaub bewachsenen Villa wohnte. |
639 |
Er schien es darauf abgesehen zu haben, den Angehörigen der alteingesessenen Familien bei jeder Gelegenheit zu opponieren, ihre Meinungen auf schlaue Weise zu widerlegen, die seine dagegen durchzusetzen und sich als weit tüchtiger und unentbehrlicher zu erweisen als sie. |
640 |
Herr Stuht hatte den jungen Herren Buddenbrook zwei Anzüge gefertigt, die zusammen siebenzig Kurantmark kosteten; allein auf den Wunsch der beiden hatte er sich bereit finden lassen, schlanker Hand achtzig auf die Rechnung zu setzen und ihnen bar den Rest einzuhändigen. |
641 |
Man sitzt bei Tische, man ist beim Obste angelangt und speist unter behaglichen Gesprächen. Plötzlich jedoch legt Christian einen angebissenen Pfirsich auf den Teller zurück, sein Gesicht ist bleich, und seine runden, tiefliegenden Augen über der allzu großen Nase haben sich erweitert. |
642 |
Thomas war sechzehnjährig, als er die Schule verließ. Er war stark gewachsen in letzter Zeit und trug seit seiner Konfirmation, bei der Pastor Kölling ihm mit starken Ausdrücken Mäßigkeit! empfohlen hatte, ganz herrenmäßige Kleidung, die ihn noch größer erscheinen ließ. |
643 |
Sein seitwärts gescheiteltes Haar, das in zwei Einbuchtungen von den schmalen und auffällig geäderten Schläfen zurücktrat, war dunkelblond, und im Gegensatz dazu erschienen die langen Wimpern und die Brauen, von denen er gern die eine ein wenig emporzog, ungewöhnlich hell und farblos. |
644 |
Sie beugte sich über eine Seidenstickerei und bewegte leichthin die Lippen, während sie mit der Nadel eine Reihe von Stichen zählte. Neben ihr, auf dem zierlichen Nähtisch mit Goldornamenten, brannten die sechs Kerzen eines Armleuchters; der Kronleuchter hing unbenutzt. |
645 |
Dann aber erwies es sich, daß Mademoiselle Tony aus jenen alten, hohlen Bäumen, gleich hinter dem Burgtore, die nur lückenhaft mit Mörtelmasse gefüllt waren, kleine Korrespondenzen abholte oder daselbst zurückließ, die von ebendemselben Gymnasiasten herrührten oder an ihn gerichtet waren. |
646 |
Sie sprach mit lebhafter und stoßweiser Bewegung des Unterkiefers und einem schnellen, eindringlichen Kopfschütteln, exakt und dialektfrei, klar, bestimmt und mit sorgfältiger Betonung jedes Konsonanten. Den Klang der Vokale aber übertrieb sie sogar in einer Weise, daß sie z. |
647 |
Therese Weichbrodt war ein belesenes, ja beinahe gelehrtes Mädchen und hatte sich ihren Kinderglauben, ihre positive Religiosität und die Zuversicht, dort drüben einst für ihr schwieriges und glanzloses Leben entschädigt zu werden, in ernstlichen kleinen Kämpfen bewahren müssen. |
648 |
Außer der kleinen Klara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in übergewaltigen Mengen gab ... Hier ist zu erwähnen, daß Tony Buddenbrook in diesen Jahren zwei mecklenburgische Güter besuchte. |
649 |
Der Himmel, an dem unbeweglich ein paar weiße Wolken standen, begann langsam blasser zu werden. Das Stadtgärtchen lag mit symmetrisch angelegten Wegen und Beeten bunt und reinlich in der Nachmittagssonne. Der Duft der Reseden, die die Beete umsäumten, kam dann und wann durch die Luft daher. |
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Christian konnte seine Bewegungen und Sprache nun noch besser nachahmen, und Tony sagte mit finsteren Brauen gute Nacht, denn sie ahnte undeutlich, daß sie diesen Herrn, der sich mit so ungewöhnlicher Schnelligkeit die Herzen ihrer Eltern erobert hatte, nicht zum letztenmal gesehen habe. |
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Tony kam um neun Uhr herunter und war erstaunt, ihren Vater noch neben der Konsulin am Kaffeetische zu finden. Nachdem sie sich die Stirn hatte küssen lassen, setzte sie sich frisch, hungrig und mit schlafroten Augen an ihren Platz, nahm Zucker und Butter und bediente sich mit grünem Kräuterkäse. |
652 |
Tony fuhr entsetzt auf ihrem Stuhle empor und machte eine Bewegung, als wollte sie in den Eßsaal entfliehen ... Wie war es möglich, noch mit einem Herrn zu sprechen, der um ihre Hand angehalten hatte? Das Herz pochte ihr bis in den Hals hinauf, und sie war sehr bleich geworden. |
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So standen sie sich während eines Augenblicks gegenüber; er in aufrichtig erzürnter und gebietender Haltung, Tony blaß, verweint und zitternd, das feuchte Taschentuch am Munde. Endlich wandte er sich ab und durchmaß, die Hände auf dem Rücken, zweimal das Zimmer, als sei er hier zu Hause. |
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War es möglich, daß sie dies erlebte? In Romanen las man dergleichen, und nun lag im gewöhnlichen Leben ein Herr im Gehrock vor ihr auf den Knien und flehte!... Ihr war der Gedanke, ihn zu heiraten, einfach unsinnig erschienen, weil sie Herrn Grünlich albern gefunden hatte. |
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Nicht als ob der Segen fehlte, behüte, nein, treue Arbeit wird redlich belohnt. Die Geschäfte gehen ruhig ... ach, allzu ruhig, und auch das nur, weil ich mit äußerster Vorsicht zu Werke gehe. Wir sind nicht vorwärts gekommen, nicht wesentlich, seit Vater abgerufen wurde. |
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Sie ging schweigsam umher, sie lachte nicht mehr genug, sie verlor geradezu den Appetit und seufzte manchmal so herzbrechend, als ringe sie mit einem Entschlusse, um dann die Ihren kläglich anzusehen ... Man mußte Mitleid mit ihr haben. Sie magerte wahrhaftig ab und büßte an Frische ein. |
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Sein Vater ist auf einem Norwegenfahrer geboren und nachher Kapitän auf dieser Linie gewesen. Diederich hat einen guten Bildungsgang gemacht; die Lotsenkommandantur ist eine verantwortliche und ziemlich gut bezahlte Stellung. Er ist ein alter Seebär ... aber immer galant mit den Damen. |
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Lotsenkommandeur Schwarzkopf stand vor seiner Tür und nahm beim Herannahen der Kalesche die Schiffermütze ab. Es war ein untersetzter, breiter Mann mit rotem Gesicht, wasserblauen Augen und einem eisgrauen, stacheligen Bart, der fächerförmig von einem Ohr zum anderen lief. |
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Sie trug ein dunkelbraunes Kleid mit einem kleinen weißgehäkelten Kragen und ebensolchen Manschetten. Sie war sauber, sanft und freundlich und empfahl eifrig ihr selbstgebackenes Korinthenbrot, das, umgeben von Rahm, Zucker, Butter und Scheibenhonig, in dem bootförmigen Brotkorb lag. |
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Sein beginnender Schnurrbart, so farblos wie das kurzgeschnittene Haar, das seinen länglichen Kopf bedeckte, war kaum zu sehen; und dem entsprach ein außerordentlich heller Teint, eine Haut wie poröses Porzellan, die bei der geringsten Gelegenheit hellrot anlaufen konnte. |
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Sie setzte sich empor, und indem sie die Arme um ihre Knie schlang und den zerzausten Kopf zurücklegte, blinzelte sie in den schmalen und blendenden Streifen vom Tageslicht, der zwischen den geschlossenen Läden hindurch ins Zimmer fiel, und kramte mit Muße die gestrigen Erlebnisse wieder hervor. |
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Nachher will ich baden, dachte Tony, aber vorher ordentlich frühstücken, damit der Stoffwechsel nicht an mir zehrt ... Und damit machte sie sich lächelnd und mit raschen, vergnügten Bewegungen ans Waschen und Ankleiden. Es war kurz nach halb 10 Uhr, als sie die Stube verließ. |
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Das schien der charakteristische Geruch des kleinen Hauses zu sein, und er nahm zu, als Tony die mit einem schlichten, undurchbrochenen Holzgeländer versehene Treppe hinunterstieg und drunten über den Korridor ging, an dem Wohn- und Eßzimmer und das Büro des Lotsenkommandeurs lagen. |
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Frisch und in bester Laune betrat sie in ihrem weißen Pikeekleide die Veranda. Frau Schwarzkopf saß mit ihrem Sohne allein am Kaffeetische, der schon teilweise abgeräumt war. Sie trug eine blaukarierte Küchenschürze über ihrem braunen Kleid. Ein Schlüsselkorb stand vor ihr. |
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Aber nun wünsche ich guten Appetit und einen vergnügten Vormittag. Mamsell wird sicher mancherlei Bekannte am Strande treffen ... Wenn es angenehm ist, begleitet mein Sohn Sie hin. Um Verzeihung, daß ich nicht länger Gesellschaft leiste, aber ich muß nach dem Essen sehen. |
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Der Musiktempel, zwischen Nadelbäumen versteckt, stand schweigend dem Kurhaus, der Konditorei und den beiden, durch ein langes Zwischengebäude miteinander verbundenen Schweizerhäusern gegenüber. Es war gegen halb 12 Uhr; die Badegäste mußten sich noch am Strande befinden. |
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Die Sonne brütete auf dem Grase und ließ diesen heißen, würzigen Geruch von Klee und Kraut daraus aufsteigen, in dem blaue Fliegen surrend standen und umherschossen. Ein monotones, gedämpftes Rauschen kam vom Meere her, in dessen Ferne dann und wann kleine Schaumköpfe aufblitzten. |
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Tony und Morten setzten sich in eine der kleinen abgeteilten Kammern, die der See zugewandt waren, und in denen es nach Holz roch wie in den Kabinen der Badeanstalt, auf die schmale, roh gezimmerte Bank im Hintergrunde. Es war sehr still und feierlich hier oben um diese Nachmittagsstunde. |
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Die trübe, zerwühlte See war weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran, neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke Rundung bildeten, und stürzten lärmend über den Sand. |
670 |
Morten hatte ihr einen festgeklopften Sandberg getürmt: daran lehnte sie mit dem Rücken, die Füße in Kreuzbandschuhen und weißen Strümpfen übereinandergelegt, in ihrer weichen grauen Herbstjacke mit großen Knöpfen; Morten, ihr zugewandt, lag, das Kinn in die Hand gestützt, auf der Seite. |
671 |
Dein Schreiben ist mir richtig geworden. Auf seinen Gehalt eingehend, teile ich Dir mit, daß ich pflichtgemäß nicht ermangelt habe, Herrn Gr. über Deine Anschauung der Dinge in geziemender Form zu unterrichten; das Resultat jedoch war derartig, daß es mich aufrichtig erschüttert hat. |
672 |
Vor dem Fenster, an welches unablässig der Regen trommelte, hingen gelbgerauchte Gardinen. Rechterhand von der Tür befand sich ein langer, roher, mit Papieren bedeckter Tisch, über welchem eine große Karte von Europa und eine kleinere der Ostsee an der Wand befestigt war. |
673 |
Diese grauen Giebel waren das Alte, Gewohnte und Überlieferte, das sie wieder aufgenommen und in dem sie nun wieder leben sollte. Sie weinte nicht mehr; sie sah sich neugierig um. Das Abschiedsleid war beinahe betäubt, angesichts dieser Straßen und dieser altbekannten Gesichter darin. |
674 |
Sie lehnte sich aufatmend zurück, und ihr Herz pochte feierlich. Ehrfurcht vor sich selbst erfüllte sie, und das Gefühl persönlicher Wichtigkeit, das ihr vertraut war, durchrieselte sie, verstärkt durch den Geist, den sie soeben hatte auf sich wirken lassen, wie ein Schauer. |
675 |
Im übrigen hatte sie sich mit den Federstrichen, die sie der Familiengeschichte hinzugefügt, die Erlaubnis erworben, mit der Konsulin oder allein in allen Läden der Stadt Kommissionen größeren Stiles zu machen und für ihre Aussteuer, eine vornehme Aussteuer, Sorge zu tragen. |
676 |
Herr Grünlich kehrte bald nach dem Weihnachtsfeste nach Hamburg zurück, denn sein reges Geschäft forderte unerbittlich seine persönliche Gegenwart, und Buddenbrooks stimmten mit ihm stillschweigend darin überein, daß Tony vor der Verlobung Zeit genug gehabt habe, seine Bekanntschaft zu machen. |
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Herr Grünlich wartete in langschößigem Frack und seidener Weste vor der Tür. Sein rosiges Gesicht zeigte einen ernsten und korrekten Ausdruck; auf der Warze an seinem linken Nasenflügel bemerkte man ein wenig Puder, und seine goldgelben Favoris waren mit Sorgfalt frisiert. |
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Drinnen vorm Ladentisch stand im Gespräch mit der jungen Verkäuferin eine kleine, dicke, ältliche Dame in türkischem Umhang. Sie wählte unter einigen Blumentöpfen, prüfte, roch, mäkelte und schwatzte, daß sie beständig genötigt war, sich mit dem Schnupftuch den Mund zu wischen. |
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Sie war wunderbar hübsch. Sie war zart wie eine Gazelle und besaß einen beinahe malaiischen Gesichtstypus: ein wenig hervorstehende Wangenknochen, schmale, schwarze Augen voll eines weichen Schimmers und einen mattgelblichen Teint, wie er weit und breit nicht ähnlich zu finden war. |
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Dann sucht er einen Zwicker hervor (er hat stets drei davon bei sich, an langen Schnüren, die sich beständig auf seiner weißen Weste verwickeln), schlägt ihn sich auf die Nase, die er ganz kraus dabei macht, und sieht mich mit offenem Munde so vergnüglich an, daß ich ihm laut ins Gesicht lache. |
681 |
Sollte er eifersüchtig sein? Unsere Villa, die ich Dir schon eingehend beschrieb, liebe Mama, ist wirklich sehr hübsch und hat sich durch neuerliche Möbelanschaffungen noch verschönert. Gegen den Salon im Hochparterre hättest Du nichts einzuwenden: ganz in brauner Seide. |
682 |
Vor einiger Zeit nämlich fühlte ich mich ein bißchen sonderbar, weißt Du, nicht ganz gesund und doch wieder noch anders; bei Gelegenheit sagte ich es dem Doktor Klaaßen. Das ist ein ganz kleiner Mensch mit einem großen Kopf und einem noch größeren geschweiften Hut darauf. |
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Ihr Gatte hatte uns nicht aufgefordert, empfing uns jedoch mit großer Herzlichkeit und widmete sich uns während der zwei Tage, die wir bei ihm verbrachten, so vollständig, daß er sein Geschäft vernachlässigte und mir kaum Zeit zu einer Visite in der Stadt bei Duchamps' ließ. |
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Antonie befand sich im fünften Monat; ihr Arzt versicherte, daß alles in normaler und erfreulicher Weise verlaufen werde. – Noch möchte ich eines Briefes des Herrn van der Kellen erwähnen, dem ich mit Freude entnahm, daß Du auch privatim in seinem Familienkreise ein gern gesehener Gast bist. |
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Zum großen Verdrusse der Konsulin unterhielt sie seit einiger Zeit eine Freundschaft, eine Art von geistigem Bündnis mit einem Schlachtergesellen, und dieser ewig blutige Mensch mußte die Entwicklung ihrer politischen Ansichten in der nachteiligsten Weise beeinflußt haben. |
686 |
Der zarte Teint, der einem rötlichen Haar entspricht, wird in diesen Jahren trotz aller Erfrischungsmittel matt, und das Haar selbst würde unerbittlich zu ergrauen beginnen, wenn man nicht Gott sei Dank das Rezept einer Pariser Tinktur besäße, die das fürs erste verhütete. |
687 |
Auf der Höhe ihrer noch immer kunstvollen Coiffure war eine kleine, von weißen Spitzen umgebene seidene Schleife angebracht: der Beginn, die erste Andeutung einer Haube. Ihr seidener Kleiderrock umgab sie weit und bauschig; ihre glockenförmigen Ärmel waren mit steifem Mull unterlegt. |
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Drittes Kapitel Konsul Buddenbrook durchschritt eilig sein weitläufiges Grundstück. Als er in die Bäckergrube hinaustrat, vernahm er hinter sich Schritte und erblickte den Makler Gosch, welcher, malerisch in seinen langen Mantel gehüllt, gleichfalls die schräge Straße hinauf zur Sitzung strebte. |
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Ihnen gegenüber erhoben sich amphitheatralisch aufsteigend die Sitzreihen, an deren Fuß ein grün gedeckter, mit einer großen Glocke, Aktenstücken und Schreibutensilien geschmückter Tisch für den Wortführer, den Protokollführer und die anwesenden Senatskommissare bestimmt war. |
690 |
An der Wand, die den Türen gegenüberlag, waren mehrere hohe Garderobehalter mit Mänteln und Hüten bedeckt. Stimmengewirr schlug dem Konsul und seinem Begleiter entgegen, als sie hintereinander durch die schmale Tür den Saal betraten. Sie waren ersichtlich die Letzten, die ankamen. |
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An seiner schwarzen Sammetweste blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen ... Unweit dieser Gruppe gewahrte man Hinrich Hagenström, einen untersetzten, beleibten Herrn mit rötlichem, ergrautem Backenbart, einer dicken Uhrkette auf der blau karierten Weste und offenem Leibrock. |
692 |
Man war hier, um festzustellen, ob das ständische Prinzip in der Volksvertretung beizubehalten oder das allgemeine und gleiche Wahlrecht einzuführen sei. Der Senat hatte bereits das letztere beantragt. Was aber wollte das Volk? Es wollte den Herren an den Kragen, das war alles. |
693 |
Niemand wußte, was es wollte. Man durfte es nicht durch einen Beschluß nach irgendeiner Richtung hin vor den Kopf stoßen. Man mußte abwarten und sich nicht regen. Von der Marienkirche schlug es halb fünf ... Man bestärkte einander in dem Entschlusse, geduldig auszuharren. |
694 |
Die eingeschlossenen Herren plauderten miteinander wie Leute, die während eines heftigen Gewitters beisammen sitzen, von anderen Dingen reden und manchmal mit ernsten und respektvollen Gesichtern auf den Donner horchen. Es wurde fünf Uhr, halb sechs Uhr, und die Dämmerung sank. |
695 |
Einige der Umstehenden, die es besser wußten, begannen schwerfällig und herzlich zu lachen, und obgleich die wenigsten die Antwort Corl Smolts verstanden hatten, pflanzte diese Heiterkeit sich fort, bis die ganze Menge der Republikaner in breitem und gutmütigem Gelächter stand. |
696 |
Mit dem Kaffee war es in jedem Fall für heute vorbei ... Nachdem der Konsul mehrere Händedrücke entgegengenommen, die ihn zu seinem Erfolge beglückwünschten, begab er sich ohne Verzug zu seinem Schwiegervater. Lebrecht Kröger schien der einzige zu sein, dessen Stimmung sich nicht verbessert hatte. |
697 |
Matt und kalt blickte er auf das leere Polster ihm gegenüber. In den Straßen ging es lebhafter zu als an einem Sonntagabend. Augenscheinlich herrschte Feststimmung. Das Volk, entzückt über den glücklichen Verlauf der Revolution, zog wohlgelaunt umher. Es wurde sogar gesungen. |
698 |
An der entgegengesetzten Seite gestatteten halb zurückgeschlagene grüne Tuchportieren den Durchblick in den braunseidenen Salon und auf eine hohe Glastür, deren Ritzen mit wattierten Rollen verstopft waren und hinter der eine kleine Terrasse sich in dem weißgrauen, undurchsichtigen Nebel verlor. |
699 |
Seitwärts führte ein dritter Ausgang auf den Korridor. Der schneeweiße gewirkte Damast auf dem runden Tische war von einem grüngestickten Tischläufer durchzogen und bedeckt mit goldgerändertem und so durchsichtigem Porzellan, daß es hie und da wie Perlmutter schimmerte. |
700 |
Unter einer Kristallglocke türmten sich kleine, geriefelte Butterkugeln, unter einer anderen waren verschiedene Arten von Käse, gelber, grünmarmorierter und weißer sichtbar. Es fehlte nicht an einer Flasche Rotwein, welche vor dem Hausherrn stand, denn Herr Grünlich frühstückte warm. |
701 |
Mit frisch frisierten Favoris und einem Gesicht, das um diese Morgenstunde besonders rosig erschien, saß er, den Rücken dem Salon zugewandt, fertig angekleidet, in schwarzem Rock und hellen, großkarierten Beinkleidern, und verspeiste nach englischer Sitte ein leicht gebratenes Kotelett. |
702 |
Ihre Hände, die weißen, ein wenig kurzen, aber feingegliederten Hände der Buddenbrooks, deren zarte Gelenke von den Sammetrevers der Ärmel weich umschlossen wurden, handhabten Messer, Löffel und Tasse mit Bewegungen, die heute aus irgendeinem Grunde ein wenig abrupt und hastig waren. |
703 |
Er war von leicht untersetzter Gestalt und weder dick noch dünn. Er trug einen schwarzen und schon etwas blanken Rock, ebensolche Beinkleider, die eng und kurz waren und eine weiße Weste, auf der sich eine lange dünne Uhrkette mit zwei oder drei Kneiferschnüren kreuzte. |
704 |
Sein Mund war klein, beweglich, drollig und enthielt lediglich im Unterkiefer zwei Zähne. Während Herr Kesselmeyer, die Hände in seinen senkrechten Hosentaschen vergraben, konfus, abwesend und nachdenklich stehenblieb, setzte er diese beiden gelben, kegelförmigen Eckzähne auf die Oberlippe. |
705 |
Die weißen und schwarzen Flaumfedern auf seinem Kopfe flatterten leise, obgleich nicht der geringste Lufthauch fühlbar war. Endlich zog er die Hände hervor, bückte sich, ließ die Unterlippe hängen und befreite mühselig ein Kneiferband aus der allgemeinen Verwicklung auf seiner Brust. |
706 |
Ihr ausgeprägter Familiensinn entfremdete sie nahezu den Begriffen des freien Willens und der Selbstbestimmung und machte, daß sie mit einem beinahe fatalistischen Gleichmut ihre Eigenschaften feststellte und anerkannte ... ohne Unterschied und ohne den Versuch, sie zu korrigieren. |
707 |
Zehn Minuten verstrichen. Tony hatte sich auf einen Augenblick in den Salon begeben, um persönlich mit einem bunten Federbüschel über die glänzende Nußholzplatte des winzigen Sekretärs und die geschweiften Beine des Tisches zu fahren, und ging nun langsam durch das Eßzimmer ins Wohngemach hinüber. |
708 |
Thomas war an einer Lungenblutung erkrankt; durch einen Brief des Herrn van der Kellen war der Vater von dem Unglücksfalle benachrichtigt worden. Er hatte die Geschäfte in den bedächtigen Händen seines Prokuristen zurückgelassen und war auf dem kürzesten Wege nach Amsterdam geeilt. |
709 |
Der Konsul hatte kurz, oberflächlich und schonend seiner Gattin Mitteilung gemacht, hatte kalt und unverbindlich geantwortet, er ersuche Herrn Grünlich in Gemeinschaft mit dem erwähnten Bankier Kesselmeyer um eine Unterredung im Hause des ersteren, und war abgereist. Tony empfing ihn im Salon. |
710 |
Ihre Augen waren voll von einem Ausdruck, wie Kinder ihn annehmen, wenn man beim Märchenvorlesen so taktlos ist, eine allgemeine Betrachtung über Moral und Pflichten einfließen zu lassen ... einem Mischausdruck von Verlegenheit und Ungeduld, Frömmigkeit und Verdrossenheit. |
711 |
War er mit ihrer Antwort zufrieden? Er hatte daheim und unterwegs alles reiflich erwogen ... Jeder Mensch begreift, daß Johann Buddenbrooks erster und aufrichtigster Beschluß dahin ging, eine Auszahlung irgendwelcher Höhe an seinen Schwiegersohn nach Kräften zu vermeiden. |
712 |
Ich habe viel Ärgernis gehabt. Das sind Prüfungen von Gott. Aber das hindert nicht, daß ich mich dir gegenüber nicht ganz ohne Schuld fühlen kann, mein Kind. Alles kommt jetzt auf die Frage an, die ich dir schon vorgelegt habe, die du mir aber noch nicht hinlänglich beantwortet hast. |
713 |
Achtes Kapitel Herrn Grünlichs Gesicht war rot gefleckt, aber er war aufs sorgfältigste gekleidet. Er trug einen ähnlichen schwarzen, faltigen, soliden Leibrock, ähnliche erbsenfarbene Beinkleider, wie diejenigen, in denen er einstmals in der Mengstraße seine ersten Visiten gemacht. |
714 |
In der Mitte des kleinen Zimmers, dessen Tapeten dunkel geblümt waren, stand ein ziemlich umfangreicher, viereckiger, grünbezogener Tisch. Der Regen draußen hatte zugenommen. Es war so finster, daß Herr Grünlich die drei Kerzen, die in silbernen Leuchtern auf der Tafel standen, alsbald entzündete. |
715 |
Dem bedauernswerten Menschen liefen zwei große Tränen die Wangen hinab und in die goldgelben Favoris hinein. Herr Kesselmeyer verfolgte den Weg dieser beiden Tropfen mit dem größten Interesse; er stand sogar ein wenig auf, beugte sich vor und starrte seinem Gegenüber mit offenem Munde ins Gesicht. |
716 |
Er hatte keineswegs seinem wirklichen Gedanken Ausdruck gegeben, über den er grübelte ... Warum, fragte er sich argwöhnisch und dennoch verständnislos, warum dies alles gerade jetzt? B. Grünlich hätte schon vor zwei, vor drei Jahren stehen können, wo er jetzt stand; das übersah man mit einem Blick. |
717 |
War Grünlich selbst denn nichts gewesen? Und die Erkundigungen, die der Konsul eingezogen, die Bücher, die er geprüft hatte?... Mochte es sich damit verhalten, wie es wollte, so stand sein Entschluß, in dieser Sache auch nicht das Glied eines Fingers zu regen, fester als jemals. |
718 |
Was den Konsul selbst anging, so änderte er seine Anschauungsweise nicht und glaubte seiner Tochter mit verdoppelter Liebe ihr schweres Geschick entgelten zu müssen. Johann Buddenbrook war in keiner Weise persönlich gegen seinen betrügerischen Schwiegersohn vorgegangen. |
719 |
Aber das bläuliche, allzu sichtbare Geäder an seinen schmalen Schläfen, von denen das Haar in zwei Einbuchtungen zurücktrat, sowie eine leichte Neigung zum Schüttelfrost, die der gute Doktor Grabow vergebens bekämpfte, deutete an, daß seine Konstitution nicht besonders kräftig war. |
720 |
Sein Bruder Moritz hatte trotz seiner Brustschwächlichkeit ein ungewöhnlich erfolgreiches Studium hinter sich und ließ sich in der Stadt als Rechtsgelehrter nieder. Er galt für einen hellen, schlauen, witzigen, ja sogar schöngeistigen Kopf und zog rasch eine beträchtliche Praxis an sich. |
721 |
Die Tischgebete waren stets im Buddenbrookschen Hause üblich gewesen; jetzt aber bestand seit längerer Zeit das Gesetz, daß sich morgens und abends die Familie gemeinsam mit den Dienstboten im Frühstückszimmer versammelte, um aus dem Munde des Hausherrn einen Bibelabschnitt zu vernehmen. |
722 |
Die Enden ihrer aus Spitzen und steifem Tüll gefertigten Haube, die unterm Kinn mit einer Atlasschleife zusammengefaßt waren, fielen auf die Brust hinab. Ihr glattgescheiteltes Haar war unveränderlich rotblond. Sie hielt einen Pompadour in ihren beiden weißen und zartblau geäderten Händen. |
723 |
Das junge Mädchen hatte die Gewohnheit, bei einer Frage niemals die Stimme zu erheben, und sah mit einem bestimmten und ziemlich strengen Blick jedem einzelnen ins Gesicht. Ihr braunes Kleid war lediglich mit einem kleinen, weißen, gestärkten Fallkragen und ebensolchen Manschetten geschmückt. |
724 |
Thomas, durch Krankheit daran gewöhnt, die Kundgebungen seiner Nerven zu beobachten, hatte sich in dieser seltsamen Sekunde vorgebeugt, eine Handbewegung nach dem Kopfe gemacht und die Zigarette fortgeworfen. Er sah im Kreise umher, ob auch die anderen es gefühlt und beachtet hätten. |
725 |
Er zählte nun ungefähr fünfundfünfzig Jahre und hatte sich zu seinem kleinen Schnurrbart einen starken runden Backenbart wachsen lassen, der das Kinn frei ließ und ganz grau war. Über seine breite und rosige Glatze waren sorgfältig ein paar spärliche Haarstreifen frisiert. |
726 |
Die Konsulin dagegen, ermattet vom Schrecken, vom Schmerz, von tausend Trauerformalitäten und den Begräbnisfeierlichkeiten, sah leidend aus. Ihr Gesicht, von den schwarzen Spitzen der Haubenbänder umrahmt, erschien noch bleicher dadurch, und ihre hellblauen Augen blickten matt. |
727 |
In ihrem glattgescheitelten, rotblonden Haar aber war noch immer kein einziges weißes Fädchen zu sehen ... War auch dies noch die Pariser Tinktur oder schon die Perücke? Das wußte Mamsell Jungmann allein, und sie würde es nicht einmal den Damen des Hauses verraten haben. |
728 |
Onkel Justus, galant wie er war, schritt ihr entgegen und verbeugte sich beinahe, als er ihr die Hand drückte; dann richtete er einige wohlgesetzte Worte an sie, und sie ging wieder, nachdem sie von der Konsulin einen Kuß auf ihre unbeweglichen Lippen entgegengenommen hatte. |
729 |
Er kam, in einem gelben und großkarierten Anzug, der durchaus etwas Tropisches an sich hatte, mit der Postkutsche von Hamburg, brachte den Schnabel eines Schwertfisches und ein großes Zuckerrohr mit und nahm in halb zerstreuter, halb verlegener Haltung die Umarmungen der Konsulin entgegen. |
730 |
Tony legte den Kranz auf den in goldenen Buchstaben frisch in die Platte eingelassenen Namen des Vaters und kniete dann trotz des Schnees am Grabe nieder, um leise zu beten; der schwarze Schleier umspielte sie, und ihr weiter Kleiderrock lag ein wenig malerisch schwungvoll neben ihr ausgebreitet. |
731 |
Solchen Ausbrüchen gegenüber hatte er einen taktvollen Ernst, ein gefaßtes Schweigen, ein zurückhaltendes Kopfnicken ... und gerade dann, wenn niemand des Verstorbenen erwähnt oder gedacht hatte, füllten sich, ohne daß sein Gesichtsausdruck sich verändert hätte, langsam seine Augen mit Tränen. |
732 |
Christian hatte sich durchaus nicht verschönt. Er war hager und bleich. Die Haut umspannte überall straff seinen Schädel, zwischen den Wangenknochen sprang die große, mit einem Höcker versehene Nase scharf und fleischlos hervor, und das Haupthaar war schon merklich gelichtet. |
733 |
Allein Christians Blick schweifte abwesend über sie hin, und er hätte auch wohl ohne ihren Einwurf zu sprechen aufgehört, denn, während seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen rastlos wanderten, schien er in ein tiefes, unruhiges Nachdenken über Maria und das Laster versunken. |
734 |
Sein Spiel war täuschend, voll von Leidenschaft und Charlatanerie, voll von unwiderstehlicher Komik, die den burlesken und exzentrischen englisch-amerikanischen Charakter trug und weit entfernt war, einen Augenblick unangenehm zu berühren, denn er selbst fühlte sich allzu wohl und sicher darin. |
735 |
Es wird immer Menschen geben, die zu diesem Interesse an sich selbst, diesem eingehenden Beobachten ihrer Empfindungen berechtigt sind, Dichter, die ihr bevorzugtes Innenleben mit Sicherheit und Schönheit auszusprechen vermögen und damit die Gefühlswelt der anderen Leute bereichern. |
736 |
Seine englischen Briefe waren ganz außerordentlich gewandt und wirksam, denn wie er das Englische sprach, schlechthin, ungewählt, gleichgültig und mühelos dahinplätschernd, so schrieb er es auch. Seiner Art gemäß verlieh er im Familienkreise der Stimmung Worte, die ihn erfüllte. |
737 |
Aber gerade diese unbegrenzte, gleichgültige und kampflose Unterordnung reizte Thomas, denn Christian ging bei jeder Gelegenheit leichten Herzens so weit darin, daß es den Anschein gewann, als lege er überhaupt gar keinen Wert auf Überlegenheit, Tüchtigkeit, Respektabilität und Ernst. |
738 |
Er schien es durchaus nicht zu bemerken, daß der Firmenchef ihm mehr und mehr mit stillem Unwillen entgegenkam ... wozu derselbe Gründe hatte, denn leider begann Christians geschäftlicher Eifer bereits nach der ersten Woche, mehr noch jedoch nach der zweiten, sich erheblich zu verringern. |
739 |
Dieser Klub, dem vorwiegend unverheiratete Kaufleute angehörten, besaß im ersten Stock eines Weinrestaurants ein paar komfortable Lokalitäten, woselbst man seine Mahlzeiten nahm und sich zu zwanglosen und oft nicht ganz harmlosen Unterhaltungen zusammenfand: denn es gab eine Roulette. |
740 |
Er erzählte bezwingend, hinreißend, in mühelosem Fluß, mit leicht klagender und schleppender Aussprache, burlesk und harmlos wie ein englischer Humorist. Er erzählte die Geschichte eines Hundes, der in einer Schachtel von Valparaiso nach San Franzisko geschickt worden und obendrein räudig war. |
741 |
Wußtest du nicht, daß man auch in einer kleinen Stadt ein großer Mann sein kann? Daß man ein Cäsar sein kann an einem mäßigen Handelsplatz an der Ostsee? Freilich, dazu gehört ein wenig Phantasie, ein wenig Idealismus ... und den besaßest du nicht, was du auch von dir selbst gedacht haben magst. |
742 |
Fünftes Kapitel Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung hervorzubringen, und niemand wunderte sich, aus dem Munde der Konsulin Buddenbrook nach dem Dahinscheiden ihres Gatten diese oder jene hochreligiöse Wendung zu vernehmen, die man früher nicht an ihr gewohnt gewesen war. |
743 |
Christian erschien nicht oft zu den Andachten. Ein Einwand, den Thomas bei Gelegenheit ganz vorsichtig und halb im Scherze gegen die Übungen erhoben hatte, war mit Milde und Würde zurückgewiesen worden. Was Madame Grünlich anging, so benahm sie sich leider nicht immer völlig korrekt dabei. |
744 |
Es waren keineswegs dumme Geschöpfe, und in ihren kleinen, häßlichen, verschrumpften Papageiköpfen saßen blanke, sanft verschleierte braune Augen, die mit einem seltsamen Ausdruck von Milde und Wissen in die Welt schauten ... Ihre Herzen waren voll von wunderbaren und geheimnisvollen Kenntnissen. |
745 |
Sie war nicht glücklich, sie empfand Langeweile und ärgerte sich über die Pastoren und Missionare, deren Besuche nach dem Tode des Konsuls sich vielleicht noch vermehrt hatten und die nach Tonys Meinung im Hause allzusehr das Regiment führten und allzuviel Geld bekamen. |
746 |
Und hinaus rauschte sie, indem sie die Schultern ein wenig emporzog, den Kopf zurückwarf und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken suchte. – Und Pastor Jonathan besaß äußerst wenig Haupthaar, ja, sein Schädel war nackt zu nennen! Einst aber wurde ihr ein noch größerer Triumph zuteil. |
747 |
Wer hätte gedacht, daß Ihr Eingang und Aufenthalt in unserem Hause so wunderbar gesegnet sein werde!... Ich will heute mein letztes Wort noch nicht sprechen, denn es gehört sich, daß ich zuvor meinem Sohne, dem Konsul, schreibe, der sich augenblicklich, wie Sie wissen, im Auslande befindet. |
748 |
Sie würden etwa zwei Monate abwesend sein; unterdessen aber sollte Antonie, zusammen mit dem Tapezierer Jacobs aus der Fischstraße, das hübsche kleine Haus in der Breiten Straße bereitmachen, das einem nach Hamburg verzogenen Junggesellen gehörte, und dessen Ankauf der Konsul bereits betrieb. |
749 |
Frau Antonie Grünlich stand, stolz auf die Vorbereitungen, die sie getroffen, in der Haustür, und hinter ihr hielten sich, gleichfalls zum Empfange bereit, mit weißen Mützen, nackten Armen und dicken, gestreiften Röcken, die beiden Dienstmädchen, die sie ihrer Schwägerin kundig erwählt hatte. |
750 |
Droben, hinter einer gläsernen Etagentür, war ein schmaler Korridor. Es lag das Speisezimmer daran, mit einem schweren runden Tisch, auf dem der Samowar kochte, und dunkelroten, damastartigen Tapeten, an denen geschnitzte Nußholzstühle mit Rohrsitzen und ein massives Büfett standen. |
751 |
Wir sind alle schwache Menschen mit sündigen Herzen, und wenn sie mitleidig auf mich armes Weltkind herabsehen wollen, so lache ich sie aus. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß alle Menschen gleich sind, und daß es keiner Mittlerschaft bedarf zwischen uns und dem lieben Gott. |
752 |
Ja, ja, es wäre wahrscheinlich unwürdig gewesen. Aber es war mein so dringender Wunsch, fortzukommen ... Kurz, es hat sich zerschlagen. Ich schickte der Missis meine Photographie, und sie mußte auf meine Dienste verzichten, weil ich zu hübsch sei; es sei ein erwachsener Sohn im Hause. |
753 |
Ich habe es lange Zeit nicht für möglich gehalten, auf der Welt eine Passende zu finden. Aber Gerdas Anblick gab den Ausschlag. Ich sah sofort, daß sie die einzige sei, ausgemacht sie ... obgleich ich weiß, daß viele Leute in der Stadt mir böse sind ob meines Geschmackes. |
754 |
Sie hatte ihrem Bruder ernst und aufmerksam zugehört. Ohne an die Lampe zu denken, hatten sie den Abend hereinbrechen lassen. Da öffnete sich die Korridortür, und von der Dämmerung umgeben stand vor den beiden, in einem faltig hinabwallenden Hauskleide aus schneeweißem Pikee, eine aufrechte Gestalt. |
755 |
Sechster Teil Erstes Kapitel Thomas Buddenbrook nahm das erste Frühstück in seinem hübschen Speisezimmer fast immer allein, denn seine Gattin pflegte sehr spät das Schlafzimmer zu verlassen, da sie während des Vormittags oft einer Migräne und allgemeiner Mißstimmung unterworfen war. |
756 |
Ja, München gefällt mir ganz ausnehmend. Die Luft soll sehr nervenstärkend sein, und mit meinem Magen ist es im Augenblick ganz in Ordnung. Ich trinke mit großem Vergnügen sehr viel Bier, um so mehr, als das Wasser nicht ganz gesund ist; aber an das Essen kann ich mich noch nicht recht gewöhnen. |
757 |
Und dann ist es doch ein Wahnsinn, beständig Gurken- und Kartoffelsalat mit Bier durcheinander zu schlucken! Mein Magen gibt Töne von sich dabei. Überhaupt muß man ja an mancherlei sich erst gewöhnen, könnt Ihr Euch denken, man befindet sich eben in einem fremden Lande. |
758 |
Auch erkundigte er sich genau nach uns, wie viele Geschwister wir seien und dergleichen mehr. Auch nach Erika und sogar nach Grünlich fragte er. Er kommt manchmal zu Niederpaurs und wird wohl morgen mit uns zum Würmsee fahren. Nun adieu, liebe Mama, ich kann nicht mehr schreiben. |
759 |
Aber wie die übrigen behäbigen Lebemänner verstand er es, die richtige Miene dazu zu machen, Ärgernis zu vermeiden und seinen politischen und beruflichen Grundsätzen den Ruf unanfechtbarer Solidität zu wahren. Seine Verlobung mit einem Fräulein Huneus war soeben publik geworden. |
760 |
Er dachte daran nicht oder ging, seiner Art gemäß, nach einem Augenblick seltsam unruhigen Nachdenkens darüber hinweg. Sein Bruder, der Konsul, aber wußte es; er wußte, daß Christian den Widersachern der Familie einen Angriffspunkt bot, und ... es waren der Angriffspunkte bereits zu viele. |
761 |
Alsbald beendete der Konsul mit einer kalten Bemerkung das Gespräch. Er ertrug das nicht. Er verachtete seinen Bruder so sehr, daß er ihm nicht gestattete, dort zu lieben, wo er selbst liebte. Er hätte es viel lieber gehört, wenn Christian im Dialekte Marcellus Stengels davon gesprochen hätte. |
762 |
Thomas hatte die Hände auf den Rücken gelegt, und unwillkürlich tat Christian dasselbe, wobei er dem Bruder seine große Nase zuwandte, die oberhalb des englisch über den Mund hängenden rotblonden Schnurrbartes scharf, knochig und gebogen zwischen den hohlen Wangen hervortrat. |
763 |
Es gibt, in Hamburg oder wo auch immer, sichere, aber beschränkte Geschäfte genug, die einen Kapitalzufluß gebrauchen können und in denen du als Teilhaber eintreten könntest ... Laß uns, jeder für sich, die Sache mal überlegen und gelegentlich auch mit Mutter darüber sprechen. |
764 |
Dieser Orden stammte aus einem Hause in der Nähe des Hafens, einem Gasthause, das abends eine rote Laterne über der Haustür führte, einem Orte zwangloser Zusammenkunft, an dem es stets heiter herging ... und war dem scheidenden Krischan Buddenbrook für hervorragende Verdienste verliehen worden. |
765 |
Die Unterhaltung floß nun ohne Hindernis dahin, und die Konsulin folgte ihr, indem sie Herrn Permaneder nachsichtig und ermunternd zunickte, diese oder jene seiner Redewendungen ins Schriftdeutsche übersetzte und sich dann jedesmal, zufrieden, daß sie es verstanden, ins Sofa zurücklehnte. |
766 |
Mamsell Jungmann vergaß vor Erstaunen, auch wenn sie einen Bissen im Munde hatte, beständig zu kauen und blickte den Gast sprachlos aus ihren blanken, braunen Augen an, wobei sie, ihrer Gewohnheit nach, Messer und Gabel senkrecht auf dem Tische hielt, und beides leicht hin und her bewegte. |
767 |
Die treue Preußin saß noch aufrecht am Ausziehtische unter der Hängelampe und stopfte Strümpfe für die kleine Erika, deren tiefe und friedliche Atemzüge man vernehmen konnte, denn Sesemi Weichbrodts Zöglinge hatten nun Sommerferien, und das Kind wohnte in der Mengstraße. |
768 |
Denn sie sind alle so dort unten, und das ist es, was ich sagen wollte, Ida, das ist die Sache. Nämlich in München, wo er unter seinesgleichen war, unter Leuten, die so sprachen und so waren wie er, da liebte ich ihn geradezu, so nett fand ich ihn, so treuherzig und behaglich. |
769 |
Und ich merkte auch gleich, daß es gegenseitig war, – wozu vielleicht beitrug, daß er mich für eine reiche Frau hält, für reicher, fürchte ich, als ich bin, denn Mutter kann mir nicht mehr viel mitgeben, wie du weißt ... Aber das wird ihm nichts ausmachen, bin ich überzeugt. |
770 |
Das Gefühl ihrer Wichtigkeit, der Bedeutsamkeit der Entscheidung, die ihr anheimgestellt war, das Bewußtsein, daß abermals ein Tag gekommen sei, der es ihr zur Pflicht mache, mit ernstem Entschluß in die Geschichte ihrer Familie einzugreifen, erfüllte sie und machte ihr Herz höher schlagen. |
771 |
Sie, deren Wohnräume meistens verhängt, im Dämmerlicht lagen, und die selten ausging, fürchtete die Sonne, den Staub, die festtäglich gekleideten Kleinbürger, den Geruch von Kaffee, Bier, Tabak ... und über alles in der Welt verabscheute sie die Erhitzung, das Derangement. |
772 |
Die einzelnen Stufen waren durch rauh angelegte Treppen verbunden, zu denen man hochliegende Baumwurzeln und vorspringendes Gestein benutzt hatte, und auf den Etagen, zwischen den Bäumen, waren weiß gestrichene Tische, Bänke und Stühle aufgeschlagen. Buddenbrooks waren keineswegs die ersten Gäste. |
773 |
Vorn war es laut, denn das kleine Mädchen jubelte, und Ida stimmte mit ihrem eigentümlich tiefen, gutmütigen Wiehern ein. In der Mitte schwiegen alle drei, denn Gerda war wegen des Staubes aufs neue in eine nervöse Verzagtheit verfallen, und die alte Konsulin sowohl wie ihr Sohn waren in Gedanken. |
774 |
Vieles zwar war noch aus der Zeit ihrer ersten Ehe vorhanden, aber es mußte durch Neuankäufe ergänzt werden, und eines Tages langte aus Hamburg, woher manches bezogen ward, sogar ein Schlafrock an ... nicht mit Sammet freilich, sondern diesmal nur mit Tuchschleifen garniert. |
775 |
Zu vorgeschrittener Herbstzeit traf Herr Permaneder wieder in der Mengstraße ein; man wollte die Sache nicht länger verzögern ... Was die Hochzeitsfeierlichkeiten anging, so verliefen sie genau, wie Tony es erwartet und nicht anders gewünscht hatte: Es wurde nicht viel Aufhebens davon gemacht. |
776 |
Siebentes Kapitel Gleich morgens um acht Uhr, sobald er das Bett verlassen hatte, über die Wendeltreppe hinter der kleinen Pforte ins Souterrain hinabgestiegen war, ein Bad genommen und seinen Schlafrock wieder angelegt hatte, begann Konsul Buddenbrook sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen. |
777 |
Mit dem Volke hat das nichts zu tun, und der Effekt ist nun bloß, daß die Polizei und der Druck auf die Presse und all das verdoppelt wird. Er ist auf seiner Hut ... Ja, es ist eine ewige Unruhe, das muß wahr sein, denn er ist immer auf Unternehmungen angewiesen, um sich zu halten. |
778 |
Geist genug, seinen Ehrgeiz, es im kleinen zu Größe und Macht zu bringen, gleichzeitig zu belächeln und ernst zu nehmen. Kaum hatte er, von Anton bedient, im Speisezimmer das Frühstück genommen, so machte er Straßentoilette und begab sich in sein Kontor an der Mengstraße. |
779 |
Seine Erben entzogen der Firma das Kapital des Verstorbenen, und der Konsul widerriet es seinem Bruder dringend, sie mit seinen eigenen Mitteln fortzuführen, denn er wisse wohl, wie schwer es sei, ein größer zugeschnittenes Geschäft mit plötzlich stark vermindertem Kapital zu halten. |
780 |
Das war beunruhigend. Eine dritte Sorge aber bestand darin, daß auch hier, an Ort und Stelle selbst, für das Fortleben des Familiennamens noch immer keine Sicherheit gegeben war. Gerda behandelte diese Frage mit einem souveränen Gleichmut, der einer degoutierten Ablehnung äußerst nahe kam. |
781 |
I hab' mi allweil g'schunden, und jetzt will i mei Ruh, Himmi Sakrament. Mer vermieten's Parterre und die zwoate Etasch, und dahier hamer a guate Wohnung und können a Schweinshaxen essen und brauchen uns net allweil gar so nobi z'sammrichten und aufdrahn ... und am Abend hab' i 's Hofbräuhaus. |
782 |
Der Konsulin war dies ganz einfach mitgeteilt worden. In den Briefen aber, die Frau Permaneder darüber an ihren Bruder geschrieben hatte, war der Schmerz zu erkennen gewesen, den sie empfand ... arme Tony! ihre schlimmsten Befürchtungen waren weitaus übertroffen worden. |
783 |
Zehntes Kapitel Tony hatte sich gleich nach Tische in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, denn während des Essens war ihr durch die Konsulin die Vermutung bestätigt worden, daß Thomas um ihre Ankunft wisse ... und sie schien auf das Zusammentreffen mit ihm nicht sonderlich begierig zu sein. |
784 |
Du siehst übrigens, daß ich sehr wohl Bescheid weiß in diesen Dingen, während du wahrhaftig tust, als wäre es das erstemal im Leben, daß ich mich scheiden lasse!... Aber das ist ganz gleich, Tom. Vielleicht geht es nicht an und ist unmöglich – das mag sein; du kannst gern recht haben. |
785 |
Ich habe es schon vorher gewußt, aber in deinen letzten Worten hast du dich verraten. Es ist gar nicht der Mann. Es ist die Stadt. Es ist gar nicht diese Albernheit auf der Himmelsleiter. Es ist das Ganze überhaupt. Du hast dich nicht akklimatisieren können. Sei aufrichtig. |
786 |
Kaum, daß sie sich Zeit ließ, Atem zu schöpfen, so brausten und brodelten schon wieder neue Worte hervor. Ja, sie fand Worte, sie drückte alles aus, was sich während dieser Jahre an Widerwillen in ihr gesammelt hatte: ein bißchen ungeordnet und verworren, aber sie drückte es aus. |
787 |
Es ist tot. Das war nicht Permaneders Schuld, behüte, nein. Er hatte getan, was er konnte, und ist sogar zwei bis drei Tage nicht ins Wirtshaus gegangen, bewahre! Aber es gehörte doch dazu, Thomas. Es machte mich nicht glücklicher, kannst du dir denken. Ich habe ausgehalten und nicht gemurrt. |
788 |
Elftes Kapitel Tony ging nicht müßig, sie nahm ihre Sache in die Hand. In der Hoffnung, sie möchte sich beruhigen, besänftigen, anderen Sinnes werden, hatte der Konsul vorläufig nur eines von ihr verlangt: sich still zu verhalten und, sowie auch Erika, das Haus nicht zu verlassen. |
789 |
Sie empfing ihn allein, in dem Mittelzimmer am Korridor der ersten Etage, wo geheizt worden war und wo sie zu irgendeinem Behufe auf einem schweren Tische ein Tintenfaß, Schreibzeug und eine Menge weißen Papiers in Folioformat, das von unten aus dem Kontor stammte, geordnet hatte. |
790 |
Dann ließ sie sich eine Übersicht der zu Recht bestehenden Scheidungsgründe liefern und nahm daranschließend mit offenem Kopf und eindringlichem Interesse einen längeren dotalrechtlichen Vortrag entgegen, worauf sie den Doktor Gieseke vorläufig mit ernster Freundlichkeit entließ. |
791 |
Ihm stand jetzt zunächst, und zwar morgenden Tages, eine Fahrt nach Hamburg bevor: zu einer Konferenz, einer leidigen Unterredung mit Christian. Christian hatte geschrieben, um Unterstützung, um Aushilfe geschrieben, welche die Konsulin seinem dereinstigen Erbe entnehmen mußte. |
792 |
Kurz, es gab außer Tonys Scheidungswünschen der widerwärtigen Dinge noch mehr, und die Fahrt nach Hamburg war dringlich. Übrigens war es wahrscheinlich, daß Permaneder seinerseits zunächst selbst von sich hören lassen würde ... Der Konsul reiste, und er kehrte in zorniger und trüber Stimmung zurück. |
793 |
Da er sie und Erika wohl nicht wiedersehen werde, so wünsche er ihr und dem Kinde für immer alles erdenkliche Glück ... Alois Permaneder. – Ausdrücklich erbot er sich in einer Nachschrift zur sofortigen Restituierung der Mitgift. Er für sein Teil könne mit dem Seinen sorglos leben. |
794 |
Er brauche keine Frist, denn Geschäfte seien nicht abzuwickeln, das Haus sei seine Sache, und die Summe sei sofort liquid. – Tony war fast ein wenig beschämt und fühlte sich zum ersten Male geneigt, Herrn Permaneders geringe Leidenschaft in Geldangelegenheiten lobenswert zu finden. |
795 |
Dann kam der Tag, an dem die Scheidung rechtskräftig und endgültig ausgesprochen wurde, an dem Tony die letzte notwendige Formalität erledigte, indem sie sich von Thomas die Familienpapiere erbat und eigenhändig das neue Faktum verzeichnete ... und nun galt es, sich an die Sachlage zu gewöhnen. |
796 |
Aber er weiß, daß es für Mutter und Kind eine verzweifelte Stunde gewesen ist, vor vier Wochen, und er beugt sich glücklich und zärtlich zu Gerda nieder, welche, die Lackschuhe auf einem Sammetkissen gekreuzt, vor ihm und neben der alten Konsulin in einem Armsessel lehnt. |
797 |
Auch die Damen Buddenbrook sind anwesend, und sie sind tief erfreut über das glückliche Familienereignis, was aber Pfiffi nicht gehindert hat, zu bemerken, das Kind sehe ziemlich ungesund aus; und das haben die Konsulin, geborene Stüwing, sowohl wie Friederike und Henriette leider bestätigen müssen. |
798 |
Es ist dieser schneeweiße, würdige, alte Herr, der hier mit seiner hohen Halsbinde und seinem weichen, schwarzen Tuchrock, aus dessen hinterer Tasche stets der Zipfel eines roten Schnupftuches hervorhängt, sich in dem bequemsten Lehnstuhl über seinen Krückstock beugt: Bürgermeister Doktor Överdieck. |
799 |
Plötzlich entsteht draußen auf dem Korridor Bewegung, man hört die Dienstboten lachen, und in der Tür erscheint ein sonderbarer Gratulant. Es ist Grobleben: Grobleben, an dessen magerer Nase zu jeder Jahreszeit beständig ein länglicher Tropfen hängt, ohne jemals hinunterzufallen. |
800 |
Dieser Mann stand frei von den hemmenden Fesseln der Tradition und der Pietät auf seinen eigenen Füßen, und alles Altmodische war ihm fremd. Er bewohnte keines der alten, mit unsinniger Raumverschwendung gebauten Patrizierhäuser, um deren ungeheure Steindielen sich weißlackierte Galerien zogen. |
801 |
Hie und da aber konnte Frau Permaneder sich trotzdem nicht entbrechen, ein wenig mit ihrer erstaunlichen Kenntnis der Staatsverfassung zu prunken, deren Satzungen sie, soweit sie die Wahl eines Senatsmitgliedes betrafen, ebenso eingehend studiert hatte wie vor Jahr und Tag die Scheidungsparagraphen. |
802 |
Sie ist da, wie aus dem Erdboden hervorgekommen oder vom Himmel gefallen und ist überall zugleich. Es gibt keinen Widerspruch. Es ist entschieden. Hagenström! – Ja, ja, er ist es nun also. Da ist nichts mehr zu erwarten. Die Dame im Schleier hätte es vorher wissen können. |
803 |
Auch wenn er scheinbar ruhte, nach Tisch vielleicht, mit den Zeitungen, arbeiteten, während er mit einer gewissen langsamen Leidenschaftlichkeit die ausgezogene Spitze seines Schnurrbartes drehte und an seinen blassen Schläfen die Adern sichtbar wurden, tausend Pläne in seinem Kopf durcheinander. |
804 |
Wenn solche Anschaffungen und Restaurierungen ihm vorübergehend eine gewisse Befriedigung und Beruhigung gewährten, so mochte er die Ausgaben dafür sich skrupellos gestatten, denn seine Geschäfte gingen in diesen Jahren so ausgezeichnet wie ehemals nur zur Zeit seines Großvaters. |
805 |
Jedermann anerkannte mit Neid oder freudiger Teilnahme seine Tüchtigkeit und Geschicklichkeit, während er selbst vergeblich danach rang, mit Behagen in Reihe und Ordnung zu schaffen, weil er hinter seiner planenden Phantasie sich beständig zum Verzweifeln im Rückstande fühlte. |
806 |
Es war ein ziemlich umfangreiches Grundstück in der unteren Fischergrube. Ein altersgraues, schlecht unterhaltenes Haus stand dort zum Verkaufe, dessen Besitzerin, eine steinalte Jungfer, die es als ein Überbleibsel einer vergessenen Familie ganz allein bewohnt hatte, kürzlich gestorben war. |
807 |
Was das Gehen betraf, so war ihm jetzt, im Alter von fünf Vierteljahren, noch kein selbständiger Schritt gelungen, und es war um diese Zeit, daß die Damen Buddenbrook mit hoffnungslosem Kopfschütteln erklärten, dieses Kind werde stumm und lahm bleiben für sein ganzes Leben. |
808 |
Sie durften später diese traurige Prophezeiung als Irrtum erkennen; aber niemand leugnete, daß Hanno in seiner Entwicklung ein wenig zurückstand. Er hatte gleich in der frühesten Zeit seines Lebens schwere Kämpfe zu bestehen gehabt und seine Umgebung in beständiger Furcht gehalten. |
809 |
Das Ende schien fast wünschenswert. Dennoch gelangte Hanno wieder zu einigen Kräften, sein Blick begann die Dinge zu fassen, und wenn auch die überstandenen Strapazen seine Fortschritte im Sprechen und Gehen verlangsamten, so gab es nun doch keine unmittelbare Gefahr mehr zu fürchten. |
810 |
Sein hellbraunes, sehr weiches Haar begann in dieser Zeit ungemein schnell zu wachsen und fiel bald, kaum merklich gewellt, auf die Schultern seines faltigen, schürzenartigen Kleidchens nieder. Schon begannen die Familienähnlichkeiten sich vollkommen erkennbar bei ihm auszuprägen. |
811 |
Die Nachbarn, die Bürgersleute in den Giebelhäusern, lagen in den Fenstern, sahen den Arbeiten der Männer auf den Gerüsten zu, freuten sich, wie der Bau emporstieg, und suchten den Zeitpunkt des Richtfestes zu bestimmen. Es kam heran und ward mit allen Umständlichkeiten begangen. |
812 |
Droben auf dem flachen Dache hielt ein alter Maurerpolier eine Rede, an deren Ende er eine Champagnerflasche über seine Schulter schleuderte, während zwischen den Fahnen die großmächtige Richtkrone aus Rosen, grünem Laub und bunten Blättern schwerfällig im Winde schwankte. |
813 |
Iwersen verbeugte sich ebenso tief wie ungeschickt, während seine Frau, die nicht aufhörte, das Kinderwägelchen hin und her zu rollen, aus ihren schwarzen, länglich geschnittenen Augen ruhig und aufmerksam die Senatorin betrachtete, die am Arme ihres Gatten auf sie zukam. |
814 |
Es war warm und still. Die Düfte der reinlich abgezirkelten Beete lagen in der Abendluft, und der von hohen lilafarbenen Iris umstandene Springbrunnen sandte seinen Strahl mit friedlichem Plätschern dem dunklen Himmel entgegen, an dem die ersten Sterne zu erglimmen begannen. |
815 |
Diese Einlage, die an Mutter adressiert ist und in der, sagt er, dasselbe steht, sollen wir ihr geben, nachdem wir sie ein bißchen vorbereitet haben. Und dann ist hier noch diese zweite Einlage: auch an Mutter und von Klara selbst sehr unsicher mit Bleistift geschrieben. |
816 |
Wir müssen sie halten: fest, tief. Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß ... Dann kommt eines zum andern, Schlappe folgt auf Schlappe, und man ist fertig. |
817 |
Die Mannschaften ziehen zum Tore hinaus, neue rücken ein, überfluten die Stadt, essen, schlafen, erfüllen die Ohren der Bürger mit Trommelwirbeln, Trompetensignalen und Kommandorufen und marschieren wieder ab. Königliche Prinzen werden begrüßt; Durchmarsch folgt auf Durchmarsch. |
818 |
Der Krieg entbrannte, der Sieg schwankte und entschied sich, und Hanno Buddenbrooks Vaterstadt, die klug zu Preußen gestanden hatte, blickte nicht ohne Genugtuung auf das reiche Frankfurt, das seinen Glauben an Österreich bezahlen mußte, indem es aufhörte, eine freie Stadt zu sein. |
819 |
Er tat es. Er erschien in der ersten Etage, ward von den drei Damen, Großmutter, Tochter und Enkelin, empfangen, plauderte zehn Minuten lang und versprach, nachmittags um die Kaffeezeit einmal zu zwangloser Unterhaltung wiederzukommen. Auch das geschah, und man lernte einander kennen. |
820 |
Und dieser frische Honig, Tom, ich habe ihn immer für eines der besten Nahrungsmittel gehalten. Das ist reines Naturprodukt! Da weiß man doch, was man verschluckt! Ja, es war wahrhaftig liebenswürdig von Armgard, daß sie sich unserer alten Pensionsfreundschaft erinnerte und mich einlud. |
821 |
Aber, so dumm ich bin, das weiß ich, daß du ein ganz anderer Mensch bist als Vater, und daß, als du die Geschäfte übernahmst, du einen ganz anderen Wind wehen ließest als er, und daß du unterdessen manches getan hast, was er nicht getan haben würde. Dafür bist du jung und ein unternehmender Kopf. |
822 |
Du warst es von Anfang an, und gerade darum habe ich weitergeredet, um dir zu beweisen, daß du dich zu Unrecht beleidigt fühlst. Wenn ich mich aber frage, warum du gereizt bist, so kann ich mir nur sagen, daß du im Grunde doch nicht so ganz abgeneigt bist, dich mit der Sache zu beschäftigen. |
823 |
Nun, gleichviel. Es hat mich sehr interessiert. Ich war einerseits erschrocken und betrübt für Maibooms, andererseits aber froh für dich. Ich habe mir gedacht: Tom geht seit einiger Zeit ein bißchen freudelos umher. Früher klagte er, und jetzt klagt er schon nicht einmal mehr. |
824 |
Er hatte die Gewohnheit, mit halb geöffnetem Munde und halb geschlossenen Augen von einer unbegreiflichen Höhe auf mich herabzublicken ... Mein erster Besuch bei ihm war bedeutsam. Nach einer einleitenden Korrespondenz fuhr ich zu ihm und trat, vom Bedienten gemeldet, ins Arbeitszimmer. |
825 |
Er erwidert meine Verbeugung, indem er sich halbwegs vom Sessel erhebt, schreibt die letzte Zeile eines Briefes, wendet sich dann zu mir, indem er über mich hinwegsieht, und beginnt die Unterhandlungen über seine Ware. Ich lehne am Sofatische, kreuze Arme und Beine und bin amüsiert. |
826 |
Recht graulich ist es. Dies bucklige Männlein steht überall, zerbricht den Kochtopf, ißt das Mus, stiehlt das Holz, läßt das Spinnrad nicht gehen, lacht einen aus ... und dann, zum Schlusse, bittet es auch noch, man möge es in sein Gebet einschließen! Ja, das hat es dem Jungchen nun angetan. |
827 |
Aber meinst du, daß er sich jemals erregt hat – über die Freiheit und die Gerechtigkeit und den Umsturz von Privilegien und Willkür? Er ist ein Gelehrter, aber ich bin überzeugt, daß die unerhörten Bundesgesetze von damals über die Universitäten und die Presse ihn vollständig kalt gelassen haben. |
828 |
Daß aber die Firma Johann Buddenbrook nicht mehr das war, was sie vorzeiten gewesen, das schien eine so gassenläufige Wahrheit, daß Herr Stuht in der Glockengießerstraße es seiner Frau erzählen konnte, wenn sie mittags zusammen ihre Specksuppe verzehrten ... und Thomas Buddenbrook stöhnte darüber. |
829 |
Gleichwohl war er selbst es, der zur Entstehung dieser Anschauungsweise am meisten beigetragen hatte. Er war ein reicher Mann, und keiner der Verluste, die er erlitten, auch den schweren des Jahres sechsundsechzig nicht ausgenommen, hatte die Existenz der Firma ernstlich in Frage stellen können. |
830 |
Im Laufe der Jahre hatte seine Pedanterie zugenommen und war zur vollständigen Wunderlichkeit geworden. Er brauchte eine Viertelstunde, um sich, unter Schnurrbartstreichen, Räuspern und bedächtigen Seitenblicken, eine Zigarre anzuschneiden und die Spitze in seinen Geldbeutel zu versenken. |
831 |
Sollte er ermuntert werden, aufzustehen und einen Schlag zu führen? Mit aller Entschiedenheit, die er seiner Stimme zu geben vermocht, hatte er das Ansinnen zurückgewiesen; aber war, seit Tony aufgebrochen, wirklich das Ganze erledigt? Es schien nicht, denn er saß hier und grübelte. |
832 |
Er schob seinen Stuhl zurück, ging hinüber in den Salon und entzündete mehrere Gasflammen des Lüsters über dem Mitteltische. Er blieb stehen, drehte langsam und krampfhaft an der langen Spitze seines Schnurrbartes und blickte, ohne etwas zu sehen, in diesem luxuriösen Gemache umher. |
833 |
Nun lag die ganze Zimmerflucht im Lichte einzelner Gasflammen, wie nach einem Feste, wenn der letzte Gast soeben davongefahren. Der Senator durchmaß den Saal einmal der Länge nach, blieb dann an dem Fenster stehen, das dem Kabinett gegenüber lag, und blickte in den Garten hinaus. |
834 |
Thomas benutzte als Kaufmann die Konjunktur und auch beim Verkaufe, nachher, würde er sie bei Gott zu benutzen wissen! Andererseits aber erwies er dem bedrängten Gutsherrn einen Dienst, zu dem er, durch die Freundschaft Tonys mit Frau von Maiboom, ganz allein berufen war. |
835 |
Der Senator blieb mechanisch vor ihr stehen, fragte mechanisch nach dem spanischen Virtuosen und dem Verlaufe seines Konzertes und versicherte dann, sogleich sich ebenfalls zur Ruhe begeben zu wollen. Aber er ging nicht zur Ruhe, sondern nahm seine Wanderung wieder auf. |
836 |
Allzubald war er wieder still geworden, stiller vielleicht als vorher. Mitten in der Arbeit konnte er das Kontor verlassen, um, von Unruhe erfaßt, einsam im Garten umherzugehen, dann und wann wie gehemmt und aufgehalten stehenzubleiben und seufzend die Augen mit der Hand zu bedecken. |
837 |
Wenn Sie morgens mit Ihrer Tour fertig sind, dann sind Sie klüger als alle, denn dann haben Sie die Chefs von ungefähr allen großen Häusern unter dem Messer gehabt und kennen die Laune von jedem einzelnen, und darum kann Sie jeder einzelne beneiden, denn das ist sehr interessant. |
838 |
Er lehnte am Flügel, in seinem Kopenhagener Matrosenanzug mit dem breiten Leinwandkragen, dem weißen Halseinsatz und dem dicken Schifferknoten, der unter dem Kragen hervorquoll, die zarten Beine gekreuzt, Kopf und Oberkörper ein wenig abgewandt, in einer Haltung voll scheuer und unbewußter Grazie. |
839 |
Vor zwei oder drei Wochen war sein langes Haar ihm abgeschnitten worden, weil in der Schule nicht nur seine Kameraden, sondern auch seine Lehrer sich darüber lustig gemacht hatten. Aber auf dem Kopfe war es noch stark und weich gelockt und wuchs tief in die Schläfen und in die zarte Stirn hinein. |
840 |
Er hatte sich in einen Lehnsessel am Tische niedergelassen und wartete. Er lächelte durchaus nicht – heute so wenig wie sonst bei ähnlichen Gelegenheiten. Ernst, die eine Braue emporgezogen, maß er die Gestalt des kleinen Johann mit prüfendem, ja sogar kaltem Blick. Hanno richtete sich auf. |
841 |
Aber mit Hanno war es zu Ende. Sein Kopf hing tief auf der Brust, und seine kleine Rechte, die blaß und mit bläulichen Pulsadern aus dem unten ganz engen, dunkelblauen, mit einem Anker bestickten Matrosenärmel hervorsah, zerrte krampfhaft an dem Brokatstoff der Portiere. |
842 |
Dann aber ward sein Atem tiefer und ruhiger, die Bewegung seines Körpers langsamer; seine halbgeschlossenen Augen verschleierten sich mit einem müden und fast gebrochenen Ausdruck, und mit schwerem Kopfnicken wandte er sich zur Seite. Er öffnete die Tür zum Saale und trat ein. |
843 |
Übrigens kontrastierte mit dieser Weichheit seines äußeren Wesens ganz seltsam die Strenge und Würde seines Charakters. Edmund Pfühl war ein weithin hochgeschätzter Organist, und der Ruf seiner kontrapunktischen Gelehrsamkeit hatte sich nicht innerhalb der Mauern seiner Vaterstadt gehalten. |
844 |
Ihr Wesen war fremd aller irdischen Schönheit, und was sie ausdrückten, berührte keines Laien rein menschliches Empfinden. Es sprach aus ihnen, es triumphierte sieghaft in ihnen die zur asketischen Religion gewordene Technik, das zum Selbstzweck, zur absoluten Heiligkeit erhobene Können. |
845 |
Das Meistersinger-Vorspiel zog vorüber. Gerda Buddenbrook war eine leidenschaftliche Verehrerin der neuen Musik. Was aber Herrn Pfühl betraf, so war sie bei ihm auf einen so wild empörten Widerstand gestoßen, daß sie anfangs daran verzweifelt hatte, ihn für sich zu gewinnen. |
846 |
Aber seine Partnerin brauchte nun nicht mehr in ihn zu dringen, damit er, hatten die alten Meister ihr Recht erhalten, seine Griffe kompliziere und, mit jenem Ausdrucke eines verschämten und fast ärgerlichen Glückes im Blick, in das Leben und Weben der Leitmotive hinüberführe. |
847 |
Aber dann besteht immer die Gefahr, daß man in mehr oder minder vollendetes Virtuosentum gerät ... Sehen Sie, ich weiß ein Lied davon zu singen. Ich bekenne Ihnen offen, ich bin der Ansicht, daß für den Solisten eigentlich die Musik erst mit einem sehr hohen Grade von Können beginnt. |
848 |
Kaum war das Erste und Elementarste überwunden, als er schon anfing, in leicht faßlicher Form zu theoretisieren und seinen Schüler die Grundlagen der Harmonielehre sehen zu lassen. Und Hanno verstand; denn man bestätigte ihm nur, was er eigentlich von jeher schon gewußt hatte. |
849 |
Er, der trotz aller Nachhilfestunden in der Schule dumpf und ohne Hoffnung auf Verständnis über seiner Rechentafel brütete, er begriff am Flügel alles, was Herr Pfühl ihm sagte, er begriff es und eignete es sich an, wie man nur das sich aneignen kann, was einem schon von jeher gehört hat. |
850 |
Er wuchs, er nahm zu, er schwoll langsam, langsam an, im forte zog Hanno das dissonierende, zur Grundtonart leitende Cis herzu, und während die Stradivari wogend und klingend auch dieses Cis umrauschte, steigerte er die Dissonanz mit aller seiner Kraft bis zum fortissimo. |
851 |
Hannos Oberkörper reckte sich langsam empor, seine Augen wurden ganz groß, seine geschlossenen Lippen zitterten, mit einem stoßweisen Beben zog er die Luft durch die Nase ein ... und dann war die Wonne nicht mehr zurückzuhalten. Sie kam, kam über ihn, und er wehrte ihr nicht länger. |
852 |
Er hatte einst, allem Kopfschütteln schnell verblüffter Philister zum Trotz, Gerda Arnoldsen heimgeführt, weil er sich stark und frei genug gefühlt hatte, unbeschadet seiner bürgerlichen Tüchtigkeit einen distinguierteren Geschmack an den Tag zu legen als den allgemein üblichen. |
853 |
Nicht aus Trotz gegen seinen Vater, nicht um ihm wehe zu tun. Aber die Einwohner, die Straßen und selbst die Speicher, die ihm unter gewöhnlichen Umständen unendlich gleichgültig waren, flößten ihm, zum Gegenstand eines Examens erhoben, einen verzweifelten Widerwillen ein. |
854 |
Die Behinderungen beim Kauen hatten immer wieder Verdauungsstörungen, ja auch Anfälle von gastrischem Fieber zur Folge, und diese Magenverstimmungen standen im Zusammenhange mit vorübergehenden Anfällen von verstärktem oder geschwächtem unregelmäßigen Herzschlag und Schwindelgefühlen. |
855 |
Besonders gern vernahm Hanno die Erzählung von einem bösen, aber außerordentlich mächtigen Zauberer, der einen schönen und hochbegabten Prinzen mit Namen Josephus in der Gestalt eines bunten Vogels bei sich gefangen halte und alle Menschen mit seinen tückischen Künsten quäle. |
856 |
Ja, er war in ihren Augen etwas so ganz Besonderes, daß sie kaum je ein anderes Kind würdig gehalten hatte, mit ihm in Berührung zu kommen. Was den kleinen Kai betraf, so war die beiderseitige Zuneigung stärker gewesen als ihr Mißtrauen; auch hatte der Name sie ein wenig bestochen. |
857 |
Gesellten sich aber auf dem Mühlenwall, wenn sie sich mit Hanno auf einer Bank niedergelassen hatte, andere Kinder mit ihrer Begleitung zu ihnen, so erhob Fräulein Jungmann sich beinahe sogleich und ging unter irgendeinem Vorwande von Verspätung oder Zugwind von dannen. |
858 |
Hätte er seine Erziehung in die Hand nehmen, täglich und stündlich auf seinen Geist wirken können! Aber die Zeit fehlte ihm dazu, und mit Schmerz mußte er sehen, wie gelegentliche Versuche dazu kläglich mißlangen und das Verhältnis zwischen Vater und Kind nur kälter und fremder machten. |
859 |
Halb liegend saß er auf der Chaiselongue, nestelte an dem Schifferknoten auf seiner Brust, und indem seine Augen, ohne etwas zu suchen, seitwärts glitten, gewahrte er auf dem zierlichen Nußholzschreibtisch seiner Mutter eine offene Ledermappe – die Mappe mit den Familienpapieren. |
860 |
Eines stak in der Mappe, lose Blätter, die draußen lagen, waren vorläufig mit einem metallenen Lineal beschwert, das große Schreibheft mit goldnem Schnitt und verschiedenartigem Papier lag offen da. Hanno glitt nachlässig von der Ottomane hinunter und ging zum Schreibtisch. |
861 |
Direktor Weinschenk aber sollte, erst nachdem er durch seine Agenten rasche vertrauliche Mitteilung von den Unglücksfällen empfangen, also bewußt betrügerischerweise, die Rückversicherungen bei einer anderen Gesellschaft vorgenommen und dieser so den Schaden zugeschoben haben. |
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Eine Usance, verstehst du, das ist ein Manöver, das nicht ganz einwandfrei ist, sich nicht ganz mit dem geschriebenen Gesetze verträgt und für den Laienverstand schon unredlich aussieht, das aber dennoch nach stillschweigender Übereinkunft in der Geschäftswelt gang und gäbe ist. |
863 |
Das hätte er bei der Wahl seines Verteidigers besser bedenken sollen. Wir haben hier in der Stadt keinen hervorragenden Anwalt, keinen eminenten Kopf mit überlegenem und überzeugendem Rednertalent, der mit allen Hunden gehetzt und in den bedenklichsten Sachen versiert wäre. |
864 |
Frau Permaneder sang es mit bebenden Lippen, denn am süßesten und schmerzlichsten rührt es an dessen Herz, der ein bewegtes Leben hinter sich hat und im kurzen Frieden der Feierstunde Rückblick hält ... Madame Kethelsen weinte still und bitterlich, obgleich sie von allem fast nichts vernahm. |
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Hanno war vollständig verwirrt. Bald nach dem Eintritt hatten seine fieberhaft suchenden Augen das Theater erblickt ... ein Theater, das, wie es dort oben auf dem Tische prangte, von so extremer Größe und Breite erschien, wie er es sich vorzustellen niemals erkühnt hatte. |
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Hanno umarmte seine Großmutter, die ihn zärtlich an sich preßte und ihn dann verließ, um die Danksagungen der anderen entgegenzunehmen. Er wandte sich dem Theater zu. Das Harmonium war ein überwältigender Traum, aber er hatte doch fürs erste noch keine Zeit, sich näher damit zu beschäftigen. |
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Es war der Überfluß des Glückes, in dem man, undankbar gegen das Einzelne, alles nur flüchtig berührt, um erst einmal das Ganze übersehen zu lernen ... Oh, ein Souffleurkasten war da, ein muschelförmiger Souffleurkasten, hinter dem breit und majestätisch in Rot und Gold der Vorhang emporrollte. |
868 |
Nur Onkel Christian wußte nichts von diesem Erwachsenenhochmut, und seine Freude an dem Puppentheater, als er, einen Brillantring am Finger, den er von seiner Mutter beschert bekommen hatte, an Hannos Platz vorüberschlenderte, unterschied sich gar nicht von der seines Neffen. |
869 |
Nach einer Weile aber, ganz überraschend, brach Christian ab. Er verstummte, ein unruhiger Ernst überflog sein Gesicht, er strich mit der Hand über seinen Schädel und an seiner linken Seite hinab und wandte sich dann mit krauser Nase und sorgenvoller Miene zum Publikum. |
870 |
Still und dankbar löffelte sie die Mandelcreme, als wäre es Buchweizengrütze. Zur Erfrischung gab es auch Weingelee in Gläsern, wozu englischer Plumkake gegessen wurde. Nach und nach zog man sich ins Landschaftszimmer hinüber und gruppierte sich mit den Tellern um den Tisch. |
871 |
Jeder Lufthauch, der die Bäume berührte, ließ die Stücke Flittergoldes, die daran befestigt waren, mit einem zart metallischen Geräusch erschauern. Es war nun wieder still genug, die leisen Drehorgelklänge zu vernehmen, die von einer fernen Straße durch den kalten Abend daherkamen. |
872 |
Klothilde war weitaus die Glücklichste von allen an diesem Abend und nahm die Gratulationen und Neckereien, die ihr von allen Seiten zuteil wurden, mit einem Lächeln entgegen, das ihr aschgraues Gesicht verklärte; ihre Stimme brach sich beim Sprechen vor freudiger Bewegung. |
873 |
Mit unentrinnbarer Notwendigkeit war allmählich die eine, unheimliche Angelegenheit Gegenstand des Gespräches geworden, über die man bislang dem festlichen Abend zu Ehren geschwiegen, die aber fast keinen Augenblick aufgehört hatte, alle Gemüter zu beschäftigen: Direktor Weinschenks Prozeß. |
874 |
Es gab gebratene Kartoffeln, zweierlei Gemüse und zweierlei Kompott dazu, und die kreisenden Schüsseln enthielten Portionen, als ob es sich bei jeder einzelnen von ihnen nicht um eine Beigabe und Zutat, sondern um das Hauptgericht handelte, an dem alle sich sättigen sollten. |
875 |
Ein mattes Fieber summte in seinem Kopfe, und sein Herz, das von dem revoltierenden Magen ein wenig beengt und beängstigt wurde, schlug langsam, stark und unregelmäßig. In einem Zustand von Unwohlsein, Erregtheit, Beklommenheit, Müdigkeit und Glück lag er lange und konnte nicht schlafen. |
876 |
Sie stand auf der Schwelle, bucklig, winzig, die alten Hände vor ihrer Kinderbrust zusammengelegt; die grünseidnen Bänder ihrer Haube fielen auf ihre zerbrechlichen Schultern, und zu ihren Häupten, über der Tür, ließ ein mit Tannenzweigen umkränztes Transparent die Worte leuchten. |
877 |
Ihr Magen entledigte sich seines Inhaltes und fuhr dann fort, sich qualvoll zusammenzuziehen, um in diesem Krampfzustande minutenlang zu verharren; unfähig, noch etwas von sich zu geben, würgte und litt sie so lange Zeit ... Es war etwa 3 Uhr nachmittags, ein windiger, regnerischer Januartag. |
878 |
Sie pflegte die verwöhnte und nicht immer geduldige Kranke Tag und Nacht und zog sich dann stumm und fast beschämt über die menschliche Schwäche, der sie unterlag, zurück, um sich von einer anderen Schwester ablösen zu lassen, zu Hause ein wenig zu schlafen und dann zurückzukehren. |
879 |
Sie liebte es, gute Mahlzeiten zu halten, sich vornehm und reich zu kleiden, das Unerfreuliche, was um sie her bestand oder geschah, zu übersehen, zu vertuschen und wohlgefällig an dem hohen Ansehen teilzunehmen, das ihr ältester Sohn sich weit und breit verschafft hatte. |
880 |
Der Puls aber ging schlecht, das Fieber stieg desto höher, nachdem es ein wenig gefallen war und warf sie aus Schüttelfrösten in hitzige Delirien, der Husten, der mit inneren Schmerzen verbunden war und blutigen Auswurf zutage förderte, nahm zu, und Atemnot ängstigte sie. |
881 |
Sie kamen mit ihren Mantillen, ihren tellerartigen Hüten und ihren Provianttaschen von Armenbesuchen, und man konnte ihnen nicht verwehren, ihre kranke Freundin zu sehen. Man ließ sie allein mit ihr, und Gott allein weiß, was sie zu ihr sprachen, während sie an ihrem Bette saßen. |
882 |
Der Wind fuhr in den kalten Regen, der herniederging, und trieb ihn prasselnd gegen die Fensterscheiben. Als der Senator und seine Frau das Zimmer betraten, das von den Kerzen zweier Armleuchter erhellt war, die auf dem Tische brannten, waren die beiden Ärzte schon zugegen. |
883 |
Auch Christian war aus seinem Zimmer heruntergeholt worden und saß irgendwo, indem er dem Himmelbette den Rücken zuwandte und die Stirn, tief gebückt, in beide Hände stützte. Man erwartete den Bruder der Kranken, Konsul Justus Kröger, nach dem ebenfalls geschickt worden war. |
884 |
Er selbst war in tadelloser Trauerkleidung, und auf seinem Hemdeinsatz, welcher, am Kragen von der breiten, schwarzen Schleife abgeschlossen, blendend weiß aus der Umrahmung des schwarzen Tuchrockes hervortrat, saßen statt der goldenen, die er zu tragen pflegte, schwarze Knöpfe. |
885 |
Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir schwarze zu kaufen, oder vielmehr, ich habe es unterlassen. Ich habe mir in den letzten Jahren oft fünf Schillinge für Zahnpulver leihen und mit einem Streichholz zu Bette gehen müssen ... ich weiß nicht, ob ich so ausschließlich schuld daran bin. |
886 |
Er hatte sich über den Tisch gebeugt, pochte unaufhörlich mit der Spitze des gekrümmten Zeigefingers auf die Platte und starrte mit gesträubtem Schnurrbart und geröteten Augen zu seinem Bruder empor, der seinerseits aufrecht, bleich und mit halb gesenkten Lidern auf ihn hinabblickte. |
887 |
Christian kam auf den Charakter seines Bruders zurück und suchte aus alter Vergangenheit einzelne Züge, peinliche Anekdoten hervor, die Thomas' Egoismus belegen sollten und die Christian nicht hatte vergessen können, sondern mit sich umhergetragen und mit Bitterkeit durchtränkt hatte. |
888 |
Und der Senator antwortete ihm in übertriebenen Worten der Verachtung und der Drohung, die er zehn Minuten später bereute. Gerda hatte das Haupt leicht in die Hand gestützt und beobachtete die beiden mit verschleierten Augen und einem nicht bestimmbaren Gesichtsausdruck. |
889 |
Frau Permaneders Hingebung an ihren Kummer war so groß, daß sie nicht einmal daran dachte, die Tränen zu trocknen, die über ihre Wangen rannen. Sie saß vornüber gebeugt und zusammengesunken, und ein warmer Tropfen fiel auf ihre matt im Schoße ruhenden Hände hinab, ohne daß sie dessen achtete. |
890 |
Hieraus hatte Hanno geschlossen, daß er es nicht wagen dürfe, gegen den Besuch am offenen Sarge etwas einzuwenden. Wie beim weihnachtlichen Einzuge war ihm der große Raum entfremdet, als er ihn am Tage vorm Begräbnisse zwischen Vater und Mutter von der Säulenhalle aus betrat. |
891 |
Geradeaus, weiß leuchtend gegen das dunkle Grün großer Topfgewächse, die, mit hohen, silbernen Armleuchtern abwechselnd, einen Halbkreis bildeten, stand auf schwarzem Postamente die Kopie von Thorwaldsens Segnendem Christus, die draußen auf dem Korridor ihren Platz gehabt hatte. |
892 |
Es war ihre Gesellschaftshaube mit den weißseidenen Bändern und ihr rotbrauner Scheitel darunter. Aber diese spitze Nase, diese nach innen gezogenen Lippen, dieses hervorgeschobene Kinn, diese gelben, durchsichtigen, gefalteten Hände, denen man Kälte und Steifheit ansah, gehörten nicht ihr. |
893 |
Sein Kopf mit dem lockig in die Schläfen fallenden hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter zusammengezogenen Brauen blickten seine goldbraunen, von bläulichen Schatten umlagerten Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und grüblerischen Ausdruck in das Antlitz der Leiche. |
894 |
Und Pastor Pringsheim bohrte mit seiner Trauerrede in der Wunde herum, die der Tod geschlagen hatte, er führte mit Berechnung einem jeden vor Augen, was er verloren, er verstand es, Tränen auch dort hervorzupressen, wo von selbst keine geflossen wären, und dafür waren die Gerührten ihm dankbar. |
895 |
Schließlich beugte er sich über die Gruft, redete die Tote mit ihrem vollständigen Namen an und segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes. Als er verstummte und alle Herren mit ihren schwarz bekleideten Händen den Zylinder vor das Gesicht hielten, um still zu beten, kam ein wenig Sonne hervor. |
896 |
Es regnete nicht mehr, und in das Geräusch der Tropfen, die vereinzelt von Bäumen und Sträuchern fielen, klang hie und da ein kurzes, feines und fragendes Vogelzwitschern hinein. Und dann machte sich ein jeder daran, den Söhnen und dem Bruder der Toten noch einmal die Hand zu drücken. |
897 |
Seine Wangen, über die der spitz ausgezogene Schnurrbart hinausragte, rundeten sich; aber sie waren weißlich, bleich, ohne Blut und Leben. Seine leicht geröteten Augen blickten jedem Herrn, dessen Hand er während eines Augenblicks in der seinen hielt, mit einer matten Höflichkeit ins Gesicht. |
898 |
Frau Permaneder fand, wie zu erwarten stand, den Kaufpreis zum Lachen gering. Würde jemand, in Anbetracht der Erinnerungen, die sich für sie daran knüpften, eine Million für das Haus auf den Tisch gezählt haben, sie hätte dies als eine anständige Handlungsweise empfunden – weiter nichts. |
899 |
Nein, weit gefehlt, mein Kind. Er würde sich weder erfreuen noch erbosen darüber, sondern er würde erstaunt sein, kühl und gleichgültig erstaunt ... Die Sache ist die, daß du bei ihm dieselben Gefühle gegen dich und uns voraussetzest, die du gegen ihn hegst. Irrtum, Tony! Er haßt dich ja gar nicht. |
900 |
Durchaus kein Grund, so sonderbar wütend zu lachen, wie du da tust! Um aber auf das Haus zurückzukommen, so hat ja das alte längst kaum noch eine tatsächliche Bedeutung für die Familie, sondern die ist allmählich ganz auf das meine übergegangen ... ich sage das, um dich für jeden Fall zu trösten. |
901 |
Er war so außerordentlich fett, daß nicht nur sein Kinn, sondern sein ganzes Untergesicht doppelt war, was der kurzgehaltene, blonde Vollbart nicht verhüllte, ja, daß die geschorene Haut seiner Schädeldecke bei gewissen Bewegungen der Stirn und der Augenbrauen dicke Falten warf. |
902 |
Sein Gehaben war frei, sorglos, behaglich und weltmännisch, was seinen Eindruck auf Frau Permaneder nicht verfehlte, besonders da er aus Courtoisie sich mit seinen Worten fast immer an sie wandte. Er ließ sich sogar darauf ein, seinen Wunsch in beinahe entschuldigendem Ton ausführlich zu begründen. |
903 |
Zwischen den Pflastersteinen des Hofes wucherte Gras und Moos, die Treppen des Hauses waren in vollem Verfall, und die freie Katzenfamilie im Billardsaale konnte man nur flüchtig beunruhigen, indem man die Tür öffnete, ohne einzutreten, denn der Fußboden war hier nicht sicher. |
904 |
Selbst Christian, welcher, da er nach jenem Zusammenstoße im Frühstückszimmer von Heiratsgedanken nichts mehr hatte verlautbaren lassen, mit seinem Bruder in dem alten, für ihn nicht sehr ehrenvollen Verhältnis fortlebte, war gänzlich ungesprächig und zu keinem Spaße aufgelegt. |
905 |
Was für ihn zu erreichen gewesen war, hatte er erreicht, und er wußte wohl, daß er den Höhepunkt seines Lebens, wenn überhaupt, wie er bei sich hinzufügte, bei einem so mittelmäßigen und niedrigen Leben von einem Höhepunkte die Rede sein konnte, längst überschritten hatte. |
906 |
Was das rein Geschäftliche betraf, so galt im allgemeinen sein Vermögen für stark reduziert und die Firma für im Rückgange begriffen. Dennoch war er, sein mütterliches Erbe, den Anteil am Mengstraßenhause und den Grundbesitz eingerechnet, ein Mann von mehr als sechsmalhunderttausend Mark Kurant. |
907 |
War aber der Senator im Fortwirken für das alte Firmenschild, dem er ehemals mit soviel Enthusiasmus gedient hatte, durch erlittenes Mißgeschick und innere Mattigkeit gelähmt, so waren seinem Emporstreben im städtischen Gemeinwesen äußere Grenzen gezogen, die unüberschreitbar waren. |
908 |
Frau Permaneder hatte in der Fischergrube zu Abend gegessen und zwar allein; denn ihre Tochter, die gleichfalls gebeten worden war, hatte nachmittags ihrem Gatten im Gefängnis einen Besuch gemacht und fühlte sich, wie stets in diesem Falle, ermüdet und unwohl, weshalb sie zu Hause geblieben war. |
909 |
Anfangs zwar erbrach sich Hanno nach jedem Löffel, und sein Magen schien den guten Dorschlebertran nicht beherbergen zu können; aber er gewöhnte sich daran, und wenn man gleich nach dem Niederschlucken ein Stück Roggenbrot mit angehaltenem Atem im Munde zerkaute, so ward der Ekel ein wenig beruhigt. |
910 |
Aber er erhielt sie nicht mehr. Lebertran und Rizinusöl waren gute Dinge, aber darin war Doktor Langhals vollständig mit dem Senator einig, daß sie allein nicht hinreichten, den kleinen Johann zu einem tüchtigen und wetterfesten Manne zu machen, wenn er selbst nicht das Seine dazu täte. |
911 |
Ein einziges Mal ward er ein wenig gerächt. Gerade als ihn nämlich eines Nachmittags die beiden Hagenströms unter die Wasserfläche hielten, stieß der eine von ihnen plötzlich einen Wut- und Schmerzensschrei aus und hob sein eines fleischiges Bein empor, von dem das Blut in großen Tropfen rann. |
912 |
Neben ihm aber kam Kai Graf Mölln zum Vorschein, welcher sich auf irgendeine Weise das Eintrittsgeld verschafft hatte, unversehens unter Wasser herbeigeschwommen war und den jungen Hagenström gebissen – mit allen Zähnen ins Bein gebissen hatte, wie ein kleiner wütender Hund. |
913 |
Und Hanno hatte auch hierzu Lust. Er stieg zu seinem Vater in die Droschke und saß stumm an seiner Seite in den Empfangszimmern, indem er mit stillen Augen sein leichtes, taktsicheres und so verschiedenartiges, so sorgfältig abgetöntes Benehmen gegen die Leute beobachtete. |
914 |
Ach, das war die Wirkung nicht, die Thomas Buddenbrook von dem Einfluß seiner Persönlichkeit auf seinen Sohn erhoffte! Unbefangenheit vielmehr, Rücksichtslosigkeit und einen einfachen Sinn für das praktische Leben in ihm zu erwecken, auf nichts anderes waren all seine Gedanken gerichtet. |
915 |
Er regte sich nicht; er lag still auf dem Rücken in dem schmalen gelbhölzernen Bette, dessen Linnen vor Alter außerordentlich dünn und weich waren, schloß hie und da aufs neue seine Augen und fühlte, wie seine Brust in tiefen, langsamen Atemzügen vor Glück und Unruhe erzitterte. |
916 |
Nein, Gott sei gepriesen, hierher kam keiner der blanken Kammgarnröcke, die auf Erden Regeldetrie und Grammatik vertraten, hierher nicht, denn es war ziemlich kostspielig hier draußen ... Ein Anfall von Freude machte, daß er aus dem Bette sprang und auf nackten Füßen zum Fenster lief. |
917 |
Er zog das Rouleau empor, öffnete den einen Flügel, indem er den weißlackierten Haken löste, und blickte der Fliege nach, die über die Kieswege und Rosenbeete des Kurgartens hin davonflog. Der Musiktempel, im Halbkreise von Buchsbaum umwachsen, stand noch leer und still den Hotelgebäuden gegenüber. |
918 |
Hanno drückte den Kopf in die Wagenecke und sah, an Ida Jungmann vorbei, die frischäugig, weißhaarig und knochig ihm gegenüber auf dem Rückplatze saß, zum Fenster hinaus. Der Morgenhimmel war weißlich bedeckt, und die Trave warf kleine Wellen, die schnell vor dem Winde dahereilten. |
919 |
Sein Gesicht und seine Hände waren von der Seeluft gebräunt; aber wenn man mit diesem Badeaufenthalt den Zweck verfolgt hatte, ihn härter, energischer, frischer und widerstandsfähiger zu machen, so war man jämmerlich fehlgegangen; von dieser hoffnungslosen Wahrheit war er ganz erfüllt. |
920 |
Was bedeutete diese Frage, auf die Doktor Langhals ersichtlich eine Antwort erwartete? Eine wahnwitzige und phantastische Hoffnung, möglich gemacht durch die schwärmerische Überzeugung, daß allen Kammgarnmännern der Welt zum Trotz vor Gott nichts unmöglich sei, stieg in ihm auf. |
921 |
Einige Tage später traf, noch aus Hamburg, ein an seine Gattin gerichtetes Schreiben ein, in welchem er zu wissen tat, er sei entschlossen, sich keinesfalls eher mit Frau und Kind zu vereinigen oder auch nur von sich hören zu lassen, als bis er ihnen eine angemessene Existenz werde bieten können. |
922 |
In den Winkeln ihrer etwas zu kleinen und etwas zu nahe beieinander liegenden braunen Augen lagerten immer noch die bläulichen Schatten ... Man traute diesen Augen nicht. Sie blickten seltsam, und was etwa in ihnen geschrieben stand, vermochten die Leute nicht zu entziffern. |
923 |
Und da sie doch wünschten, sich die ganze Sache ein Stückchen näher zu bringen und überhaupt irgend etwas davon zu wissen und zu verstehen, so führte ihre bescheidene Phantasie sie zu der Annahme, es könne wohl nicht anders sein, als daß die schöne Gerda ihren alternden Mann nun ein wenig betröge. |
924 |
Ach, er wäre beinahe glücklich gewesen, wenn er ihn so hätte nennen und auffassen dürfen, ihn als einen windigen, unwissenden und ordinären Jungen hätte verstehen und verachten können, der seine normale Portion von Übermut in ein wenig Kunst ausströmen läßt und damit Frauenherzen gewinnt. |
925 |
Sein körperliches Befinden hatte sich verschlechtert. Appetit- und Schlaflosigkeit, Schwindel und jene Schüttelfröste, zu denen er immer geneigt hatte, zwangen ihn mehrere Male, Doktor Langhals zu Rate zu ziehen. Aber er gelangte nicht dazu, des Arztes Verordnungen zu befolgen. |
926 |
Seine Willenskraft, in Jahren voll geschäftiger und gehetzter Tatenlosigkeit angegriffen, reichte nicht aus dazu. Er hatte begonnen, am Morgen sehr lange zu schlafen, obgleich er jeden Abend den zornigen Entschluß faßte, sich früh zu erheben, um den anbefohlenen Spaziergang vorm Tee zu machen. |
927 |
Die beständige Anspannung des Willens ohne Erfolg und Genugtuung zehrte an seiner Selbstachtung und stimmte ihn verzweifelt. Er war weit entfernt, sich den betäubenden Genuß der kleinen, scharfen, russischen Zigaretten zu versagen, die er, seit seiner Jugend schon, täglich in Massen rauchte. |
928 |
Obgleich Thomas Buddenbrook in seinem Leben hie und da mit einer kleinen Neigung zum Katholizismus gespielt hatte, war er doch ganz erfüllt von dem ernsten, tiefen, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen Verantwortlichkeitsgefühl des echten und leidenschaftlichen Protestanten. |
929 |
Und Thomas Buddenbrook wandte sich enttäuscht und hoffnungslos von seinem einzigen Sohne ab, in dem er stark und verjüngt fortzuleben gehofft hatte, und fing an, in Hast und Furcht nach der Wahrheit zu suchen, die es irgendwo für ihn geben mußte ... Es war der Hochsommer des Jahres vierundsiebenzig. |
930 |
Dann aber stieß er auf ein umfängliches Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn her beeinflußbaren Ernst in der Miene. |
931 |
Er fühlte sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgend etwas unsäglich Neuem, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende Liebessehnsucht gemahnte. |
932 |
Aber als er mit kalten und unsicheren Händen das Buch in der Schublade des Gartentisches verwahrte, war sein glühender Kopf, in dem ein seltsamer Druck, eine beängstigende Spannung herrschte, als könnte irgend etwas darin zerspringen, nicht eines vollkommenen Gedankens fähig. |
933 |
Er wußte sich allein in dem großen Schlafgemach, denn Gerda schlief jetzt in Ida Jungmanns Zimmer, die kürzlich, um näher beim kleinen Johann zu sein, eines der drei Altan-Zimmer bezogen hatte. Es herrschte dichte Nacht um ihn her, da die Vorhänge der beiden hohen Fenster fest geschlossen waren. |
934 |
Ich werde leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben ... und daß dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine Täuschung, das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. |
935 |
Warum? – Und bei dieser Frage schlug die Nacht wieder vor seinen Augen zusammen. Er sah, er wußte und verstand wieder nicht das geringste mehr und ließ sich tiefer in die Kissen zurücksinken, gänzlich geblendet und ermattet von dem bißchen Wahrheit, das er soeben hatte erschauen dürfen. |
936 |
Die Mauern seiner Vaterstadt, in denen er sich mit Willen und Bewußtsein eingeschlossen, taten sich auf und erschlossen seinem Blicke die Welt, die ganze Welt, von der er in jungen Jahren dies und jenes Stückchen gesehen, und die der Tod ihm ganz und gar zu schenken versprach. |
937 |
Es gab nur eine unendliche Gegenwart, und diejenige Kraft in ihm, die mit einer so schmerzlich süßen, drängenden und sehnsüchtigen Liebe das Leben liebte, und von der seine Person nur ein verfehlter Ausdruck war – sie würde die Zugänge zu dieser Gegenwart immer zu finden wissen. |
938 |
Ich werde leben! flüsterte er in das Kissen, weinte und ... wußte im nächsten Augenblick nicht mehr, worüber. Sein Gehirn stand still, sein Wissen erlosch, und in ihm gab es plötzlich wieder nichts mehr als verstummende Finsternis. Aber es wird wiederkehren! versicherte er sich. |
939 |
Er stand spät auf und hatte sich sogleich an den Debatten einer Bürgerschaftssitzung zu beteiligen. Das öffentliche, geschäftliche, bürgerliche Leben in den giebeligen und winkeligen Straßen dieser mittelgroßen Handelsstadt nahm seinen Geist und seine Kräfte wieder in Besitz. |
940 |
Dieser ganzen, ein wenig unklaren und ein wenig absurden Geschichte, die aber kein Verständnis, sondern nur gehorsamen Glauben beanspruchte, und die in feststehenden und kindlichen Worten zur Hand sein würde, wenn die letzten Ängste kamen ... Wirklich? Ach, auch hierin gelangte er nicht zum Frieden. |
941 |
Eines Sonntages, als die Familie in der Fischergrube speiste, beschrieb er, wie er unter Aufbietung aller moralischen Kräfte auf Händen und Füßen habe zum offenen Fenster kriechen müssen, um es zu schließen ... Hier aber schrie alles auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören. |
942 |
Diese und ähnliche Dinge konstatierte er mit einer gewissen schauerlichen Genugtuung. Was er aber nicht beobachtete und nicht feststellte, was ihm unbewußt blieb und sich darum beständig verschlimmerte, war der sonderbare Mangel an Taktgefühl, der ihm mit den Jahren immer mehr zu eigen geworden war. |
943 |
Herr Gosch war ebenfalls noch Kurgast, gleich einigen wenigen Leuten, einer englischen Familie, einer ledigen Holländerin und einem ledigen Hamburger, die jetzt mutmaßlich ihr Schläfchen vor der Table d'hote hielten, denn es war überall totenstill, und nur der Regen planschte. |
944 |
Herr Gosch versuchte, seinen Grog zum Munde zu führen, stellte ihn zischend auf den Tisch zurück und hieb sich selbst mit der Faust auf den widerspenstigen Arm, worauf er das Glas aufs neue an seine schmalen Lippen riß, mehreres verschüttete und den Rest in Wut auf einmal hinuntergoß. |
945 |
Sie betonte wiederholt die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, verwarf kurzerhand jede Rangordnung der Stände, ließ harte Worte gegen Privilegien und Willkür fallen und verlangte ausdrücklich, daß dem Verdienste seine Krone werde. Und dann kam sie auf ihr Leben zu sprechen. |
946 |
Sie sprach gut, sie unterhielt ihren Bruder aufs beste. Dieses glückliche Geschöpf hatte, solange sie auf Erden wandelte, nichts, nicht das geringste hinunterzuschlucken und stumm zu verwinden gebraucht. Auf keine Schmeichelei und keine Beleidigung, die ihr das Leben gesagt, hatte sie geschwiegen. |
947 |
Alles, jedes Glück und jeden Kummer, hatte sie in einer Flut von banalen und kindisch wichtigen Worten, die ihrem Mitteilungsbedürfnis vollkommen genügten, wieder von sich gegeben. Ihr Magen war nicht ganz gesund, aber ihr Herz war leicht und frei – sie wußte selbst nicht, wie sehr. |
948 |
Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See lieben gelernt ... vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, weil es in weiterer Ferne lag. Jetzt möchte ich nicht mehr dorthin. Ich glaube, daß ich mich fürchten und schämen würde. |
949 |
Man klettert keck in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren. |
950 |
Dort saßen, die Hände in halb enthaarten Pelzmüffen und die Füße an Kohlenbecken wärmend, beleibte Weiber, die ihre naßkalten Gefangenen hüteten und die umherwandernden Köchinnen und Hausfrauen mit breiten Worten zum Kaufe einluden. Es war keine Gefahr, betrogen zu werden. |
951 |
Gesetzte, graubärtige und höchlichst verdiente Bürger stießen mit dem Gesichtsausdruck unerschütterlich nationalliberaler Gesinnung ihre Spazierstöcke vor sich her und blickten aufmerksam zu der Glasurziegelfassade des Rathauses hinüber, an dessen Portal die Doppelwache aufgezogen war. |
952 |
Er besaß einen rundgeschnittenen, ergrauenden Vollbart, furchtbar dicke Augenbrauen und eine lange, poröse Nase. Vor ein paar Jahren hatte er sich, nachdem er ein gutes Stück Geld verdient, von dem Weingeschäft zurückgezogen, das nun sein Bruder Eduard auf eigene Hand weiterführte. |
953 |
Die Entzündung pochte darin mit glühenden Hämmerchen und machte, daß ihm die Fieberhitze ins Gesicht und die Tränen in die Augen schossen. Die schlaflose Nacht hatte seine Nerven schrecklich angegriffen. Er hatte sich eben beim Sprechen zusammennehmen müssen, damit seine Stimme sich nicht breche. |
954 |
Sie gingen beide rasch durch das helle Zimmer zu dem großen, verstellbaren Stuhl mit Kopfpolster und grünplüschenen Armlehnen, der vor einem der beiden Fenster stand. Während er sich niederließ, erklärte Thomas Buddenbrook kurz, um was es sich handele, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. |
955 |
Er empfand kaum das Ansetzen und Zugreifen der Zange, bemerkte dann aber an dem Knirschen in seinem Munde sowie an dem wachsenden, immer schmerzhafter und wütender werdenden Druck, dem sein ganzer Kopf ausgesetzt war, daß alles auf dem besten Wege sei. Gott befohlen! dachte er. |
956 |
Nun muß es seinen Gang gehen. Dies wächst und wächst bis ins Maßlose und Unerträgliche, bis zur eigentlichen Katastrophe, bis zu einem wahnsinnigen, kreischenden, unmenschlichen Schmerz, der das ganze Gehirn zerreißt ... Dann ist es überstanden; ich muß es nun abwarten. |
957 |
Er vollführte eine halbe Drehung und schlug mit ausgestreckten Armen vornüber auf das nasse Pflaster. Da die Straße stark abfiel, befand sich sein Oberkörper ziemlich viel tiefer als seine Füße. Er war aufs Gesicht gefallen, unter dem sofort eine Blutlache sich auszubreiten begann. |
958 |
Der kleine Johann saß Stunde für Stunde auf seinem Puff, sah alles an und horchte auf die gurgelnden Laute. Er hätte sich eigentlich zum Privatunterricht im Rechnen begeben müssen, aber er begriff, daß dies Ereignisse waren, vor denen die Kammgarnröcke verstummen mußten. |
959 |
Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit der Pflegerin und empfahl sich wieder. Auch Doktor Grabow sprach noch einmal vor, sah mit mildem Gesicht nach dem Rechten und ging. Thomas Buddenbrook fuhr fort, gebrochenen Auges die Lippen zu bewegen und gurgelnde Laute auszustoßen. |
960 |
Es verhielt sich so mit ihm, daß er die Nachricht von dem Sturz des Senators im Klub erhalten hatte und auch sogleich aufgebrochen war. Aus Furcht jedoch vor irgendeinem gräßlichen Anblick hatte er einen weiten Spaziergang vors Tor unternommen, so daß niemand ihn hatte finden können. |
961 |
Es war still im Hause und auf der Straße. Selten wurden Schritte laut und verhallten. Die Gaslampe puffte leise, ein Name ward gemurmelt, das Papier knisterte. Zuweilen blickten alle einander an und erinnerten sich dessen, was geschehen war. Frau Permaneder kritzelte in höchster Geschäftigkeit. |
962 |
Er war beim Schreiben auf einen Namen gestoßen, irgendeinen kuriosen Klang, dem er nicht widerstehen konnte. Er wiederholte ihn, schnob durch die Nase, beugte sich vornüber, zitterte, schluchzte und konnte nicht an sich halten. Anfangs konnte man glauben, daß er weine; aber es war nicht an dem. |
963 |
Was man zunächst in der Sache zu tun hatte, war dies, daß man Kränze schickte, große Kränze, teure Kränze, Kränze, mit denen man Ehre einlegen konnte, die in den Zeitungsartikeln erwähnt werden würden, und denen man ansah, daß sie von loyalen und zahlungsfähigen Leuten kamen. |
964 |
Er lag inmitten des weiten und lichten Gemaches, dessen Möbel fortgeschafft waren, in den weißseidenen Polstern des Sarges, in weiße Seide gekleidet und mit weißer Seide bedeckt, in einem strengen und betäubenden Duftgemisch von Tuberosen, Veilchen und hundert anderen Gewächsen. |
965 |
Aber sein Haupthaar war wie im Leben frisiert, und der Schnurrbart, von dem alten Herrn Wenzel noch einmal mit der Brennschere ausgezogen, überragte lang und starr seine weißen Wangen. Sein Kopf war ein wenig zur Seite gewandt, und zwischen seinen zusammengefalteten Händen stak ein Elfenbeinkreuz. |
966 |
Sie hielt mit verschiedenen Personen Konferenzen ab in betreff des Begräbnisses, das sich unsäglich vornehm gestalten mußte. Sie arrangierte Abschiedsszenen. Sie ließ das Kontorpersonal heraufkommen, damit es seinem Chef ein letztes Lebewohl sage. Und dann mußten die Speicherarbeiter kommen. |
967 |
Frau Permaneder war entzückt. Sie behauptete, mehreren seien die Tränen in die harten Bärte geronnen. Das war einfach nicht wahr. Dergleichen war nicht vorgekommen. Aber wenn sie es doch so gesehen hatte und wenn es sie glücklich machte? Und der Tag der Beisetzung kam heran. |
968 |
Während er aber dort oben neben der Christusfigur die Hände vorm Gesicht rang und sie segnend spreizte, hielt drunten vorm Hause unter dem weißen Winterhimmel die vierspännige Leichenkutsche, an die sich die übrigen Wagen in langer Folge die Straße hinab bis zum Flusse reihten. |
969 |
Und wieder war die große Grabplatte mit dem plastisch gearbeiteten Familienwappen beiseitegeschafft worden, und wieder umstanden am Saume des kahlen Gehölzes die Herren der Stadt den ausgemauerten Schlund, in den nun Thomas Buddenbrook zu seinen Eltern hinabgelassen ward. |
970 |
Er hatte sein ganzes Vermögen verfrühstückt, war schließlich dem Hunyadi-Janos erlegen und hinterließ seiner Tochter eine Rente von zweihundert Mark jährlich, indem er es der öffentlichen Pietät gegen den Namen Döhlmann anheimgab, sie durch Aufnahme in das Johanniskloster zu versorgen. |
971 |
Im übrigen aber hatte er nicht viel Glück bei den Geschäften und zog sich sehr bald die Unzufriedenheit Gerda Buddenbrooks zu. Die Dinge lagen so, daß liquidiert werden, daß die Firma verschwinden sollte, und zwar binnen eines Jahres; dies war des Senators letztwillige Bestimmung. |
972 |
Wie zu erwarten stand, erstreckten sich Frau Permaneders Proteste auch auf den Verkauf des von ihrem Bruder erbauten Hauses. Sie jammerte laut über den üblen Eindruck, den dies hervorrufen könne, und klagte, daß es für den Namen der Familie eine neue Einbuße an Prestige bedeuten werde. |
973 |
Das schlohweiße Haar von allen Seiten ins Gesicht gestrichen, starrte er ihr mit gräßlich vorgeschobenem Kinn von unten herauf ins Angesicht und erreichte es, vollkommen bucklig auszusehen. Seine Stimme zischte, aber er sprach kalt und geschäftlich, und nichts verriet die Erschütterung seiner Seele. |
974 |
Sie hatte diese Frau, die weit später in die Familie eingetreten war als sie, eigentlich niemals recht als zugehörig und vollwertig angesehen und begann andererseits in vorgerückten Jahren mit dem Dünkel einer alten Dienerin sich selbst übertriebene Befugnisse anzumaßen. |
975 |
Der alten Ida Verabschiedung schloß sich in seiner Anschauung folgerichtig den anderen Vorgängen des Abbröckelns, des Endens, des Abschließens, der Zersetzung an, denen er beigewohnt hatte. Dergleichen befremdete ihn nicht mehr; es hatte ihn seltsamerweise niemals befremdet. |
976 |
Zweites Kapitel Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam. Es war ein heiseres und geborstenes Geräusch, ein Klappern mehr als ein Klingeln, denn sie war altgedient und abgenutzt; aber es dauerte lange, hoffnungslos lange, denn sie war gründlich aufgezogen. |
977 |
Äußerlich aber blieb er ganz ruhig, veränderte seine Lage im Bette nicht und riß nur rasch, aus irgendeinem verwischten Morgentraume gejagt, die Augen auf. Es war vollkommen finster in der winterkalten Stube; er unterschied keinen Gegenstand und konnte die Zeiger der Uhr nicht sehen. |
978 |
Er hatte am Montag frühzeitig aufstehen wollen und diese albernen Sachen erledigen – damit genug! Nun war er frei umhergegangen, hatte die Freude seines Herzens gepflegt, am Flügel geträumt und alle Widrigkeiten vergessen. Und dann war das Glück zur Wirklichkeit geworden. |
979 |
Und endlich war doch das Ende gekommen. Das singende, schimmernde Glück war verstummt und erloschen, mit fiebrigem Kopfe hatte er sich daheim in seinem Zimmer wiedergefunden und war gewahr worden, daß nur ein paar Stunden des Schlafes dort in seinem Bett ihn von grauem Alltag trennten. |
980 |
Da hatte ihn ein Anfall jener gänzlichen Verzagtheit überwältigt, die er so wohl kannte. Er hatte wieder empfunden, wie wehe die Schönheit tut, wie tief sie in Scham und sehnsüchtige Verzweiflung stürzt und doch auch den Mut und die Tauglichkeit zum gemeinen Leben verzehrt. |
981 |
Dann hatte er den Wecker gerichtet und geschlafen, so tief und tot, wie man schläft, wenn man niemals wieder erwachen möchte. Und nun war der Montag da, und es war sechs Uhr, und er hatte für keine Stunde gearbeitet! Er richtete sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttische. |
982 |
Und Hanno Buddenbrook schlief, die Wange in das Kissen geschmiegt. Er schlief mit getrennten Lippen und tief und fest gesenkten Wimpern, mit dem Ausdruck einer inbrünstigen und schmerzlichen Hingabe an den Schlaf, und sein weiches, hellbraunes Haar bedeckte gelockt seine Schläfen. |
983 |
Als es sieben Uhr war, erwachte er wieder mit Schrecken. Nun war auch diese Frist abgelaufen. Aufstehen und den Tag auf sich nehmen – es gab nichts, um das abzuwenden. Eine kurze Stunde nur noch bis zum Schulanfang ... Die Zeit drängte, von den Arbeiten nun ganz zu schweigen. |
984 |
Zehn Minuten nach sieben Uhr riß er sich los und fing an, sich in höchster Hast im Zimmer hin und her zu bewegen. Die Kerze brannte fort, denn das Tageslicht allein genügte noch nicht. Als er eine Eisblume zerhauchte, sah er, daß draußen dichter Nebel herrschte. Ihn fror über alle Maßen. |
985 |
Seine Fingerspitzen brannten und waren so geschwollen, daß mit der Nagelbürste nichts anzufangen war. Als er sich den Oberkörper wusch, ließ seine beinah erstorbene Hand den Schwamm zu Boden fallen, und er stand einen Augenblick starr und hilflos da, qualmend wie ein schwitzendes Pferd. |
986 |
Das heiße Getränk tat entsetzlich weh an einem Backenzahn, den gerade Herr Brecht in Behandlung gehabt hatte ... Er ließ die Hälfte stehen, verschmähte auch das Ei, ließ mit verzerrtem Munde einen leisen Laut vernehmen, den man als Adieu deuten mochte, und lief aus dem Hause. |
987 |
Er starrte den Leuten ins Gesicht, die an ihm vorübergingen. Sie begaben sich in ihre Kontore und an ihre Geschäfte, sie eilten gar nicht sehr, und nichts drohte ihnen. Manche erwiderten seinen neidischen und klagenden Blick, musterten seine aufgelöste Erscheinung und lächelten. |
988 |
Und mit Keuchen nach Luft ringend, aufgerieben und in kaltem Schweiße erstarrt, schleppte er sich über den mit roten Klinkern gepflasterten Hof und durch eine der hübschen, mit bunten Glasscheiben versehenen Klapptüren ins Innere ... Es war alles neu, reinlich und schön hier in der Anstalt. |
989 |
Der Zeit war ihr Recht geworden, und die grauen und altersmorschen Teile der ehemaligen Klosterschule, in denen noch die Väter der jetzigen Generation der Wissenschaft gepflogen hatten, waren der Erde gleichgemacht, um neue, luftige, prächtige Baulichkeiten an ihrer Stelle erstehen zu lassen. |
990 |
Auf der obersten Stufe spähte er, vorgebeugt, den langen Wandelgang entlang, an dessen beiden Seiten sich die mit Porzellanschildern versehenen Eingänge zu den verschiedenen Klassen reihten, tat drei rasche, geräuschlose Schritte vorwärts und befand sich im Zimmer. Es war leer. |
991 |
Ein unsägliches Wohlgefühl durchrieselte ihn. Diese kahle und harte Stube war häßlich und hassenswert, und auf seinem Herzen lastete der ganze drohende Vormittag mit tausend Gefahren. Aber er war doch fürs erste in Sicherheit, war körperlich geborgen und konnte die Dinge an sich herankommen lassen. |
992 |
An dem Vibrieren des Papierzüngleins dort oben vor der kreisrunden Öffnung in der Wand sah man, wie die warme Luft hereinströmte, und auch die Gasflammen heizten den Raum. Ach, man konnte sich strecken und die starr-feuchten Glieder langsam sich lösen und auftauen lassen. |
993 |
Am Montagmorgen kann man es ja nicht erwarten, endlich wieder in die Anstalt zu gelangen, wie du selbst am besten weißt, mein Lieber ... Nein, ich bin nur zum Spaß hier oben geblieben. Der tiefe Oberlehrer hatte die Aufsicht und achtete es nicht für Raub, das Volk zur Andacht hinunterzutreiben. |
994 |
Es war ihm ebenfalls sehr schlecht zumute. Er ging zum Katheder, setzte sich darauf und fing an, sich mit finsterer Miene in dem Armstuhl zu schaukeln. Hanno Buddenbrook ließ seine Stirn noch immer auf den gekreuzten Armen ruhen. So saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber. |
995 |
Es kam heran, mit Schlürfen, Stampfen und einem Gewirr von männlichen Stimmen, Diskanten und sich überschlagenden Wechselorganen, flutete über die Treppen herauf, ergoß sich über den Korridor und strömte auch in dieses Zimmer, das plötzlich von Leben, Bewegung und Geräusch erfüllt ward. |
996 |
Adolf Todtenhaupt aber, der Primus, wußte alles; er war seiner Lebtage noch nicht eine Antwort schuldig geblieben. Das lag zum Teil an seinem stillen, leidenschaftlichen Fleiße, zum Teil daran, daß die Lehrer sich hüteten, ihn etwas zu fragen, was er vielleicht nicht hätte wissen können. |
997 |
Er schob das griffeste Messer, mit dem er sich beschäftigt hatte, in die Hosentasche, stand geräuschvoll auf, ließ die Unterlippe hängen und räusperte sich mit rauher und roher Männerstimme. Alle waren unzufrieden, daß nun er statt des sanften Perlemann an die Reihe kam. |
998 |
Aber es fehlt Ihnen an der rechten Hingebung, und Sie sind nicht allein ein schwacher Mensch, Sie sind auch immer bereit, ihre Schwäche zu beschönigen und zu verteidigen. Merken Sie sich aber, daß, solange dies der Fall, an eine Erhebung und Besserung nicht zu denken ist, Heinricy. |
999 |
Kein Mensch hörte ihm zu. Friede und Schläfrigkeit herrschten im Zimmer. Die Hitze war durch die beständig arbeitende Heizung und die Gaslampen schon ziemlich stark geworden und die Luft durch diese fünfundzwanzig atmenden und dünstenden Körper schon ziemlich verdorben. |
1000 |
Hanno Buddenbrook schloß seine Bibel und reckte sich zitternd und mit nervösem Gähnen; als er aber die Arme senkte und die Glieder abspannte, mußte er eilig und mühsam aufatmen, um sein Herz, das einen Augenblick schwach und wankend den Dienst versagte, ein wenig in Takt zu bringen. |
1001 |
Sie schwiegen beide. Hanno sah jämmerlich elend aus und Kai war in Gedanken. Auf dem großen Hofe angelangt, begannen sie auf und nieder zu wandern, inmitten der Menge von Kameraden verschiedenen Alters, die sich auf den feuchtroten Fliesen geräuschvoll durcheinander bewegten. |
1002 |
Man redete in einem Jargon, der zugleich salopp und schneidig war und von technischen Ausdrücken wimmelte. Trink- und Rauchtüchtigkeit, Körperstärke und Turnertugend standen sehr hoch in der Schätzung, und die verächtlichsten Laster waren Weichlichkeit und Geckenhaftigkeit. |
1003 |
Hanno kannte diese Geschichte wohl und liebte sie sehr; aber er war jetzt nicht aufgelegt, von Kais Arbeiten oder von Edgar Poe zu sprechen. Er gähnte wieder und seufzte dann, indem er gleichzeitig ein Motiv vor sich hinsang, das er kürzlich am Flügel erfunden hatte. Dies war so seine Gewohnheit. |
1004 |
Die ungeheure Autorität, die in seinen Händen lag, machte ihn schauerlich launenhaft und unberechenbar. Er war imstande, etwas Scherzhaftes zu sagen und fürchterlich zu werden, wenn man lachte. Keine seiner zitternden Kreaturen wußte Rat, wie man sich ihm gegenüber zu benehmen habe. |
1005 |
Er war der Ordinarius, und es war Sitte, vor dem Ordinarius Respekt zu haben. Er zog die Tür hinter sich zu, indem er sich bückte, reckte den Hals, um zu sehen, ob alle standen, hing seinen Hut an den Nagel und ging dann rasch zum Katheder, wobei er seinen Kopf in schnellem Wechsel hob und senkte. |
1006 |
Er war guter Laune, es war offenbar. Eine Bewegung der Erleichterung ging durch den Raum. Es kam so viel, es kam alles darauf an, ob Doktor Mantelsack guter Laune war oder nicht, denn man wußte, daß er sich seinen Stimmungen unbewußt und ohne die geringste Selbstkritik überließ. |
1007 |
Bei diesem Verfahren dachte er sich nicht das geringste, sondern fand es vollständig in der Ordnung und ahnte nichts von Parteilichkeit. Hätte jemand den traurigen Mut besessen, dagegen zu protestieren, so wäre er der Aussicht verlustig gegangen, jemals geduzt und mit Vornamen genannt zu werden. |
1008 |
Nein, war es möglich? Doktor Mantelsack war so guter Laune, daß er einfach einen Liebling herausgriff und sich gar nicht darum kümmerte, wer heute ordnungsmäßig vorgenommen werden mußte ... Der dicke Lüders stand auf. Er hatte ein Mopsgesicht und braune apathische Augen. |
1009 |
Es war ein blonder Junge von ländlichem Äußeren, mit einer hellbraunen Jacke und kurzen, breiten Fingern. Er hielt seinen Mund mit eifrigem und törichtem Ausdruck trichterförmig geöffnet und rückte hastig sein offenes Buch zurecht, indem er angestrengt geradeaus blickte. |
1010 |
Das Merkwürdige aber war, daß in diesem Augenblick nicht allein der Lehrer, sondern auch Timm selbst und seine sämtlichen Kameraden der aufrichtigen Ansicht waren, daß Timm wirklich und wahrhaftig ein guter und fleißiger Schüler sei, der seine gute Note vollauf verdient hatte. |
1011 |
Zum drittenmal würden die Verse kaum rezitiert werden müssen, und bei der Neupräparation war der Buchstabe B erst kürzlich an der Reihe gewesen ... Mumme erhob sich. Er war ein langer, bleicher Mensch mit zitternden Händen und außerordentlich großen, runden Brillengläsern. |
1012 |
Er wollte Offizier werden und war so beseelt von Kameradschaftlichkeit, daß er selbst Johann Buddenbrook, den er doch nicht leiden mochte, nicht im Stiche ließ. Er wies sogar mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo anzufangen war ... Und Hanno starrte dorthin und fing an zu lesen. |
1013 |
Ja, die Stunde sollte nicht vorübergehen, ohne daß eine Katastrophe eintrat, weit schrecklicher als diejenige mit dem armen, kurzsichtigen Mumme ... Petersen übersetzte, indem er dann und wann einen Blick auf die andere Seite seines Buches warf, dorthin, wo er eigentlich gar nichts zu suchen hatte. |
1014 |
Doktor Mantelsack nämlich vollführte plötzlich eine heftige Bewegung, die Petersen mit einer ebensolchen Bewegung beantwortete. Und in demselben Augenblick verließ der Ordinarius das Katheder, er stürzte sich förmlich kopfüber hinab und ging mit langen, unaufhaltsamen Schritten auf Petersen zu. |
1015 |
Wer unter diesen fünfundzwanzig jungen Leuten von rechtschaffener Konstitution, stark und tüchtig für das Leben war, wie es ist, der nahm in diesem Augenblicke die Dinge völlig wie sie lagen, fühlte sich nicht durch sie beleidigt und fand, daß alles selbstverständlich und in der Ordnung sei. |
1016 |
Und als es mit den Produktionen der Schüler zu Ende war, hatte die Stunde auch jedes Interesse verloren. Doktor Mantelsack ließ einen Hochbegabten auf eigene Faust weiter übersetzen und hörte ebensowenig zu wie die anderen vierundzwanzig, die anfingen, sich für die nächste Stunde zu präparieren. |
1017 |
Dies war nun gleichgültig. Man konnte niemandem ein Zeugnis dafür geben, noch überhaupt den dienstlichen Eifer darnach beurteilen ... Auch war die Stunde nun gleich zu Ende. Sie war zu Ende; es schellte. So hatte es kommen sollen für Hanno. Sogar ein Kopfnicken hatte er bekommen. |
1018 |
Ein Hahnenschrei zerriß die Luft, und dort hinten saß Wasservogel und grunzte genau wie ein Schwein, ohne daß man sehen konnte, daß diese Laute aus seinem Innern kamen. An der Wandtafel prangte eine große Kreidezeichnung, eine schielende Fratze, die der Rhapsode Timm vollbracht hatte. |
1019 |
Dies tat er nicht, um jemanden einzuschreiben; sondern, obgleich er bereits fünf oder sechs Unterrichtsstunden in dieser Klasse erteilt hatte, kannte er doch die Schüler bis auf einige wenige noch nicht und war genötigt, die Namen aufs Geratewohl aus dem schriftlichen Verzeichnis abzulesen. |
1020 |
Er kannte den Schüler Buddenbrook nur deshalb, weil er sich durch stilles Verhalten von den anderen unterschieden hatte, und diese Sanftmut nützte er dazu aus, ihn unaufhörlich die Autorität fühlen zu lassen, die er den Lauten und Frechen gegenüber nicht geltend zu machen wagte. |
1021 |
Ich nehme nicht daran teil, Sie zu quälen und auszubeuten, Kandidat Modersohn, weil ich das brutal, häßlich und gewöhnlich finde, und wie antworten Sie mir? Aber so ist es, so ist es, so wird es immer und überall sich verhalten, dachte er, und Furcht und Übelkeit stiegen wieder in ihm auf. |
1022 |
Die Zügellosigkeit berauschte die fünfundzwanzig. Die ungeordneten Instinkte ihrer sechzehn, siebzehn Jahre wurden wach. Blätter mit den obszönsten Bleistiftzeichnungen wurden emporgehoben, umhergeschickt und gierig belacht ... Auf einmal verstummte alles. Der Rezitierende unterbrach sich. |
1023 |
Jemand seufzte vor Anstrengung, und dann war alles wieder still. Direktor Wulicke musterte eine Weile die salutierenden Kolonnen, worauf er die Arme mit den trichterförmigen schmutzigen Manschetten erhob und sie mit weitgespreizten Fingern senkte, wie jemand, der voll in die Tasten greift. |
1024 |
Und wie bislang nur die Schüler geprüft und begutachtet worden waren, so geschah es nun gleichzeitig auch mit dem Lehrer ... Ach, es erging beiden Teilen schlecht! Das Erscheinen Direktor Wulickes war eine Überrumpelung, und niemand, bis auf zwei oder drei, war vorbereitet. |
1025 |
Es schellte, die Stunde war aus. So hatte es kommen sollen. Ja, so war es immer. Wenn man sich am meisten ängstigte, so ging es einem, wie aus Hohn, beinahe gut; aber wenn man nichts Übles gewärtigte, so kam das Unglück. Hannos Avancement zu Ostern war nun endgültig unmöglich. |
1026 |
Er stand auf und ging mit müden Augen aus dem Zimmer, indem er seine Zunge an dem kranken Backenzahne scheuerte. Kai kam zu ihm, legte den Arm um ihn und ging mit ihm, inmitten der erregten Kameraden, die über die außerordentlichen Ereignisse disputierten, auf den Hof hinunter. |
1027 |
Hier ist die Tür, sie ist offen, es ist kein Gitter davor, nichts, kein Hindernis, hier ist die Schwelle. Und dennoch ist es unmöglich, schon der Gedanke ist unmöglich, auch nur auf eine Sekunde hinauszutreten ... Nun, sehen wir davon ab! Aber nehmen wir ein anderes Beispiel. |
1028 |
Soll ich umherreisen und spielen? Erstens würden sie es mir nicht erlauben, und zweitens werde ich nie genug dazu können. Ich kann beinahe nichts, ich kann nur ein bißchen phantasieren, wenn ich allein bin. Und dann stelle ich mir das Umherreisen auch schrecklich vor ... Mit dir ist es so anders. |
1029 |
Du hast mehr Mut. Du gehst hier herum und lachst über das Ganze und hast ihnen etwas entgegenzuhalten. Du willst schreiben, willst den Leuten Schönes und Merkwürdiges erzählen, gut: das ist etwas. Und du wirst sicher berühmt werden, du bist so geschickt. Woran liegt es? Du bist lustiger. |
1030 |
Manchmal in der Stunde sehen wir uns an, wie vorhin einen Augenblick, bei Herrn Mantelsack, als Petersen unter allen, die abgelesen hatten, einen Tadel bekam. Wir denken dasselbe, aber du schneidest eine Fratze und bist stolz ... Ich kann das nicht. Ich werde so müde davon. |
1031 |
Bei mir dauert es vier Wochen. Es will nicht heilen, es entzündet sich, es wird schlimm und macht mir unmäßige Beschwerden ... Neulich sagte mir Herr Brecht, um meine Zähne sähe es jämmerlich aus, fast alle seien schon unterminiert und verbraucht, nicht zu reden von denen, die ausgezogen sind. |
1032 |
Sein Gesicht war bleich, und auf seinen Händen, deren Poren weit offen standen, wuchs nicht ein einziges Härchen. Dies war der geistreiche Oberlehrer, Herr Doktor Mühsam. Er litt zuweilen an Lungenblutungen und sprach beständig in ironischem Tone, weil er sich für ebenso witzig wie leidend hielt. |
1033 |
Hanno Buddenbrook aber fuhr fort, über seinem Heft zu brüten und lieferte schließlich ein beinahe leeres Blatt ab, worauf er wieder mit Kai hinausging. Für heute war nun alles überstanden. Wohl dem, der glücklich davongekommen war und dessen Bewußtsein von keinem Tadel beschwert wurde. |
1034 |
Er konnte nun frei und wohlgemut bei Herrn Drägemüller im hellen Saale sitzen und zeichnen ... Der Zeichensaal war weit und licht. Gipsabgüsse nach der Antike standen auf den Wandborden, und in einem großen Schranke gab es allerhand Holzklötze und Puppenmöbel, die ebenfalls als Modelle dienten. |
1035 |
Kai schrieb an seiner neuen literarischen Arbeit in dieser Stunde, und Hanno beschäftigte sich damit, daß er in Gedanken eine Orchester-Ouvertüre aufführte. Dann war es aus, man holte seine Sachen herunter, der Weg durch die Hoftore war freigegeben, man ging nach Hause. |
1036 |
Er ging in sein Zimmer hinauf, wo Fräulein Clementine ein wenig Frühstück für ihn bereitgestellt hatte, wusch sich und aß. Als er fertig war, nahm er aus dem Pulte ein Päckchen jener kleinen, scharfen russischen Zigaretten, die ihm ebenfalls nicht mehr unbekannt waren, und begann zu rauchen. |
1037 |
Eine Fermate kam, und eine Stille. Und siehe, plötzlich war, ganz leise, in einer Klangfarbe von mattem Silber, das erste Motiv wieder da, diese armselige Erfindung, diese dumme oder geheimnisvolle Figur, dieses süße, schmerzliche Hinsinken von einer Tonart in die andere. |
1038 |
Zu gleicher Zeit bemächtigt sich seiner eine physische Mattigkeit, die sich nicht allein auf Muskeln und Sehnen, sondern auch auf die Funktionen aller inneren Organe erstreckt, und nicht zuletzt auf die des Magens, der die Aufnahme von Speise mit Widerwillen verweigert. |
1039 |
Es besteht ein starkes Schlafbedürfnis, allein trotz äußerster Müdigkeit ist der Schlaf unruhig, oberflächlich, beängstigt und unerquicklich. Das Gehirn schmerzt; es ist dumpf, befangen, wie von Nebeln umhüllt, und von Schwindel durchzogen. Ein unbestimmter Schmerz sitzt in allen Gliedern. |
1040 |
Seine schlaffe Hilflosigkeit hat sich bis zum Unreinlichen und Widerwärtigen gesteigert. Auch sind sein Zahnfleisch, seine Zähne und seine Zunge mit einer schwärzlichen Masse bedeckt, die den Atem verpestet. Mit aufgetriebenem Unterleibe liegt er regungslos auf dem Rücken. |
1041 |
Alle acht Damen waren schwarz gekleidet. Es war eine kleine Familienzusammenkunft, um Abschied zu nehmen, Abschied von Gerda Buddenbrook, die im Begriff stand, die Stadt zu verlassen und nach Amsterdam zurückzukehren, um wie ehemals mit ihrem alten Vater Duos zu spielen. |
1042 |
Ihre Kusine, die arme Klothilde, nahm Gerdas Abreise, wie man alle Dinge im Diesseits zu nehmen hat, gleichmütig und sanft. Sie hatte vorhin beim Abendessen still und gewaltig zugelangt und saß nun da, aschgrau und mager wie stets, mit gedehnten und freundlichen Worten. |
1043 |
Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und erwartete dort sie alle. Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man während des Sommers einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des süsslichen Dunstes, der von einer nahen Zuckerbrennerei fast immer herüberwehte. |
1044 |
Er war nicht schön, der kleine Johannes, und wie er so mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel zu langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden Eifer seine Nüsse knackte, bot er einen höchst seltsamen Anblick. |
1045 |
Auf der Bank, die dort stand, sass jenes Mädchen neben einem langen, rotköpfigen Jungen, den er sehr wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drückte einen Kuss auf ihre Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes Friedemann dies gesehen hatte, machte er kehrt und ging leise von dannen. |
1046 |
Man behandelte ihn mit Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend, und friedlich und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten Lebensjahre aber starb nach langem Leiden seine Mutter. Das war ein grosser Schmerz für Johannes Friedemann, den er sich lange bewahrte. |
1047 |
Er war unterrichtet über die neueren Erscheinungen des In- und Auslandes, er wusste den rhythmischen Reiz eines Gedichtes auszukosten, die intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle auf sich wirken zu lassen ... oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein Epikuräer war. |
1048 |
Er nahm alle seine Empfindungen und Stimmungen bereitwilligst auf und pflegte sie, die trüben so gut wie die heiteren: auch die unerfüllten Wünsche, – die Sehnsucht. Er liebte sie um ihrer selbst willen und sagte sich, dass mit der Erfüllung das Beste vorbei sein würde. |
1049 |
Der beleibte, joviale Herr, der lange Jahre hindurch diesen Posten innegehabt hatte, war in den gesellschaftlichen Kreisen sehr beliebt gewesen, und man sah ihn ungern scheiden. Gott weiss, infolge welches Umstandes nun ausgemacht Herr von Rinnlingen aus der Hauptstadt hierher gelangte. |
1050 |
Über ihrer kurzen, aber recht fein geschnittenen Nase sass ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was sie gut kleidete; ob aber ihr Mund schön war, konnte man nicht erkennen, denn sie schob unaufhörlich die Unterlippe vor und wieder zurück, indem sie sie an der Oberlippe scheuerte. |
1051 |
Dann aber liess er sich auf seinem Sessel nieder, dem Platze links von Frau Rinnlingen. Sie blickte ihn, während er sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem sie die Unterlippe vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten, der hinter ihr stand, ein paar Worte zu wechseln. |
1052 |
Als die Ouvertüre begann und Frau von Rinnlingen sich über die Brüstung beugte, liess Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick über sie hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als die einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. |
1053 |
Herr Friedemann sah es ohne hinzublicken, fuhr mit seinem Taschentuch leicht über die Stirn, stand plötzlich auf, ging bis an die Thür, die auf den Korridor führte, kehrte wieder um, setzte sich an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der Stellung, die er vorher innegehabt hatte. |
1054 |
Er setzte sich an den Schreibtisch am offenen Fenster und starrte geradeaus auf eine grosse, gelbe Rose, die jemand ihm dort ins Wasserglas gestellt hatte. Er nahm sie und atmete mit geschlossenen Augen ihren Duft; aber dann schob er sie mit einer müden und traurigen Geberde beiseite. |
1055 |
Er wandte sich zur Seite und blickte auf die stille Strasse hinaus. Dann und wann klangen Schritte auf und hallten vorüber. Die Sterne standen und glitzerten. Wie todmüde und schwach er wurde! Sein Kopf war so leer, und seine Verzweiflung begann, in eine grosse, sanfte Wehmut sich aufzulösen. |
1056 |
War nicht alles wie sonst? Zugegeben, dass es gestern ein schlimmer Anfall gewesen war; nun, aber damit sollte es ein Ende haben! Noch war es nicht zu spät, noch konnte er dem Verderben entrinnen! Jeder Veranlassung musste er ausweichen, die den Anfall erneuern könnte; er fühlte die Kraft dazu. |
1057 |
Er war zufrieden mit sich und stolz auf seine Entschlossenheit. Als er fertig war, nahm er eine Cigarre und setzte sich wieder ans Fenster. Das Frühstück hatte ihm wohl gethan, und er fühlte sich glücklich und hoffnungsvoll. Er nahm ein Buch, las, rauchte und blickte blinzelnd hinaus in die Sonne. |
1058 |
Um zehn Uhr hörte er die Schwestern über die Diele kommen, hörte die Hausthür knarren und sah die drei Damen dann am Fenster vorübergehen, ohne dass er besonders darauf achtete. Eine Stunde verging; er fühlte sich glücklicher und glücklicher. Eine Art von Übermut begann ihn zu erfüllen. |
1059 |
Nun war es entschieden, und es gab kein Zurück. Mochte alles seinen Gang gehen, dachte er. In ihm war es plötzlich totenstill. Die Thür sprang auf, der Diener kam ihm über den Vorplatz entgegen, nahm die Karte in Empfang und eilte damit die Treppe hinauf, auf der ein roter Läufer lag. |
1060 |
Sein Gesicht war bleich, und über den geröteten Augen klebte das Haar an der Stirn; die Hand, in der er den Cylinder hielt, zitterte unaufhaltsam. Der Diener öffnete, und er trat ein. Er sah sich in einem ziemlich grossen, halbdunklen Gemach; die Fenster waren verhängt. |
1061 |
Auch die Tapete war dunkel. Hinten im Erker standen Palmen. Eine Minute verging, bis Frau von Rinnlingen rechts die Portiere auseinanderschlug und ihm auf dem dicken braunen Teppich lautlos entgegenkam. Sie trug ein ganz einfach gearbeitetes, rot und schwarz gewürfeltes Kleid. |
1062 |
Es entstand eine Pause. Da änderte sich plötzlich der Ausdruck ihres Gesichtes. Er sah, wie es sich in einem kaum merklichen grausamen Spott verzerrte, wie ihre Augen sich wieder mit jenem unheimlichen Zittern fest und forschend auf ihn richteten, wie schon zweimal vorher. |
1063 |
Konnte sie, wenn sie ihn durchschaute, nicht ein wenig Mitleid mit ihm haben?... Er war unten am Flusse entlang gegangen, neben dem grün bewachsenen Walle hin, und er setzte sich auf eine Bank, die von Jasmingebüsch im Halbkreis umgeben war. Rings war alles voll süssen, schwülen Duftes. |
1064 |
Aber wozu noch kämpfen und sich quälen? Mochte alles seinen Lauf nehmen! Mochte er seinen Weg weitergehen und die Augen schliessen vor dem gähnenden Abgrund dort hinten, gehorsam dem Schicksal, gehorsam der überstarken, peinigend süssen Macht, der man nicht zu entgehen vermag. |
1065 |
Ihre Wangen waren heute Abend ein wenig gerötet, aber wie immer lagerten bläuliche Schatten in den Winkeln ihrer Augen. Herr Friedemann blickte auf seinen Teller nieder und brachte irgend etwas als Antwort hervor, worauf er der Gymnasialdirektorin die Frage beantworten musste, ob er Beethoven liebe. |
1066 |
Eine Gruppe hatte sich um den Springbrunnen versammelt, wo der alte, beliebte Arzt unter allgemeinem Gelächter Papierschiffchen schwimmen liess. Frau von Rinnlingen ging mit einem leichten Kopfnicken vorüber und wies in die Ferne, wo der zierliche und duftende Blumengarten zum Park sich verdunkelte. |
1067 |
Am Eingange standen zwei niedrige, breite Obelisken. Dort hinten, am Ende der schnurgeraden Kastanienallee sahen sie grünlich und blank den Fluss im Mondlicht schimmern. Rings umher war es dunkel und kühl. Hie und da zweigte ein Seitenweg ab, der im Bogen wohl ebenfalls zum Flusse führte. |
1068 |
Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhob den Oberkörper und liess ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr. Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick verstummt. |
1069 |
Sie ist eine gute Begleiterin, die schweigt und manchmal nur gross und liebevoll die Augen zu mir emporschlägt. Wir sind den Strandweg nach Kronshafen gegangen, aber wir sind recht zeitig wieder umgekehrt, bevor wir noch mehr als einen oder zwei Menschen getroffen hatten. |
1070 |
Wie gut ich es mir gewählt habe! Schlicht und grau blickt es von dem Hügel, dessen Gras nun welk und feucht und dessen Weg aufgeweicht ist, über das graue Meer hinaus. Auf der Rückseite führt die Chaussee vorbei, und dahinter sind Felder. Aber darauf achte ich nicht; ich achte nur auf das Meer. |
1071 |
Den 18. September. Während der letzten Tage bin ich nicht ausgegangen, sondern habe die meiste Zeit auf der Chaiselongue zugebracht. Ich konnte auch nicht viel lesen, weil dabei alle Nerven mich quälten. Ich habe einfach stillgelegen und in den unermüdlichen, langsamen Regen hinausgeblickt. |
1072 |
September. Ich habe lange in meinem Arbeitszimmer am Fenster gesessen, und Asuncion sass auf meinen Knieen. Wir haben auf das graue und weite Meer hinausgeblickt, und hinter uns in dem grossen Gemach mit der hohen, weissen Thür und den steiflehnigen Möbeln herrschte tiefe Stille. |
1073 |
Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder sind sie und nachdenklicher. Vor allem aber hat sie ihren Mund, diesen unendlich weichen und doch ein wenig herb geschnittenen Mund, der am schönsten ist, wenn er schweigt und nur ganz leise lächelt. |
1074 |
Den 2. Oktober. Ich bin tief ergriffen, und in meine Bewegung mischt sich ein Gefühl von Triumph. Manchmal, wenn ich daran dachte, und man mich zweifelnd und ängstlich ansah, habe ich gesehen, dass man mich für wahnsinnig hielt, und ich habe mich selbst mit Argwohn geprüft. |
1075 |
Er hatte dort eine Eingeborene aus gutem Hause geheiratet und war bald darauf mit ihr nach Norddeutschland, seiner Heimat, gezogen. Sie lebten in meiner Vaterstadt, wo auch seine übrige Familie zu Hause war. Paolo wurde hier geboren. Die Eltern habe ich übrigens nicht näher gekannt. |
1076 |
Ich erinnere mich besonders einer Tanzgesellschaft. Das Mädchen brachte einem anderen kurz nacheinander zwei Cotillonorden und ihm keinen. Ich beobachtete ihn mit Angst. Er stand neben mir an die Wand gelehnt, starrte regungslos auf seine Lackschuhe und sank plötzlich ohnmächtig zusammen. |
1077 |
Paolo sollte die Schule nicht wechseln und ward zu einem alten Professor in Pension gegeben. Indessen blieb die Lage auch so nicht lange. Vielleicht war das folgende nicht gerade die Veranlassung dazu, dass Paolo eines Tages den Eltern nach Karlsruhe nachfolgte, aber jedenfalls trug es dazu bei. |
1078 |
Nach unserer Trennung waren ungefähr fünf Jahre vergangen, als ich ihn in München wieder traf. Ich ging an einem schönen Frühlingsvormittag die Amalienstrasse hinunter und sah jemanden die Freitreppe der Akademie herabsteigen, der von weitem beinahe den Eindruck eines italienischen Modells machte. |
1079 |
Neben der Glocke war in breiten, schwarzen Lettern der Name Freiherr von Stein zu lesen. Paolo war auf dem ganzen Wege erregt und beinahe ausgelassen lustig gewesen; jetzt aber, während wir auf das Öffnen der Thür warteten, nahm ich eine seltsame Veränderung an ihm wahr. |
1080 |
Nach ein paar Minuten öffnete sich die Thür zum anliegenden Zimmer, und die Eltern traten ein. Der Baron war ein eleganter, untersetzter Herr mit Glatze und grauem Spitzbart; er hatte eine unnachahmliche Art, sein dickes goldenes Armband in die Manschette zurückzuwerfen. |
1081 |
Es liess sich nicht mit Bestimmtheit erkennen, ob seiner Erhebung zum Freiherrn einst ein paar Silben seines Namens zum Opfer gefallen waren; dagegen war seine Gattin einfach eine hässliche kleine Jüdin in einem geschmacklosen grauen Kleid. An ihren Ohren funkelten grosse Brillanten. |
1082 |
Ich trennte mich von ihm, indem ich ihm herzlich die Hand schüttelte, obgleich ich innerlich ein Bedenken nicht unterdrücken konnte. Es vergingen nun ein paar Wochen, in denen ich hin und wieder gemeinsam mit Paolo den Nachmittagsthee in dem freiherrlichen Salon einnahm. |
1083 |
An Paolos Benehmen beobachtete ich nichts Neues. Er befand sich gewöhnlich trotz seines besorgniserregenden Aussehens in gehobener, freudiger Stimmung und zeigte in der Nähe der Baronesse jedesmal wieder jene unheimliche Ruhe, die ich das erste Mal an ihm wahrgenommen hatte. |
1084 |
Das geschah auf einem Spaziergang ins Isarthal, den man arrangiert hatte, und zu dem auch ich aufgefordert worden war. Man war erst nachmittags ausgezogen, und auf dem Heimwege zu später Abendstunde fügte es sich, dass die Baronesse und ich als letztes Paar der Gesellschaft nachfolgten. |
1085 |
Ich hatte an ihr seit Paolos Verschwinden keinerlei Veränderung wahrgenommen. Sie hatte ihre Ruhe vollständig bewahrt und meines Freundes bis dahin mit keinem Worte Erwähnung gethan, während ihre Eltern sich über seine plötzliche Abreise in Ausdrücken des Bedauerns ergingen. |
1086 |
Nun schritten wir neben einander durch diesen anmutigsten Teil der Umgebung Münchens; das Mondlicht flimmerte zwischen dem Laubwerk, und wir lauschten eine Weile schweigend dem Geplauder der übrigen Gesellschaft, das ebenso einförmig war, wie das Brausen der Wasser, die neben uns dahinschäumten. |
1087 |
Und in diesem Augenblick erkannte ich auf seinem Gesicht und in seiner ganzen Haltung den Ausdruck wieder, den ich damals, als ich die Baronesse zum ersten Male sehen sollte, an ihm beobachtete: diese gewaltsame, krampfhaft angespannte Ruhe, die das Raubtier vor dem Sprunge zeigt. |
1088 |
Allmählich schlafe ich ein. Ich schlafe sehr tief und sehr lange, denn ich bin eigentlich immer todmüde. Glaubst Du, dass ich, wenn ich wollte, mich hier einfach hinlegen könnte und sterben? Ich glaube, dass ich in diesen Jahren tausendmal schon den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. |
1089 |
Es war einer der ersten Herbsttage, jener grauen, unheimlich warmen Tage, an denen der feuchte, beklemmende Wind aus Afrika durch die Strassen geht und abends der ganze Himmel unaufhörlich im Wetterleuchten zuckt. Am Morgen trat ich bei Paolo ein, um ihn zu einem Ausgange abzuholen. |
1090 |
Ich sah ihn an. Auf diesem schmalen, gelblichen Krankengesicht mit den schwarzen, fiebernden Augen lag ein Ausdruck, wie ihn sonst nur der Tod hervorzubringen vermag, ein ungeheurer Ernst, der mich die Augen auf den Brief niederschlagen liess, den ich entgegengenommen hatte. |
1091 |
Der Tag verging mit Besorgungen und Kofferpacken, wobei ich ihm behilflich war, und abends machten wir auf meinen Vorschlag einen letzten gemeinsamen Spaziergang durch die Strassen der Stadt. Es war noch jetzt fast unerträglich schwül, und der Himmel zuckte jede Sekunde in jähem Phosphorlichte auf. |
1092 |
Enttäuschung. Ich gestehe, dass mich die Reden dieses sonderbaren Herrn ganz und gar verwirrten, und ich fürchte, dass ich auch jetzt noch nicht im stande sein werde, sie auf eine Weise zu wiederholen, dass sie andere in ähnlicher Weise berührten, wie an jenem Abend mich selbst. |
1093 |
Ein Anblick von unvergleichlich lichter und festlicher Schönheit. Da begegnete ich ihm, und ich habe ihn, während ich schreibe, mit ausserordentlicher Deutlichkeit vor Augen. Er war kaum mittelgross und ging schnell und gebückt, während er seinen Stock mit beiden Händen auf dem Rücken hielt. |
1094 |
Aus irgend einem Grunde hielt ich ihn für einen Engländer. Er konnte dreissig Jahre alt sein, vielleicht auch fünfzig. Sein Gesicht, mit etwas dicker Nase und müdeblickenden, grauen Augen, war glattrasiert, und um seinen Mund spielte beständig ein unerklärliches und ein wenig blödes Lächeln. |
1095 |
Von nun an beobachtete ich ihn täglich, denn er schien sich mit nichts anderem zu beschäftigen, als bei gutem wie bei schlechtem Wetter, vormittags wie nachmittags, dreissig- und fünfzigmal die Piazza auf und ab zu schreiten, immer allein und immer mit dem gleichen seltsamen Gebahren. |
1096 |
Ich aber bin von Jugend auf mit ihr umhergegangen, und sie hat mich einsam, unglücklich und ein wenig wunderlich gemacht, ich leugne es nicht. Wie könnten Sie mich bereits verstehen, mein Herr? Vielleicht aber werden Sie es, wenn ich Sie bitten darf, mir zwei Minuten lang zuzuhören. |
1097 |
Ich war beinahe noch ein Kind, als ein nächtlicher Brand in meinem väterlichen Hause entstand. Das Feuer hatte heimlich und tückisch um sich gegriffen, bis an meine Kammerthür brannte das ganze kleine Stockwerk, und auch die Treppe war nicht weit entfernt, in Flammen aufzugehen. |
1098 |
Das ganze Haus brannte nieder, wir alle retteten uns mit Mühe aus äusserster Gefahr, und ich selbst trug ganz beträchtliche Verletzungen davon. Auch wäre es unrichtig, zu sagen, dass meine Phantasie den Ereignissen vorgegriffen und mir einen Brand des Elternhauses entsetzlicher ausgemalt hätte. |
1099 |
Läuft nur mir die Wirkung gewisser Wörter auf eine Weise das Rückenmark hinunter, dass sie mir Ahnungen von Erlebnissen erwecken, die es gar nicht giebt? Ich bin in das berühmte Leben hinausgetreten, voll von dieser Begierde nach einem, einem Erlebnis, das meinen grossen Ahnungen entspräche. |
1100 |
Gott helfe mir, es ist mir nicht zu teil geworden! Ich bin umhergeschweift, um die gepriesensten Gegenden der Erde zu besuchen, um vor die Kunstwerke hinzutreten, um die die Menschheit mit den grössten Wörtern tanzt; ich habe davor gestanden und mir gesagt: Es ist schön. |
1101 |
Es hilft nichts: man muss leben; und wenn du dich wehrst, ein Mensch der Action zu sein, und dich in die friedlichste Einöde zurückziehst, so werden die Wechselfälle des Daseins dich innerlich überfallen, und du wirst deinen Charakter in ihnen zu bewähren haben, seiest du nun ein Held oder ein Narr. |
1102 |
I. Sie liegt so weit dahinten, die kleine, alte Stadt mit ihren schmalen, winkeligen und giebeligen Strassen, ihren gotischen Kirchen und Brunnen, ihren betriebsamen, soliden und einfachen Menschen und dem grossen, altersgrauen Patrizierhause, in dem ich aufgewachsen bin. |
1103 |
Denn es geschah zuweilen, dass ich und auch wohl meine Mutter und meine beiden älteren Schwestern solchen Scenen beiwohnten; vielleicht, weil mein Vater mir Ehrgeiz einflössen wollte, es so weit in der Welt zu bringen wie er; vielleicht auch, wie ich argwöhne, weil er eines Publikums bedurfte. |
1104 |
Ich sass in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter, wie als ob ich wählte zwischen beiden, und mich bedächte, ob in träumerischem Sinnen oder in That und Macht das Leben besser zu verbringen sei. Und meine Augen verweilten am Ende auf dem stillen Gesicht meiner Mutter. |
1105 |
Wahrhaftig, wenn ich nach solch einer anstrengenden Aufführung mit heissem Kopf mein Theater zusammenpackte, so erfüllte mich eine glückliche Mattigkeit, wie ein starker Künstler sie empfinden muss, der ein Werk, an das er sein bestes Können gesetzt, siegreich vollendete. |
1106 |
Fest steht, dass ich ein ungeheuer muntrer Junge war, der bei seinen Mitschülern durch bevorzugte Herkunft, durch mustergültige Nachahmung der Lehrer, durch tausend Schauspielerstückchen und durch eine Art überlegener Redensarten sich Respekt und Beliebtheit zu verschaffen wusste. |
1107 |
Ich bewegte mich heiter und beliebt im Kreise meiner Bekannten und Verwandten, und ich war gewandt und liebenswürdig aus Lust daran, den Liebenswürdigen zu spielen, obgleich ich alle diese Leute, die trocken und phantasielos waren, aus einem Instinkt heraus zu verachten begann. |
1108 |
Andererseits bringt es der Junge, wie ich zu meinem Leidwesen mehr und mehr erkennen muss, auf der Schule schlechterdings zu nichts. Seine Begabung, von der Du sprichst, ist eine Art von Bajazzobegabung, wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, dass ich dergleichen durchaus nicht unterschätze. |
1109 |
Die Aussicht auf Veränderung meines äusseren Lebens wirkte durchaus erheiternd auf mich, ich erklärte mich ernsten Angesichtes bereit, die Schule zu verlassen, um Kaufmann zu werden, und trat in das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt, unten am Fluss, als Lehrling ein. |
1110 |
V. Die Veränderung war ganz äusserlich, das versteht sich. Mein Interesse für das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt war ungemein geringfügig, und ich sass auf meinem Drehsessel unter der Gasflamme in dem engen und dunklen Comptoir so fremd und abwesend wie ehemals auf der Schulbank. |
1111 |
Herr Schlievogt, ein beleibter Mensch mit rotem Gesicht und grauem, hartem Schifferbart, kümmerte sich wenig um mich, da er sich meistens in der Sägemühle aufhielt, die ziemlich weit von Comptoir und Lagerplatz entfernt lag, und die Angestellten des Geschäftes behandelten mich mit Respekt. |
1112 |
Eines Tages fand man ihn gelblich, gelähmt und lallend in dem Armsessel seines Privatkomptoirs, und eine Woche darauf nahm die ganze Stadt an seinem Begräbnis teil. Meine Mutter sass zart und still auf dem Sofa an dem runden Tische im Wohnzimmer, und ihre Augen waren meist geschlossen. |
1113 |
Wenn die Herren in Gehröcken kamen, um über den Verlauf der Liquidation Bericht zu erstatten, so nickte sie gleichfalls und schloss aufs neue die Augen. Sie spielte nicht mehr Chopin, und wenn sie hie und da leise über den Scheitel strich, so zitterte ihre blasse, zarte und müde Hand. |
1114 |
Aber sind die gewissen Nachmittagsstunden überhaupt zu vermeiden, in denen man hinaus in die wachsende Dämmerung und vielleicht in einen langsamen Regen blickt und das Opfer trübseherischer Anwandlungen wird? In jedem Falle stand fest, dass meine Zukunft vollkommen gesichert war. |
1115 |
Man könnte zu Bette gehen, aber man verharrt halb liegend im Lehnsessel, und die Hände im Schosse gefaltet, blickt man zur Decke empor, um mit Ergebenheit das leise Graben und Zehren irgend eines halb unbestimmten Schmerzes zu verfolgen, der nicht hat verscheucht werden können. |
1116 |
Du hast dich darein ergeben, du hast dich sozusagen am Ofen bereit gesetzt, um den Winter über dich ergehen zu lassen; eines Morgens aber beim Erwachen bemerkst du mit ungläubigen Augen, dass ein schmaler Streif von leuchtendem Blau zwischen den Fenstervorhängen hindurch in dein Zimmer blitzt. |
1117 |
Im Augenblicke aber wurde ihm durch die schimmernd weissen und etwas von einander entfernt stehenden Zähne ein Reiz gegeben, die das junge Mädchen bei den Bemühungen um das Pferd energisch auf die Unterlippe drückte, und mit denen sie das fast kindlich runde Kinn ein wenig emporzog. |
1118 |
Übrigens machte ich die Beobachtung, dass die Mundhaltung, die ich damals an ihr bemerkt hatte, ihr überhaupt eigentümlich war: in jedem Augenblicke setzte sie ihre weissen, in kleinen, regelmässigen Abständen schimmernden Zähne auf die Unterlippe und zog das Kinn ein wenig empor. |
1119 |
Gounods geistreiche und zärtliche Musik war, wie mich dünkte, keine falsche Begleitung zu diesem Anblick, und ich lauschte ihr, ohne auf die Bühne zu achten, und ganz und gar hingegeben an eine milde und nachdenkliche Stimmung, deren Wehmut ohne diese Musik vielleicht schmerzlicher gewesen wäre. |
1120 |
In der Pause aber bereits, die dem ersten Akte folgte, erhob sich von seinem Parkettplatz ein Herr von sagen wir einmal: siebenundzwanzig bis dreissig Jahren, welcher verschwand und gleich darauf mit einer geschickten Verbeugung in der Loge meiner Aufmerksamkeit erschien. |
1121 |
Er war vollkommen blossgelegt dieser Hemdeinsatz, denn die Weste war nichts als ein schmaler, schwarzer Streifen, und die Frackjacke, die nicht früher als weit unterhalb des Magens durch einen Knopf geschlossen wurde, war von den Schultern aus in ungewöhnlich weitem Bogen ausgeschnitten. |
1122 |
Diesen Herrn musste ein wundervoll glückliches Selbstbewusstsein erfüllen ... Im Ernste gesprochen, ich weiss dergleichen zu schätzen. Keiner seiner Bewegungen, und sei ihre Nonchalance immerhin gewagt gewesen, folgte eine peinliche Verlegenheit; er war getragen von Selbstgefühl. |
1123 |
Und warum sollte dies anders sein? Es war klar: er hatte, ohne sich vielleicht besonders hervorzuthun, seinen korrekten Weg gemacht, er würde denselben bis zu klaren und nützlichen Zielen verfolgen, er lebte im Schatten des Einverständnisses mit aller Welt und in der Sonne der allgemeinen Achtung. |
1124 |
Man hatte nicht weit zu gehen; kaum war eine Strasse zurückgelegt, als man vor einem stattlichen Hause mit schlichter Fassade stehen blieb, und gleich darauf verschwanden Vater und Tochter nach herzlicher Verabschiedung von ihrem Begleiter, der seinerseits beschleunigten Schrittes davonging. |
1125 |
Der ungeheuer hohe und weite Raum war mit Fahnen und Guirlanden buntfarbig geschmückt, und an den Wänden wie in der Mitte zogen sich die Buden hin, offene Verkaufsstellen sowohl, wie geschlossene Verschläge, deren Besuch phantastisch maskierte Herren aus vollen Lungen empfahlen. |
1126 |
Es ist Thatsache, alle Welt ist viel zu angelegentlich mit sich selbst beschäftigt, als dass man ernstlich eine Meinung über einen anderen zu haben vermöchte; man acceptiert mit träger Bereitwilligkeit den Grad von Respekt, den du die Sicherheit hast, vor dir selber an den Tag zu legen. |
1127 |
Geht man, mit dem Durchblick auf einen Hofraum, in dem sich Katzen umhertreiben, über den Flur, so führt eine enge und ausgetretene Holztreppe, auf der es unaussprechlich dumpfig und ärmlich riecht, in die Etagen hinauf. Im ersten Stockwerk links wohnt ein Schreiner, rechts eine Hebamme. |
1128 |
Das Äussere Mindernickels ist auffallend, sonderbar und lächerlich. Sieht man beispielsweise, wenn er einen Spaziergang unternimmt, seine magere, auf einen Stock gestützte Gestalt sich die Strasse hinaufbewegen, so ist er schwarz gekleidet, und zwar vom Kopfe bis zu den Füssen. |
1129 |
Vor dem Fenster, dessen Aussicht von der grauen Seitenmauer des Nachbarhauses hoffnungslos abgeschnitten ist, steht ein Blumentopf, voll von Erde, in der jedoch durchaus nichts wächst; gleichwohl tritt Tobias Mindernickel zuweilen dorthin, betrachtet den Blumentopf und riecht an der blossen Erde. |
1130 |
Unter der Strassenjugend des Grauen Weges entstand ein ungeheurer Lärm, als Tobias mit dem Hunde erschien, aber er nahm ihn auf den Arm, beugte sich über ihn und eilte verhöhnt und am Rocke gezupft durch die Spottrufe und das Gelächter hindurch, die Treppen hinauf und in sein Zimmer. |
1131 |
In dem Grade jedoch, in welchem Esau zu Kräften kam, fröhlicher wurde und genas, ward das Benehmen des Tobias unruhiger und unzufriedener. Er befand es nunmehr für gut, sich nicht mehr um die Wunde zu bekümmern, sondern lediglich durch Worte und Streicheln dem Hunde sein Erbarmen zu zeigen. |
1132 |
Tobias stand am Fenster, am Blumentopfe, und während eine seiner Hände, die lang und mager aus dem ausgefransten Ärmel hervorsah, mechanisch an dem tief in die Schläfen gestrichenen Haare drehte, hob seine Gestalt sich schwarz und sonderbar von der grauen Mauer des Nachbarhauses ab. |
1133 |
Was nun geschah, war etwas so Unverständliches und Infames, dass ich mich weigere, es ausführlich zu erzählen. Tobias Mindernickel stand mit am Leibe herunterhängenden Armen ein wenig vorgebeugt, seine Lippen waren zusammengepresst, und seine Augäpfel zitterten unheimlich in ihren Höhlen. |
1134 |
Seine getrübten und fragenden Augen waren voll Verständnislosigkeit, Unschuld und Klage auf seinen Herrn, gerichtet – und dann streckte er ein wenig seine Beine und starb. Tobias aber verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Er hatte das Gesicht auf Esaus Körper gelegt und weinte bitterlich. |
1135 |
Das Wetter ist mäßig gut, indifferent. Es regnet nicht, aber der Himmel ist auch nicht klar; er ist gleichmäßig weißgrau, gewöhnlich, unfestlich, und die Straße liegt in einer stumpfen und nüchternen Beleuchtung, die alles Geheimnisvolle, jede Absonderlichkeit der Stimmung ausschließt. |
1136 |
Er hat schmale Schultern, dunkles Haar und so breite Wangenknochen, wie viele Leute hierzulande sie haben, blaue, ein wenig müde blickende Augen und ein Knabengesicht von freundlich verschlossenem Ausdruck. Der General ist schlohweiß, hoch und breit gepolstert, eine überaus gebietende Erscheinung. |
1137 |
Jedem Beobachter steht der naturgemäße Verlauf dieses Zusammentreffens klar vor Augen. Hier ist das Verhältnis von alt und jung, von Befehl und Gehorsam, von betagtem Verdienst und zartem Anfängertum, hier ist ein gewaltiger hierarchischer Abstand, hier gibt es Vorschriften. |
1138 |
Natürliche Ordnung, nimm deinen Lauf! – Und was, statt dessen, geschieht? Statt dessen vollzieht sich das folgende, überraschende, peinliche, entzückende und verkehrte Schauspiel. Der General, des jungen Leutnants ansichtig werdend, verändert auf seltsame Art seine Haltung. |
1139 |
Die Spannung seines Mundes wird zu einem Lächeln von zugleich bescheidener und gütiger Art, und seine Augen blicken vorläufig mit einer stillen und beherrschten Ruhe, die den Anschein der Mühelosigkeit hat, an dem General vorbei und ins Weite. Nun sind sie auf drei Schritt aneinander. |
1140 |
Ein Wunder! Ein phantastischer Auftritt! Er geht weiter. Man sieht ihn an, aber er sieht niemanden an, er sieht zwischen den Leuten hindurch geradeaus, ein wenig mit dem Blick einer Dame, die sich beobachtet weiß. Man grüßt ihn, dann grüßt er zurück, fast herzlich und dennoch aus einer Ferne. |
1141 |
Der Großherzog hatte sich Tee servieren lassen, Kammerdiener Prahl hatte selbst das Geschirr gebracht; aber es stand vergessen auf der Platte des Sekretärs, und Johann Albrecht schritt in einem rastlosen, unangenehm angespannten Zustande von einem Winkel in den anderen. |
1142 |
Mehrere hatten nicht Zeit gefunden zu frühstücken. Einige suchten Zerstreuung, indem sie das Operationsbesteck und das kugelförmige, in Leder gehüllte Chloroformgefäß, das Generalarzt Eschrich hier für alle Fälle niedergelegt hatte, einem furchtsamen Studium unterzogen. |
1143 |
Dieser Knobelsdorff, dieser Günstling und höchste Beamte war so vieldeutig ... Zuweilen waren seine Äußerungen, seine Erwiderungen von einem ungreifbaren Spott umspielt. Er war weit gereist, er kannte den Erdball, er war so mannigfach unterrichtet, auf eine befremdende und freie Art interessiert. |
1144 |
Sie haben sich bis zum heutigen Tage noch nicht entschließen können, Industrielle und Finanzleute zu werden. Sie lassen sich mit bedauerlicher Hartnäckigkeit von gewissen obsoleten und ideologischen Grundbegriffen leiten, wie zum Beispiel den Begriffen der Treue und Würde. |
1145 |
Vorteilhafte Veräußerungen sind ausgeschlossen. Hypothekarische Verpfändung, Kreditbeschaffung zum Zwecke wirtschaftlicher Verbesserungen scheint ihnen unzulässig. Die Administration ist in der freien Ausnutzung geschäftlicher Konjunkturen streng gehindert – durch Würde. |
1146 |
Verzeihung, nicht wahr! Ich sage Ihnen Fibelwahrheiten. Wer so sehr wie diese Menschenart auf gute Haltung sieht, kann und will mit der Freizügigkeit und ungehemmten Initiative minder eigensinniger und ideell verpflichteter Geschäftsleute natürlich nicht Schritt halten. |
1147 |
Vielleicht sind wir alle schuldig, wir und unsere Vorgänger. Was hätte nicht alles verhindert werden müssen! Sehen Sie, Baron, einmal, es ist zehn Jahre her, bot sich eine Gelegenheit, die Finanzen des Hofes zu sanieren, zu bessern auch nur, wenn Sie wollen. Sie ist versäumt worden. |
1148 |
Hier endete das Gespräch der beiden Minister. Es brach ab, es wurde unterbrochen, und zwar dadurch, daß Flügeladjutant von Lichterloh die glücklich vollzogene Entbindung meldete. Eine Bewegung entstand im kleinen Bankettsaal, und alle Herren fanden sich plötzlich dort zusammen. |
1149 |
Der Flügeladjutant klirrte aufs neue mit seinen Sporen und zog sich zurück. Johann Albrecht schritt ein paarmal heftig knarrend durch das Gemach und nahm dann, als er hörte, daß Herr von Lichterloh den Befohlenen in das Vorzimmer einführte, am Schreibtisch Audienzhaltung an. |
1150 |
Er trug sein dunkelblondes Haar bürstenartig beschnitten und den Schnurrbart sorglos hängend. Kinn und Wangen waren sauber rasiert und ein wenig wund davon. Er hielt den Kopf leicht seitwärts geneigt, und der Blick seiner grauen Augen sprach von Klugheit und tätiger Sanftmut. |
1151 |
Redlichkeit und Sachlichkeit waren in seiner Erscheinung ausgedrückt; sie erweckte Vertrauen. Der Großherzog redete ihn ungewöhnlich gnädig an, ein wenig in der Art eines Lehrers, der einen schlechten Schüler gescholten hat und sich in plötzlicher Milde zu einem anderen wendet. |
1152 |
Die andere ist verkümmert, unbrauchbar, eine Mißbildung, er muß sie verstecken. Welche Erschwerung! Welch Hindernis! Er muß es beständig vor der Welt bravieren. Man wird es allmählich bekanntmachen müssen, damit es bei seinem ersten öffentlichen Hervortreten nicht allzu anstößig wirkt. |
1153 |
Man konnte allenfalls noch von einer Fremdenindustrie reden, aber sie schwunghaft zu nennen, wäre kühn gewesen. Die alkalischen Heilquellen, die in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt dem Boden entsprangen und den Mittelpunkt freundlicher Badeanlagen bildeten, machten die Residenz zum Kurort. |
1154 |
Krittler fügten dem etwas von mangelhaft organisierter Verwaltung der staatlichen Verkehrsanstalten hinzu. Aber Widerspruchsgeist und Verneinung waren nicht stark im Landtage; eine schwerfällige und treuherzige Loyalität war unter den Volksvertretern die vorherrschende Stimmung. |
1155 |
Klage ward laut, zumal in den amtsärztlichen Jahresberichten, daß ein Rückgang in der Ernährungsweise und also in der Entwicklung der ländlichen Bevölkerung zu beobachten sei. Wie das? Die Viehbesitzer waren versessen darauf, alle verfügbare Vollmilch zu Gelde zu machen. |
1156 |
Aber es war allzu klar, daß die Regierung im Grund von demselben Geiste beseelt war wie die irregeführten Viehbesitzer. Im Staatswalde nahmen die Überhauungen kein Ende, sie waren nicht wieder einzubringen und bedeuteten eine fortschreitende Minderung des öffentlichen Besitzstandes. |
1157 |
Noch Finanzminister von Schröder, dessen reiner Charakter und edle Absichten nicht in Zweifel gezogen werden sollen, erhielt vom Großherzog dafür den persönlichen Adel, daß er unter den schwierigsten Umständen eine neue hochverzinsliche Anleihe zu placieren gewußt hatte. |
1158 |
Denn beim gleichzeitigen Aufkauf und Verkauf von Schuldscheinen zahlte man einen höheren Preis als man erhielt, und dabei gingen Millionen verloren. Es war, als ob dies Volk nicht imstande sei, einen Finanzmann von irgend zulänglicher Begabung aus seiner Mitte emporzuheben. |
1159 |
Wo also war Abhilfe und Heilung? Ein Wunder, schien es, sei nötig – und, bis es geschähe, die unerbittlichste Sparsamkeit. Das Volk war fromm und treu, es liebte seine Fürsten wie sich selbst, es war von der Erhabenheit der monarchischen Idee durchdrungen, es sah einen Gottesgedanken darin. |
1160 |
Seine Väter hatten mit dem Familienvermögen gründlich aufgeräumt, es war gleich Null oder glich nicht viel mehr, es war für den Bau von Lustschlössern, mit französischen Namen und Marmorkolonnaden, für Parks mit Wasserkünsten, für pomphafte Oper und jederlei goldene Schaustellung aufgegangen. |
1161 |
Da war Schloß Delphinenort, welches nur eine Viertelstunde Weges von dort, im nördlichen Teile des Stadtgartens selbst, der ehemals ganz der Krone gehört hatte, seine Ungepflegtheit in einem ungeheuren, viereckigen Springbrunnenbecken spiegelte: mit beiden stand es bejammernswert. |
1162 |
Verschiedene Zeitalter hatten an seiner Ausgestaltung gearbeitet, und große Partien waren baufällig, verwittert, schadhaft, zum Bröckeln geneigt. Es fiel steil ab zum westlichen, tiefer gelegenen Stadtteil, zugänglich von dort auf brüchigen, von rostigen Eisenstangen zusammengehaltenen Stufen. |
1163 |
Häufig, an bestimmten Punkten der Zeremonie, wechselten die Arme, in denen er ruhte. Freifrau von Schulenburg überreichte ihn mit Verneigung seiner Tante Katharina, die mit strengem Gesichtsausdruck ein neuerlich umgearbeitetes lila gefärbtes Seidenkleid trug und mit Kronjuwelen frisiert war. |
1164 |
Madame aus der Schweiz hätte es ihrem ganzen Verhalten gemäß nicht leugnen können, wenn die Frage in Worte zu bringen gewesen wäre. Madame aus der Schweiz war eine calvinistische Pfarrerswitwe, die für sie beide da war, während jedes von ihnen zwei besondere Kammerfrauen hatte. |
1165 |
Nie hätte er sich mit den prächtigen aufgeschirrten Zierleuten, die zum Schlosse gehörten und nicht eigentlich Männer und Menschen, sondern Lakaien waren, in ein Gespräch eingelassen, wie Klaus Heinrich es damals in unbewachten Augenblicken zuweilen tat. Denn Albrecht war nicht neugierig. |
1166 |
Er kam in Gehrock und weißer Weste, das Band eines untergeordneten Ordens im Knopfloch, und in breiten, blankgewichsten Stiefeln, deren Schäfte naturfarben waren. Er trug einen ergrauten, kegelförmigen Bart, und aus seinen großen und flachen Ohren wuchs graues Gestrüpp. |
1167 |
Sein braunes Haar war in Form von aufwärtsstrebenden Spitzen in die Schläfen gebürstet und scharf gescheitelt, so daß man deutlich die gelbliche, trockene Kopfhaut sah, die porös war wie Stramin. Aber hinten und an den Seiten kam unter dem festen braunen Haar dünnes, graues hervor. |
1168 |
Vor den hohen Fenstern zur Rechten, die auf den Albrechtsplatz blickten, und auf deren äußeren Bänken Kissen von Schnee lagen, fielen weißseidene Vorhänge, gelbfleckig, mit silbernen Schnüren gerafft und mit Spitzen unterlegt, schwer und reichlich auf das Parkett hinab. |
1169 |
Klaus Heinrich sah in den Saal, und deutlich sah er, daß nichts hier von der Sachlichkeit wußte, die Schulrat Dröge trotz seiner Verbeugungen ihm auferlegte. Hier herrschte Sonntag und Feierernst, ganz ähnlich wie in der Kirche, wo des Schulrats Forderungen gleichfalls verfehlt gewesen wären. |
1170 |
Er stützte die rechte Hand leicht auf die Perlmutterplatte und stemmte die linke so in die Hüfte, daß sie weit hinten, fast schon im Rücken saß und von vorn nicht sichtbar war; denn sie war unschön: bräunlich und runzlig und hatte mit der rechten im Wachstum nicht Schritt gehalten. |
1171 |
Er ließ sich auf einem Beine ruhen, stellte das andere ein wenig vor und hielt den Blick auf die silbernen Ornamente der Tür gerichtet. Es war kein Standort zum Träumen und nicht die Haltung dazu; und dennoch träumte er. Er sah seinen Vater und sah ihn an wie den Saal, um zu begreifen. |
1172 |
Die Fältchen an seinen Augen spielten, und er brachte Mama mit drolligen Redewendungen zum Lachen, so daß sich die wundervollen kleinen Gruben in ihren weichen Wangen bildeten. Aber es war ein Lachen voll Kunst und Gnade, und sie sah in den Spiegel dabei, als übte sie sich. |
1173 |
Ach, doch, das tat sie wohl dennoch, soweit sie Zeit dazu hatte, und dann selbst, wenn sie ihn mit kühlen Worten an seine Hand erinnerte. Aber es schien, daß sie Ausdruck und Zeichen ihrer Zärtlichkeit für solche Gelegenheiten sparte, wo Zuschauer zugegen waren, die sich daran erbauen konnten. |
1174 |
Denn Klaus Heinrich wenigstens sah ein, daß es uns dem Wesen der Dinge gemäß nicht anstand, einfach zu fühlen und damit glücklich zu sein, sondern daß es uns zukam, unsere Zärtlichkeit im Saale anschaulich zu machen und auszustellen, damit die Herzen der Gäste schwöllen. |
1175 |
Er gab an, daß er Furcht gehabt, und das war die Wahrheit. Er hatte nichts gewußt, nichts begriffen, nichts geahnt von der Schwierigkeit und Strenge des Lebens, das ihm vorgeschrieben war; er war lustig gewesen, hatte sich sorglos fahren lassen und viel Anlaß zum Entsetzen gegeben. |
1176 |
Sie hing neben denen von Künstlern und großen Männern, hochgestirnten Männern, deren Augen aus einer berühmten Einsamkeit blickten. Man war im ganzen zufrieden mit ihm. Er nahm zu an Haltung, und ein gefaßter Anstand kam in sein Wesen, unter dem Druck seiner Berufenheit. |
1177 |
Und wenn man von dem Saal mit den Pfeilern die Wendeltreppe hinaufklettert, die hinter der einen Tür ist, dann kommt man in ein Zimmer mit hölzerner Decke, wo eine Menge sonderbare Sachen herumliegen. Aber was hinter diesem Zimmer kommt, das weiß ich noch nicht, und das wollen wir auskundschaften. |
1178 |
Er war froh, sie sorglos hängen lassen zu dürfen und nicht geschickt verbergen zu müssen; denn niemand war da, der schaute und verschönt und erhoben sein wollte, und er selbst durfte schauen und forschen für sein eigenes Herz. So gingen sie und stöberten, wie sie Lust hatten. |
1179 |
Klaus Heinrich klopfte sie beide ab, aber das machte nicht vieles gut, denn seine Hände waren ebenfalls grau. Und plötzlich sahen sie, daß die Dämmerung vorgeschritten war. Sie mußten rasch umkehren, Ditlinde bestand ängstlich darauf; es war zu spät geworden, noch weiter vorzudringen. |
1180 |
Sie wanderten weiter; aber mehrere Anzeichen bewiesen, daß sie die Richtung verfehlt hatten. Diese steinerne Bank mit den Greifenköpfen war hier vorhin nicht gestanden. Dies spitze Fenster ging auf den westlichen, tiefer gelegenen Stadtteil statt auf den inneren Hof mit dem Rosenstock. |
1181 |
Man werde ihr Ausbleiben bemerken, sie traurig ansehen, vielleicht gar dem Großherzog Meldung machen; sie würden niemals den Weg finden, vergessen werden und Hungers sterben. Und wo eine Rattenfalle sei, Klaus Heinrich, da seien auch Ratten ... Klaus Heinrich tröstete sie. |
1182 |
Sie schraken zusammen. Was sie hörten, war mehr, als der Widerhall ihrer eigenen Schritte; es waren andere, fremde, schwerer als ihre, sie kamen ihnen bald rasch, bald zögernd entgegen und waren von einem Schnaufen und Brummen begleitet, das ihnen das Blut erstarren ließ. |
1183 |
Ditlind machte Miene, davonzulaufen vor Schrecken; aber Klaus Heinrich gab ihre Hand nicht frei, und sie standen mit weiten Augen und ließen kommen, was kam. Es war ein Mann, der im Halbdunkel sichtbar wurde, und ruhig betrachtet, war seine Erscheinung nicht grauenerregend. |
1184 |
Er hielt in der einen Hand einen geschweiften Zylinderhut und in der anderen die beinerne Krücke seines knotig gerollten Regenschirms, den er im Gehen taktmäßig auf die Fliesen stieß. Sein spärlich graues Haar war von dem einen Ohr aufwärts in verklebten Strähnen über seinen Schädel gestrichen. |
1185 |
Er hatte bogenförmige, schwarze Augenbrauen und einen gelblich-weißen Bart, der ihm wuchs wie dem Großherzog, schwere Oberlider und blaue, wässrige Augen mit Säcken aus welker Haut darunter; er hatte die landesüblichen Wangenknochen, und die Falten seines geröteten Gesichtes waren wie Risse. |
1186 |
Aber würden die jungen Herrschaften es wohl für ungut nehmen, wenn ich ihnen die Bitte unterbreitete, mir gefälligst den nächsten Weg nach dem nächsten Ausgang bekanntzugeben? Es braucht nicht gerade das Albrechtstor zu sein – gar nicht mal nötig, daß es das Albrechtstor ist. |
1187 |
Man hatte einfach das Wort an ihn gerichtet, hatte ihn geradeswegs und in unbehilflicher Form zur Rede gestellt; er dachte an seinen Vater und zog die Brauen zusammen. Er arbeitete hastig an der Frage, wie er sich in dieser fehlerhaften und unordentlichen Lage zu verhalten habe. |
1188 |
Die mach' ich denn, ich hab' sie ganz allein gemacht mit aller Akkuratesse, und heut sind sie fertig und blitzten nur so. Sollst selbst gehen, sag' ich zu mir ... ich hab' einen Jungen, der austrägt, aber ich sage zu mir: Sollst selbst gehen, es ist für den Herrn Großherzog. |
1189 |
Er schüttelte schon von weitem in lebhaftem Bedauern den Kopf und machte einen trichterförmigen Mund dazu. Aber als er den Schuster Hinnerke gewahrte, der mit den Kindern ging und seinen Regenschirm vor sich herstieß, versagten alle Muskeln seines Gesichtes, und es ward schlaff und dumm. |
1190 |
Draußen unter den Leuten, die so fromm und fremd auf ihn schauten, wenn er grüßend vorüberfuhr?... Aber wie unterfing sich der Mann, es ihm zu sagen? Nicht ein einziges Mal hatte er ihn Großherzogliche Hoheit genannt, hatte ihm Gewalt angetan und seine Reinheit und Feinheit gröblich verletzt. |
1191 |
Ein noch jugendlicher Hilfslehrer mit Doktorgrad stand dem Professor Kürtchen zur Seite – ein aufgeräumter, tätigkeitsfroher und redegewandt schwadronierender, dabei schwärmerisch gesinnter Mensch, der Klaus Heinrichs Denkart und Selbstempfindung vielleicht mehr, als gut war, beeinflußte. |
1192 |
Die Leibesübungen beschränkten sich also auf Laufspiele, und in der Reitstunde, die gleichfalls Herr Zotte erteilte, war alle Verwegenheit ausgeschlossen. Klaus Heinrichs Verhältnis zu den fünf Kameraden war nicht innig zu nennen, es wollte zu eigentlicher Vertrautheit nicht gedeihen. |
1193 |
Das waren Dinge, die sich der Einsicht, ja dem Nachdenken verschlossen, wilde, unzugängliche Dinge, auf welche übrigens Doktor Überbein zuweilen selber anspielte, zum Beispiel, wenn die adeligen Knaben, denen sein dunkler Ursprung im Sinne saß, sich etwa anmaßend und unziemlich gegen ihn betrugen. |
1194 |
Während der ersten Tage nach Zusammentritt des Konviktes verhielt er sich schweigsam, beschränkte sich auf Beobachtung. Dann aber näherte er sich dem Prinzen mit einem lächelnden und lauten Freimut, einer frischen, väterlichen Kameradschaftlichkeit, wie Klaus Heinrich sie niemals gekannt hatte. |
1195 |
Sie verstörte ihn anfangs, er blickte erschreckt in des Doktors grünliches Gesicht. Aber diese Verwirrung wirkte auf jenen nicht zurück, schüchterte ihn keineswegs ein; sie bestärkte ihn in seiner herzlich schwadronierenden Unbefangenheit, und nicht lange, so war Klaus Heinrich erwärmt und gewonnen. |
1196 |
Aber daß er Raoul genannt werde, darin hatte die einzige Bestimmung und Vorschrift seiner Frau Mutter bestanden, als sie die Abfindungssumme nebst seiner fatalen kleinen Person den Leutchen eingehändigt hatte – eine sentimentale Bestimmung offenbar, eine Bestimmung der Pietät. |
1197 |
Nur die dürftigste Schulausbildung war dem Knaben zuteil geworden, aber er hatte sich die Freiheit genommen, zu zeigen, wer er war, hatte sich ein bißchen hervorgetan, und da er gern Lehrer werden wollte, so waren ihm aus einem öffentlichen Fonds die Mittel zur Seminarausbildung bewilligt worden. |
1198 |
Aber Sie mißverstehen mich völlig, wenn Sie glauben, daß ich Sie dazu verleiten möchte, an meinem Halse zu weinen. Erstens würden Sie es über kurz oder lang bereuen. Aber zweitens kommen Ihnen die Freuden des traulichen Geständnisses überhaupt nicht zu ... Sehen Sie, ich darf schwatzen. |
1199 |
Es waren nur fünfzehn dieses Jahr, denn die letzten Versetzungen waren unter dem Gesichtspunkte vorgenommen worden, daß keine Elemente in die Selekta vorrückten, die ihrer Herkunft oder Persönlichkeit nach ungeeignet waren, mit Klaus Heinrich ein Jahr lang auf du und du zu stehen. |
1200 |
Jedem war fühlbar, daß es sich bei alldem nicht um den Aufsatz noch um die arithmetische Arbeit handelte, sondern um das Gespräch als Vorgang und Handlung, um Haltung und Ton, das Vor- und Zurücktreten, die glückliche Abwicklung einer zarten, kühlen und über die Dinge erhabenen Angelegenheit. |
1201 |
Die Verpflichtung, die für alle darin lag, den Klassendienst zusammen mit Klaus Heinrich zu tun, war den jungen Leuten von verschiedenen Seiten hinlänglich zum Bewußtsein gebracht worden, und Klaus Heinrich war nicht derjenige, der sie veranlaßt hätte, diese Verpflichtung außer acht zu lassen. |
1202 |
Er erfuhr nichts Bestimmtes. Aber die Antworten, gehässige und lobpreisende, erfüllten ihn mit der Ahnung einer tollen Liebenswürdigkeit, einer unerlaubt herrlichen Menschlichkeit, die hier für aller Augen vorhanden sei, außer für seine – und diese Ahnung war wie ein Schmerz. |
1203 |
Neugierige, noch hochatmend vom Tanze, standen im Halbkreise umher und schauten diesen sachlich wesenlosen Unterredungen mit einem sonderbar angestrengten Gesichtsausdruck zu, der dadurch zustande kam, daß sie mit emporgezogenen Brauen lächelten. Viel Aufmerksamkeit war auf Klaus Heinrich gerichtet. |
1204 |
Er hielt sich, zusammen mit zwei rotköpfigen Vettern, die schon dem Heere angehörten, heut aber ebenfalls das Bürgerkleid trugen, ein wenig im Rücken seiner Eltern, auf einem Beine ruhend, die linke Hand weit hinten in die Hüfte gestützt, dem Publikum sein rechtes Halbprofil zugewandt. |
1205 |
Die Bewegungen wurden freier, die Zurufe kecker. Man fing an, mit den Füßen zu stampfen und schwang beim Vorwärts und Rückwärts, während man einander an den Händen hielt, die Arme wie Schaukeln. Auch Klaus Heinrich stampfte, zuerst nur andeutungsweise, dann aber kräftiger. |
1206 |
Im Büfettzimmer herrschte ein Prusten und Kichern, daß alles neidisch hinübersah. Jemand war dort mitten im Tanz aus dem Karree entwischt, hatte im Sprung vom Büfett ein belegtes Brötchen stibitzt und kaute nun stolz beim Schlenkern und Stampfen, zum Gelächter der andern. |
1207 |
Es ging nicht gut mit seiner linken Hand, und so half er nach, indem er mit der rechten auf den Oberschenkel schlug und sich neigte vor Lachen. Dann ward er stiller und ein wenig bleich. Er kämpfte mit sich ... Die Quadrille näherte sich ihrem Ende. Was er tun wollte, mußte er schleunig tun. |
1208 |
Es stockte, die Strömungen tauschten die Richtung, und noch einmal ging es herum, mit Lachen und Plaudern, mit Verirrungen, Verwirrungen und hastig geglätteten Tumulten. Klaus Heinrich drückte die Hände, die er empfing, ohne zu wissen, wem sie gehörten. Er lächelte mit bewegter Brust. |
1209 |
Sein glattgescheiteltes Haar hatte sich gelockert, und etwas davon fiel in die Stirn; sein Hemdeinsatz buckelte sich ein wenig aus der Weste hervor, und in seinem Gesicht, seinen erhitzten Augen war jene weiche, ja gerührte Begeisterung, die zuweilen der Ausdruck des Glückes ist. |
1210 |
Aber Klaus Heinrich gab in so beweglicher Weise den Wunsch zu erkennen, noch bleiben zu dürfen, daß der Adjutant nicht auf seinem Auftrag bestehen mochte. Der Prinz tat Ausrufe eines fast empörten Bedauerns und war offenbar von dem Ansinnen, jetzt nach Hause zu fahren, aufs schmerzlichste berührt. |
1211 |
Die weiß gedeckten Tische in den Nebenräumen waren besetzt von Familien, die Bowle tranken und soupierten. Jugend strömte ab und zu, ließ sich erhitzt und unruhevoll auf den Rändern der Stühle nieder, um ein paar Bissen zu essen, ein Glas zu trinken und sich wieder ins Vergnügen zu stürzen. |
1212 |
Die Uhr war halb elf. Und während er unten saß und bei einem Kruge Bier mit Bekannten konversierte, eine Stunde nur noch, anderthalb, nicht mehr, trugen sich im Büfettraum die anstößigen Vorgänge zu, jene eigentlich unbegreiflichen Ausschreitungen, denen er dann, leider zu spät, ein Ende machte. |
1213 |
Er fühlte sich getragen, mehr noch, umhergeworfen von Wohlwollen, einem starken, ausgelassenen Wohlwollen, das wuchs, sich an sich selbst erhitzte, das immer rücksichtsloser auf ihn eindrang, sich immer derber und atemnäher seiner bemächtigte, ihn triumphierend auf die Schultern nahm. |
1214 |
Aber nach Pfingsten rückte sein achtzehnter Geburtstag heran und zugleich ein Komplex von feierlichen Handlungen, mit denen ein ernster Wendepunkt seines Lebens begangen wurde und die ihm tagelang einen hohen und angespannten Dienst auferlegten. Er ward volljährig, ward mündiggesprochen. |
1215 |
Der Purpurmantel hatte ehemals zur Ordenstracht der Ritter vom Grimmburger Greifen gehört, war aber nun nicht anders mehr, denn als Zeremonienkleid für volljährig werdende Prinzen noch in Gebrauch. Albrecht, der Erbgroßherzog, hatte das Familienexemplar niemals getragen. |
1216 |
Er barbierte nicht wie irgendeiner, er beruhigte sich nicht dabei, daß keine Bartstoppel stehenblieb; er barbierte so, daß jeder Schatten des Bartes, jede Erinnerung daran ausgetilgt wurde, und stellte, ohne die Haut zu verletzen, ihre vollkommene Weichheit und Glätte wieder her. |
1217 |
Durch die weiten Fenster fiel überall heiter und rücksichtslos die Junivormittagssonne herein. Klaus Heinrich sah sich um bei diesem Ehrengange zwischen seinen Eltern durch die umschnörkelte Öde, den schadhaften Prunk der Repräsentationsräume, denen die Verklärung künstlichen Lichtes fehlte. |
1218 |
Und dann fand große Gratulation statt, in Form einer Defiliercour, geleitet von dem schwänzelnden Herrn von Bühl – woran sich das Galafrühstück im Marmorsaal und im Saal der zwölf Monate schloß ... Während der nächsten Tage wurden die auswärtigen Fürstlichkeiten unterhalten. |
1219 |
Die rauhen Bräuche wurden auf ein sinniges Ungefähr beschränkt, der Verkehrston wurde vortrefflich wie einst in der obersten Gymnasialklasse, alte Lieder von frischer Poesie erklangen, und es waren im ganzen Gala- und Paradesitzungen, verklärte Abbilder ihrer Alltäglichkeit. |
1220 |
Dies war die Wirkung seines Wesens, dieser freundlich und streng gefaßten, von keiner sachlichen Beteiligung jemals aufgelösten Haltung, die übrigens in dem Benehmen der Personen, mit denen der Prinz in Berührung kam, zuweilen ganz seltsame, ja komische Phänomene zeitigte. |
1221 |
Was mochte er sein, dieser still und gefaßt blickende junge Mann? Man ging die bürgerlichen Sphären durch, paßte ihn versuchsweise in die kaufmännische, die militärische, die studentische ein. Aber es wollte nicht stimmen, nirgends so recht und ganz. – Man fühlte die Hoheit, aber niemand erriet sie. |
1222 |
Es handelte sich im wesentlichen um eine Zersetzung des Blutes, hervorgerufen durch innere Eiterungen, und eine tiefgreifende Operation, die von dem Direktor der Universitätsklinik, einem namhaften Chirurgen, vorgenommen wurde, konnte den fressenden Gang der Vernichtung nicht einmal verlangsamen. |
1223 |
Seine Wangenzüge, diese beiden Furchen des Hochmuts und der Langeweile, prägten sich in seinen letzten Tagen auf entsetzlich übertriebene, wahrhaft groteske und grimassenhafte Weise aus, um sich erst im Tode wieder ein wenig zu glätten ... Des Großherzogs letzte Krankheit fiel in den Winter. |
1224 |
Er schritt behindert unter den Blicken der Menge, und seine Schulterblätter, ein wenig schiefstehend von Natur, verzogen sich im Gehen auf linkisch nervöse Art. Widerwille gegen den Zwang, bei dieser funebren Schaustellung als Erster mitwirken zu müssen, war in seinem blassen Gesicht zu lesen. |
1225 |
Seine stolze und schamhafte Abneigung, sich zu zeigen, sich vorzuführen, sich grüßen zu lassen, trat vom ersten Tage an in einem Grade hervor, der die Öffentlichkeit betrübte. Er erschien niemals in der großen Loge des Hoftheaters. Er beteiligte sich niemals an dem Korso im Stadtgarten. |
1226 |
Wenn er im Alten Schloß residierte, so ließ er sich in geschlossenem Wagen in eine entlegene und menschenleere Gegend der Anlagen führen, wo er ausstieg, um sich ein wenig Bewegung zu machen; und im Sommer zu Hollerbrunn trat er nur ausnahmsweise aus den Heckengängen des Parkes hervor. |
1227 |
Denn die geringen Leute fühlten wohl, daß sie diesen Fürsten nicht hochleben lassen und sich selbst damit meinen konnten. Sie sahen ihn an und erkannten sich nicht in ihm wieder, dessen reine Vornehmheit kein Merkmal ihres besonderen Schlages trug. Sie waren es anders gewohnt. |
1228 |
Auch wußte er das; und das Bewußtsein seiner Hoheit zusammen mit dem eines Mangels an volkstümlicher Echtheit, das mochte wohl seine Scheu und seinen Hochmut ausmachen. Schon damals fing er an, die Repräsentation nach Möglichkeit auf den Prinzen Klaus Heinrich zu übertragen. |
1229 |
Denn die Summe von achtzigtausend, welche ursprünglich gefordert worden, hatte keinerlei Aussicht gehabt, im Landtage durchzugehen, und so hatte man in Klaus Heinrichs Namen beizeiten einen weisen und großmütigen Verzicht getan, der im Lande den besten Eindruck gemacht hatte. |
1230 |
Da er all diesen Betrieben mit Sachkenntnis und umsichtigem Geschäftsgeiste vorstand, so begannen sie bald in Flor zu kommen und warfen Summen ab, die, wenn ihr Ursprung nicht sehr fürstlich war, ihm jedenfalls eine fürstliche Lebensführung erst eigentlich ermöglichten. |
1231 |
Draußen vor der Gartenpforte hatten sich einige Spaziergänger aufgestellt. Sie grüßten, führten, mit emporgezogenen Brauen lächelnd, ihre Hüte tief hinab, und Klaus Heinrich dankte ihnen, indem er seine weiß bekleidete Rechte an den Mützenschirm legte und mehrmals lebhaft den Kopf neigte. |
1232 |
Denn wenn ich daran zurückdenke, an das Alte Schloß und das Leben darin, wie ich es ohne den guten Philipp wohl immer fortgeführt hätte, dann graust mir, Klaus Heinrich, und ich fühle, daß ich es nicht ertragen hätte und wirr und wunderlich geworden wäre wie die arme Mama. |
1233 |
Da er die Bewegung des Handkusses scheute, so reichte er ihr einfach mit einem leisen, fast geflüsterten Grußwort die Hand – seine magere, kalte Hand von seltsam empfindlichem Ausdruck, die er dicht an der Brust ausstreckte, ohne auch nur den Unterarm vom Körper zu lösen. |
1234 |
Es geht dir also gut? Du siehst vorzüglich aus. Philipp läßt dir sein Bedauern ausdrücken, heute abwesend sein zu müssen. Bitte, nimm Platz, wo es dir am besten gefällt, zum Beispiel hier, mir gegenüber. Der Stuhl ist ziemlich bequem, du hast ihn das letztemal auch gehabt. |
1235 |
Er ist summarisch verfahren und hat mir zur Übersicht über mehrere untereinander verwandte Gegenstände auf einmal Vortrag gehalten, über die Ernte, über die neuen Grundsätze für die Aufstellung des Budgets, über die Steuerreform, mit der er beschäftigt ist. Die Ernte soll schlecht gewesen sein. |
1236 |
Die Bauern sind von Mißwachs und Wetterschäden betroffen worden, und darum sind nicht nur sie, sondern auch Krippenreuther übel daran, denn die Steuerkraft des Landes, sagt er, ist wieder einmal beeinträchtigt. Außerdem hat es leider in einem und dem anderen Silberbergwerk Katastrophen gegeben. |
1237 |
Ich habe nichts davon gesehen und gespürt, ausgenommen den Tod selbst, als Papa starb, und das war auch wohl nicht der Tod, wie er sein kann, denn es war eher erbaulich, und das ganze Schloß war erleuchtet. Und zuweilen schäme ich mich, daß ich mir niemals den Wind habe um die Nase wehen lassen. |
1238 |
Ich für mein Teil lehne es ab, irgend jemand anders auszudrücken und vorzustellen als mich selbst – ich lehne es ab, sage ich, und ich stelle dir frei, zu denken, daß mir die Trauben zu hoch hängen. Die Wahrheit ist, daß mir am Juchhe der Leute so wenig liegt, als nur einer Seele daran liegen kann. |
1239 |
Ich bin ein bißchen zart von Natur, ich fühle mich der Lächerlichkeit meiner Lage nicht gewachsen. Jeder Lakai, der sich an der Tür aufpflanzt und mir zumutet, an ihm vorüberzugehen, ohne ihn mehr zu beachten, mehr zu achten als den Türpfosten, setzt mich in Verlegenheit. |
1240 |
Fräulein von Isenschnibbe, die Hofdame, ließ sich melden und trippelte augenblicklich durch den großen Salon herein, wobei ihre Federboa sich im Luftzuge sträubte und der Rand ihres enormen Federhutes auf und nieder wippte. Aus ihren Kleidern strömte der Geruch der frischen Luft von draußen. |
1241 |
Seine Art von Dasein muß es wohl mit sich bringen. Denn es ist gewiß ein anstrengenderes Dasein und keineswegs bequem und muß den Körper wohl rascher aufreiben, als ein gewöhnliches Menschenleben tut. Die meisten haben es mit dem Magen zu tun. Aber Spoelmann hat ja ein Steinleiden, wie man weiß. |
1242 |
Ich werde mich nicht um Spoelmann kümmern. Ich werde ihn hier in Frieden seinen Brunnen trinken lassen und ihn mit seiner Gräfin und seiner algebraischen Tochter wieder abziehen lassen, ohne mich nach ihm umzusehen. Auf mich macht er keinen Eindruck mit seinem Sündenreichtum. |
1243 |
Ich möchte, daß sie sich auf alle Gelegenheiten erstreckte, bei denen ein persönliches Auftreten in der Öffentlichkeit von mir gefordert wird. Knobelsdorff verlangt, daß ich die Eröffnung und den Schluß des Landtags nur, wenn ich bettlägerig bin, nur von Fall zu Fall an dich abtrete. |
1244 |
Aber wenn du mich würdigst, an deiner Seite zu stehen und deinen Titel zu führen und dich vorm Volk zu vertreten, obgleich ich mich gar nicht so präsentabel finde und diese Hemmung hier habe, mit meiner linken Hand, die ich immer verstecken muß – dann danke ich dir und stehe dir zu Befehl. |
1245 |
Zwei Diener liefen vor ihm her und öffneten ihm eifrig eine alte, in ihren Bleifassungen schütternde Fensterscheibe. Denn unten auf dem kleinen Marktplatz stand zusammengekeilt und Kopf an Kopf das Volk, eine schräge Fläche aufwärts gewandter Gesichter, von qualmigem Fackellicht dunkel überglüht. |
1246 |
Sie riefen und sangen, und er stand am offenen Fenster und verneigte sich, stellte sich eine Weile der Begeisterung dar und grüßte dankend ... Ohne rechten Alltag war sein Leben und ohne rechte Wirklichkeit; es setzte sich aus lauter hochgespannten Augenblicken zusammen. |
1247 |
Er fuhr anderthalb Stunden, indem er mit den großherzoglichen Adjutanten, die ihm zugeteilt waren, und dem Referenten für Landwirtschaft, Ministerialrat Heckepfeng, einem strengen und ehrfurchtsvollen Herrn, der ihn ebenfalls begleitete, nicht ohne Mühe ein Gespräch unterhielt. |
1248 |
Dieser Bürgermeister führte den Titel Ökonomierat, was man Klaus Heinrich bedeutet hatte und weshalb er ihn in seiner Antwort dreimal so anredete. Er sagte, er freue sich, zu hören, daß das Werk der Landwirtschaftsausstellung unter seinem Protektorate so wohl gediehen sei. |
1249 |
Dann erkundigte er sich nach vier Dingen: nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Stadt, der Zunahme der Bevölkerung in den letzten Jahren, nach dem Arbeitsmarkt (obgleich er nicht ganz genau wußte, was eigentlich der Arbeitsmarkt sei) und nach den Lebensmittelpreisen. |
1250 |
Denn so brauchte der Bittsteller nicht den Weg des schriftlichen Gesuches zu beschreiten, in der traurigen Voraussicht, daß sein Schriftsatz auf immer in den Kanzleien verschwinden werde, sondern hatte die glückliche Gewähr, daß sein Anliegen ganz unmittelbar zur höchsten Stelle gelange. |
1251 |
Er eröffnete als Vertreter seines Bruders den Landtag, nahm aber keinen Anteil an den Vorgängen dortselbst und vermied jedes Ja und Nein im Zwiespalt der Parteien – unentschieden und ohne Überzeugungswärme wie einer, dessen Angelegenheit höher ist als alles Parteiwesen. |
1252 |
Klaus Heinrich hielt lange sein Pferd hinter dem jungen Menschen und betrachtete die rot und schwarze Projektion auf dem Reißbrett. – Zuweilen dachte er, daß es gut sein müsse, einen ordentlichen Nachnamen zu haben, Doktor Fischer zu heißen und einem ernsten Beruf nachzugehen. |
1253 |
Denn das Theater unterhielt ihn, er liebte es, den Schauspielern zuzusehen, zu beobachten, wie sie sich gaben, auf- und abtraten, ihre Rolle durchführten. Meistens fand er sie schlecht, unzart in ihren Mitteln zu gefallen und ungeübt in der feineren Vortäuschung des Natürlichen und Kunstlosen. |
1254 |
Solange sie, geschmückt, geschminkt und von allen Seiten beleuchtet, der Menge gegenüber auf den Brettern stand, war sie in der Tat die Verklärung des Volkes selbst – ja, das Volk beklatschte sich selber, indem es sie beklatschte, und darin ganz allein beruhte Mizzi Meyers Macht über die Gemüter. |
1255 |
Mir scheint, daß diese zweifellose und unbedingte Unfähigkeit zu allem anderen der einzige Beweis und Prüfstein des Berufes zur Poesie ist, ja, daß man in der Poesie eigentlich keinen Beruf, sondern eben nur den Ausdruck und die Zuflucht dieser Unfähigkeit zu sehen hat. |
1256 |
Hunger und rauhe Winde hätte weder mein Körper noch mein Talent überstanden und haben sie auch nicht zu überstehen gehabt. Meine Mutter war schwach genug, mich hinter dem Rücken meines Vaters mit den Mitteln zum Leben zu versehen, bescheidenen, aber hinlänglichen Mitteln. |
1257 |
Aber es ist im ganzen kein sehr herrliches Leben, wie ich versichern kann, besonders da wir ja nicht zu jeder Stunde Dichter sind. Damit von Zeit zu Zeit so ein Gedicht zustande komme – wer glaubt wohl, wieviel Faulenzerei und Langeweile und grämlicher Müßiggang dazu nötig ist. |
1258 |
Müßiges Publikum, überwacht von einem kleinen Gendarmerieaufgebot, hatte sich hinter der Perronsperre eingefunden; Vertreter der Presse waren zugegen. Aber wer Außerordentliches gewärtigt hatte, wurde enttäuscht. Spoelmann wäre fast gar nicht erkannt worden, so wenig überwältigend war er. |
1259 |
Fabelhafte Dinge waren über ihn im Umlauf gewesen. Durch irgendeinen Spaßvogel war das Gerücht verbreitet und auch gewissermaßen geglaubt worden, Spoelmann habe lauter goldene Vorderzähne, und in jeden dieser goldenen Vorderzähne sei in der Mitte ein Brillant eingelassen. |
1260 |
Aber der Fremdenzuzug steigerte sich nicht wesentlich; die Gäste, die eintrafen, um sich an dem Anblick dieser ungeheuerlichen Existenz zu weiden, reisten bald befriedigt oder enttäuscht wieder ab, und zudem waren es großenteils nicht die besten Elemente, die von seiner Gegenwart angelockt wurden. |
1261 |
Er war früh in die Geschäfte eingeführt worden, hatte schon während der letzten Lebensjahre seines Vaters allein die schwindelerregende Besitzmasse des Hauses verwaltet. Aber es war allgemein bekannt, daß sein Herz niemals so recht und ganz bei den Transaktionen gewesen war. |
1262 |
So plauderte das wohlunterrichtete Blatt und nährte die öffentliche Neugier. Es berichtete auch genau über die Besuche, die Miß Imma mit ihrer Gesellschafterin liebenswürdigerweise mehreren städtischen Wohltätigkeitsanstalten abstattete. Gestern hatten sie die Volksküche eingehend besichtigt. |
1263 |
Ein Mann erzählte, die Gräfin habe ihm ein Goldstück eingehändigt mit dem Auftrage, eine bestimmte alte Frau, die ihr irgendwelche unziemliche Anträge gemacht haben sollte, zu ohrfeigen. Der Mann hatte das Goldstück eingesteckt, ohne sich indessen seines Auftrages zu entledigen. |
1264 |
Er hatte abgewartet, hatte den Volkswillen sich entscheiden lassen. Und nach der ersten Verwirrung hatten starke Gründe in Fülle sich eingefunden, die für das Projekt sprachen. Die Geschäftswelt brach in Beifall aus bei dem Gedanken, den gewaltigen Abnehmer dauernd am Platze zu sehen. |
1265 |
Aber die staatswirtschaftlich Denkenden führten Ziffern ins Feld, die, wie im Lande die Dinge lagen, tiefe Erschütterung hervorrufen mußten. Wenn Samuel N. Spoelmann sich bei uns niederließ, so wurde er Steuersubjekt, so war er gehalten, bei uns sein Einkommen zu versteuern. |
1266 |
Denn es war ein Gebot der Vaterlandsliebe, auf Spoelmanns Anerbieten einzugehen, damit er sich so recht nach Gefallen bei uns einrichten konnte, und alle Bedenken erschienen nichtig gegenüber diesem ernsten Gebot. So hatte Exzellenz von Knobelsdorff beim Großherzog Vortrag gehabt. |
1267 |
Da begann ein Gewimmel und eine Geschäftigkeit um das Schloß und in seinem Innern, daß täglich viele Leute in den nördlichen Teil des Stadtgartens gelockt wurden. Delphinenort ward ausgebessert, ward innerlich umgebaut zu einem Teil, und zwar mit außerordentlichem Aufgebot an Arbeitskräften. |
1268 |
Welcher Gesellschaftsgruppe hätte er sich anschließen sollen? Niemand mutete ihm zu, etwa mit Seifensieder Unschlitt oder Bankdirektor Wolfsmilch auf vertrauten Fuß zu treten. Wohl aber näherte man sich ihm bald mit Ansprüchen an seine Mildtätigkeit und wurde nicht abgewiesen. |
1269 |
Sie mußte unbedingt umkehren, das Musikkorps und die Zuschauermenge umgehen, ja, wenn sie den offenen Platz mit seiner Trambahn vermeiden wollte, auf dem ringsherum führenden Fußsteig einen ziemlich weiten Bogen beschreiben oder das Ende der militärischen Verrichtung erwarten. |
1270 |
Während des Spiels konnte er sie aus dem Dunkel durch sein Glas betrachten, da das Licht von der Bühne auf sie fiel. Sie ließ ihr Köpfchen in der schmalen, ungeschmückten Hand ruhen, indem sie unbekümmert den bloßen Arm auf die Sammetbrüstung stützte, und sah nicht mehr entrüstet aus. |
1271 |
Sie trug ein Kleid aus seegrüner glänzender Seide mit lichtem Überwurf, in den farbige Blumensträuße gestickt waren, und um Hals und Brust eine lange Kette aus lauter blitzenden Diamanten. Eigentlich war sie nicht so klein, wie es scheinen mochte, fand Klaus Heinrich, als sie am Aktschluß aufstand. |
1272 |
Er verabschiedete sich seltsam zeremoniös und unväterlich. Klaus Heinrich sah ihn wohl zehn oder zwölf Tage nicht. Er lud ihn einmal zum Frühstück ein, aber Doktor Überbein ließ um gnädigste Entschuldigung bitten, seine Arbeit nähme ihn augenblicklich gar zu sehr in Anspruch. |
1273 |
Er schwadronierte von diesem und jenem und kam dann auf Spoelmanns zu sprechen, indem er zur Decke blickte und sich bei der Gurgel ergriff. Alles was recht sei, sagte er, aber es sei ganz auffallend viel Sympathie für Samuel Spoelmann vorhanden, man spüre es überall in der Stadt, wie er beliebt sei. |
1274 |
Sie habe einen von ihren Schwanverbrämten geschickt und angefragt, ob sie morgen willkommen sei. Eigentlich gehe sie ja das Kinderelend den Teufel etwas an, meinte Überbein, aber sie wolle vielleicht was lernen. Morgen vormittag um elf, wenn ihn sein Gedächtnis nicht täusche. |
1275 |
Klaus Heinrich verweilte bei den Nährmitteln, ließ sich die Zusammensetzung der Präparate erklären. Doktor Sammet dachte bei sich, daß, wenn man den Rundgang mit dieser Gründlichkeit fortsetzen wolle, empfindlich viel Zeit verlorengehen werde. Plötzlich gab es Geräusch auf der Straße. |
1276 |
Die täglichen Quanten standen auf reinlichen weißen Tischen in kleinen Flaschen beisammen. Es herrschte ein säuerlich fader Geruch. Klaus Heinrich wandte auch diesem Raum seine volle Aufmerksamkeit zu. Er ging so weit, von der Buttermilch zu kosten und fand sie vorzüglich. |
1277 |
Herr von Braunbart war im Begriffe, vermittelnd einzutreten, und Fräulein Spoelmann, auf der anderen Seite, schickte sich an, die Milchküche wieder zu verlassen, als der Prinz mit der Rechten eine kleine verbindende Bewegung zwischen sich und dem jungen Mädchen vollführte. |
1278 |
Es war gewesen, als ob sie sich nicht nur über die Bilder, sondern auch über die ausgesuchten und scharfen Redensarten lustig machte, die sie mit rascher Gewandtheit benutzte. Und das war wohl der unumschränkteste Spott, der sich denken ließ ... Das Laboratorium war der größte Raum des Hauses. |
1279 |
Und dann gingen sie mit ihrem Gefolge im Saal zwischen den Bettchen dahin, beugten sich nebeneinander über die kahlköpfigen Geschöpfe, die mit geballten Fäustchen schliefen oder aus allen Kräften schreiend ihre nackten Gaumen zeigten – hielten sich die Ohren zu und lachten aufs neue. |
1280 |
Klaus Heinrich, in förmlicher Haltung vor Doktor Sammet, der ihm mit seitwärts geneigtem Kopfe und die Hand an der Uhrkette zuhörte, äußerte sich in einer feststehenden Redewendung höchst beifällig über das Gesehene, während er fühlte, daß Imma Spoelmann ihre großen Augen dabei auf ihm ruhen ließ. |
1281 |
Er sah sie in dem roten Phantasiegewande, das, aus einem Stück gearbeitet, ihre wohlausgebildete und dennoch kindliche Gestalt umschloß, indem es ihre bräunlichen Schultern und ihre Arme freiließ, die rund und fest waren und dennoch vor dem Handgelenk wie die eines Kindes wurden. |
1282 |
Sie nahmen Platz, einander gegenüber an dem runden Gartentischchen, auf dem ein paar Bücher lagen. Perceval, erschöpft von dem Anfall, den er erlitten, nahm auf dem schmalen, blaßfarbigen und perlmutterartig schimmernden Teppich, darauf die Möbel standen, eine schneckenförmige Ruhestellung ein. |
1283 |
Sie hatte die Güte, mich zu einem Besuch zu ermutigen. Es handelte sich um die schönen Gläser, die Herr Spoelmann so freigebig war, für den gestrigen Basar zu stiften. Fräulein Spoelmann meinte, daß ihr Vater nichts dagegen haben werde, mir seine Sammlung einmal zu zeigen. |
1284 |
An einer Perlenkette lag ein großer, eiförmiger Edelstein auf ihrem bloßen Halse, dessen Haut die Farbe angerauchten Meerschaums hatte. Ihr blauschwarzes, seitwärts gescheiteltes und schlicht geknotetes Haar zeigte eine Neigung, ihr in glatten Strähnen in Stirn und Schläfen zu fallen. |
1285 |
Er lief, so schnell die Schwere seines Leibes es gestattete, die Stufen hinab zu der hohen Seitentür, die sich dem Teetisch gegenüber befand, und raffte heftig die weißseidene Portiere, indem er sein Doppelkinn mit machtvollem Ausdruck in die Lüfte erhob. Samuel Spoelmann, der Milliardär, trat ein. |
1286 |
Aus seinem glattrasierten Gesicht mit den hitzigen Wangen sprang die Nase ungewöhnlich wagerecht hervor, und darüber lagen nahe beieinander seine kleinen Rundaugen, die von metallisch unbestimmtem Blauschwarz waren, wie bei kleinen Kindern und Tieren, und zerstreut und ärgerlich blickten. |
1287 |
Der obere Teil seines Schädels war kahl, aber am Hinterkopf und an den Schläfen besaß Herr Spoelmann reichliches graues Haar, das auf eine bei uns nicht übliche Art gehalten war. Er trug es weder kurz noch lang, sondern hochaufliegend, voll, nur im Nacken abgeschnitten und um die Ohren rasiert. |
1288 |
Die gespornten Reitstiefel in den Steigbügeln, in der braun behandschuhten Rechten die gelbledernen Zügel und die Linke unter dem offenen Mantel in die Hüfte gestemmt, ritt er im Schritt durch den zarten Morgen, indem er über sich im noch nackten Gezweig die Vögel suchte, deren Zwitschern er hörte. |
1289 |
Wie es schien, so hatte er kürzlich sein Frühstück beendet und befand sich in behaglicher Laune. Er hielt die Hände in die Hosentaschen versenkt, wobei er den Hausflaus, den er trug, von der Sammetweste zurückraffte, und der bläuliche Rauch der Zigarette zwischen seinen Lippen machte ihn blinzeln. |
1290 |
Blauschwarz und glänzend floß es zu beiden Seiten von ihrem Scheitel hinab, verhüllte ihren Oberkörper und ließ nichts erkennen, als einen Schatten von dem stumpfen und kindlichen Viertelsprofil ihres Gesichtchens, das bleich wie Elfenbein gegen die Finsternis des Haares erschien. |
1291 |
Auch die Gräfin war anwesend, ebenfalls mit Schreiben beschäftigt. Sie saß in einiger Entfernung unter der Palmengruppe, wo Klaus Heinrich zuerst mit ihr geplaudert, und schrieb aufrecht, mit zur Seite geneigtem Kopfe, auf Briefbogen, von denen ein Häuflein, dicht bekritzelt, neben ihr lag. |
1292 |
Nun fange ich an, Ihre Umsicht zu bewundern, Prinz. Sie sind wie ein Feldherr vorgegangen, obgleich Sie nicht wirklich Soldat sind, sondern nur zum Schein, wie Sie uns neulich erzählten. Aber es ist noch ein fünfter Gegenstand da, und der ist ausschlaggebend. Es wird regnen. |
1293 |
Nun waren sie im Freien und brauchten keiner Begegnungen mehr gewärtig zu sein. Auf der Chaussee zog dann und wann ein bäuerliches Fuhrwerk dahin, oder ein Radfahrer arbeitete sich gebückt des Weges. Aber sie hielten sich zuseiten der Straße im Wiesengelände, wo es sich sanfter und freier ritt. |
1294 |
Man sprach von Fatme, die Klaus Heinrich zum erstenmal aus solcher Nähe sah und herzlich bewunderte. Auf ihrem langen, muskulösen Hals trug Fatme hoffärtig nickend einen kleinen Kopf mit feurig schielenden Augen; sie hatte die zierlichen Beine des arabischen Typs und einen wallenden Silberschweif. |
1295 |
Weiß wie der Mondstrahl, war sie weiß gesattelt und gegürtet und mit weißem Leder gezäumt. Florian, ein etwas schläfriger Brauner mit kurzem Rücken, gestutzter Mähne und gelben Fesselbinden, erschien hausbacken wie ein Esel neben der vornehmen Fremden, obgleich er sorgfältig gehalten war. |
1296 |
Die sind so dringlich nicht und mehr ein Zeitvertreib – obgleich ich mir unterderhand manches Lehrreiche davon verspreche. Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, Prinz, daß die Gräfin nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen ist. Sie hat sich mir gegenüber in diesem Sinne geäußert. |
1297 |
Die Gräfin war wach geworden und plauderte lebhaft, mit frischen, vornehmen Bewegungen und ihre weißen Zähne zeigend. Scherzend redete sie auf Perceval hinab, dessen Inneres durch den Gewaltritt aufs neue zerrissen war und der sich wütend vor den Pferden zwischen den Stämmen drehte. |
1298 |
Er hat, möchte ich sagen, die Dressur und Zucht in sich selbst, von Geburt, und wenn er ungebärdig ist, so ist er doch niemals roh. Das ist ein Freiherr, ein Edelmann, wohlgeboren und vom strengsten Charakter. Oh, er ist stolz, er scheint wohl toll, aber er weiß sich zu beherrschen. |
1299 |
Das Gesindel verfolgt ihn, es drängt sich an ihn und hat es auf ihn abgesehen auf allen Gassen; aber wild und ohne sich gemein zu machen, entspringt er, und nur wenn man zu Feindseligkeiten übergeht, so teilt er mit seinen prächtigen Zähnen Bisse aus, an die der Pöbel sich erinnern mag. |
1300 |
Und außerdem knüpfte er natürlich auch Liebesverhältnisse an, wie Sie sagen, betrog die Gräfin mit lasterhaften Weibern, von denen es überall sehr viele gibt – anfangs hinter ihrem Rücken und dann nicht einmal mehr hinter ihrem Rücken, sondern frech und offen und ohne Mitleid mit ihrem Kummer. |
1301 |
Aber zweitens ging ihm der Ruf eines Lebemannes voraus, und das muß, ihren Äußerungen nach, eine gewisse, unwiderstehliche Anziehung auf sie ausgeübt haben, denn obgleich sie so behütet und geschützt gewesen war, ist sie in dem Entschlusse, das Leben mit ihm zu teilen, nicht zu erschüttern gewesen. |
1302 |
Sie starben ganz früh, beide in den ersten Wochen, und das ist wohl das Schwerste gewesen, was die Gräfin erlebte. Ihren Andeutungen zufolge ist es nämlich die Schuld der lasterhaften Weiber gewesen, mit denen ihr Mann sie betrog, daß die Kinder gleich wieder sterben mußten. |
1303 |
Es gab Gesellschaften mit Kunststernen und Bälle, und manchmal ging es sehr rasch im geschlossenen Automobil zum Opernhaus, woselbst ich in einer der kleinen flachen Logen über dem Parterre saß, um so recht in ganzer Figur gesehen werden zu können, for show, wie man drüben sagt. |
1304 |
Klaus Heinrich war zu Hause in diesem Gebiet; er streckte den Arm darüber hin, den rechten, um seinen Begleiterinnen alles zu zeigen, obgleich nicht viel Sehenswürdiges vorhanden war. Dort lag das Schloß, verschlossen und stumm, mit seinem Schindeldach und seinen Blitzableitern am Rande des Waldes. |
1305 |
Dort abseits war das Fasanengehege, nach welchem das Ganze seinen Namen hatte, und hier Stavenüters Wirtsgarten, wo er zuweilen mit Raoul Überbein gesessen hatte. Über den feuchten Wiesen schien mild die Vorfrühlingssonne und tauchte die fernen umgrenzenden Wälder in zarten Schmelz. |
1306 |
In geschlossener Haltung richtete er einige formelhafte Fragen an den dienernden Herrn Stavenüter, erkundigte sich auf gewinnende Art nach seiner Gesundheit, nach dem Stande seiner Geschäfte und nahm die Antworten mit dem lebhaften Kopfnicken scheinbar sachlicher Beteiligung entgegen. |
1307 |
Aber mein Vater war ihr Sohn, und ärgerlich und leicht gereizt, wie er ist, hat er es von Jugend auf nur schwer ertragen, bestaunt und gehaßt und verachtet zu gleicher Zeit zu sein, halb Weltwunder und halb infam, wie er zu sagen pflegte, und hatte Amerika in jeder Beziehung satt. |
1308 |
Wenn aber vermöge des niedrigen Luftdrucks das Quecksilber fiel, wenn es folglich regnete und Klaus Heinrich dennoch ein Wiedersehen mit Imma Spoelmann für notwendig erachtete, so stellte er sich auf seinem Dogcart um die Teestunde in Delphinenort ein, und man blieb im Schlosse. |
1309 |
Wohin gehören? Es waren wohl keine Handelsschüler, sondern vielleicht der Technik Beflossene oder angehende Forstmänner, gewissen Merkmalen nach, auch wohl von der landwirtschaftlichen Hochschule, ein wenig rauhe, aber tüchtige Burschen jedenfalls, die ihren redlichen Weg schon machen würden. |
1310 |
Was die rasche Automobilfahrt betraf, so erklärte Imma Spoelmann im Laufe derselben, daß sie Klaus Heinrich eigentlich nur dazu eingeladen habe, um ihm den Chauffeur zu zeigen, der sie fuhr, einen jungen, in braunes Leder gehüllten Amerikaner, von dem sie behauptete, daß er dem Prinzen ähnlich sähe. |
1311 |
Herr Spoelmann aber habe auf außerordentliche Fahrgeschwindigkeit, die fast der eines Eilzuges gleichgekommen sei, gehalten, und der ungeheuren Anspannung, die solcherweise bei dem Getümmel von Neuyork von dem Wagenlenker gefordert worden, sei dieser auf die Dauer nicht gewachsen gewesen. |
1312 |
Sie sprachen dann noch mehreres von dem schweren und angespannten Dasein eines Chauffeurs, ohne daß die Gräfin Löwenjoul sich weiter an diesem Gespräche beteiligte. Sie schwatzte nicht auf dieser Fahrt, sondern sagte später mit frischen Bewegungen einige richtige und klare Dinge. |
1313 |
Mehrere dieser Kämpfe entspannen sich an jener einsamen, am Wasser hinlaufenden Wiesenböschung, und einer besonders war langwierig und erbittert. Er schloß sich an ein kurzes Gespräch über Klaus Heinrichs Popularität, das von Imma Spoelmann ebenso unvermittelt eröffnet wie abgebrochen wurde. |
1314 |
Irgendwelche Eigenschaften, die keine Vorzüge zu sein brauchen, mögen der Grund sein. Übrigens weiß ich durchaus nicht, ob ich es glauben oder mich gar darüber freuen soll. Ich zweifle, ob es für mich spräche. Mein Bruder, der Großherzog, meint geradezu, die Popularität sei eine Schweinerei. |
1315 |
Links hatte sich längst die Aussicht geschlossen. Erdklumpen und Grasbüschel stoben unter den Hufen auf. Die Gräfin war bald zurückgeblieben. Als sie endlich die Pferde zügelten, zitterte Florian, der sein Letztes getan hatte, und sie selbst waren bleich und atmeten schwer. |
1316 |
Sie haben mich gelehrt, daß das Glück nicht meine Sache sei, und haben mich bei den Ohren wieder zu mir selbst gebracht, als ich es dennoch damit versuchte, und ich war Ihnen unaussprechlich dankbar dafür, denn es war schrecklich, schrecklich, und ich vergesse es nicht. |
1317 |
Sie haben mich gelehrt, daß es liederlich sei, zu behaupten, daß wir alle nur Menschen seien, und innerlich hoffnungslos für mich, so zu tun, als ob es so sei, und ein verbotenes Glück, das mit Schande enden müsse. Aber dies hier ist nicht das liederliche und verbotene Glück. |
1318 |
Kurz, um der Kinder, um des guten und edlen Mannes willen, den sie hochschätzten, hatten sie Verzicht geleistet und einander entsagt. Ja, dergleichen kam vor, aber es war natürlich erforderlich, ein bißchen die Zähne zusammenzubeißen. Überbein kam noch immer zuweilen in das Haus der weißen Frau. |
1319 |
Da er die weiße Frau nicht gewinnen konnte oder wollte, hatte er sich zugeschworen, ihr Ehre zu machen und dem, was ihn mit ihr verband, indem er es weit brachte und sich groß machte auf dem Felde der Arbeit – hatte sein Leben auf die Leistung gestellt, auf sie allein, und war geworden, wie er war. |
1320 |
Die Grimmburger waren vollzählig versammelt in dem zierlichen Palais an der Albrechtsstraße. Auch der Großherzog kam im Gehrock, grüßte alle mit dem schmalen Haupt, indem er mit der Unterlippe leicht an der oberen sog, und trank Milch mit Mineralwasser vermischt zu den Speisen. |
1321 |
Es ist nun ein schöneres Leben und Blühen, das mir zu schaffen macht, und ich glaube, ich habe so rote Backen davon bekommen wie mein guter Philipp von seinem Torf (von dem er während des ganzen Frühstücks gesprochen hat, was ich nicht loben will, aber es ist seine Leidenschaft). |
1322 |
Den kleinen Kopf zur Schulter geneigt, betrachtete sie Klaus Heinrich mit einem scharf gekniffenen, ja boshaften Blick und ließ dann ihre Augen zu Imma Spoelmann hinübergleiten, während ihre Miene sich veränderte und ein weicher, mitleidiger und besorgter Ausdruck davon Besitz ergriff. |
1323 |
Eine Wand war mit Büchern bedeckt, aber die Hauptbibliothek befand sich in dem anstoßenden, kleineren und ebenfalls mit Teppichen belegten Raum, in den eine offene Schiebetür Einblick gewährte, und dessen Wände durchaus und bis zur Decke hinauf mit Bücherborden umstellt waren. |
1324 |
Er schämte sich seiner verschnürten Husarenjacke, seiner prallen Hosen und dieses ganzen Hokuspokus in dem Grade, daß Ärger und Verlegenheit ihm unzweideutig vom Gesichte zu lesen waren. Seine Schulterblätter waren nervös verzogen, als er die Stufen zum Thron emporstieg. |
1325 |
Dann stand er vor dem Theaterstuhl unter dem schadhaften Baldachin und sog an der Oberlippe. Auf dem weißen Stehkragen, der weit aus dem silbernen Husarenkragen hervorragte, ruhte sein schmaler, spitzbärtiger, unmilitärischer Kopf, und seine blauen, einsam blickenden Augen sahen niemanden. |
1326 |
Das Klirren der Sporen des Flügeladjutanten, der ihm die Handschrift der Thronrede überreichte, klang durch den Saal, in welchem sich Stille verbreitet hatte. Und leise, ein wenig lispelnd und mehrmals von plötzlicher Heiserkeit unterbrochen, verlas der Großherzog, was man ihm aufgesetzt hatte. |
1327 |
Es fing damit an, die im Lande vorhandene Tüchtigkeit zu preisen, und räumte dann ein, daß gleichwohl nicht auf allen Gebieten des Erwerbslebens ein eigentlicher Aufschwung zu verzeichnen sei, so daß die Einnahmequellen nicht durchweg die wünschenswerte Ergiebigkeit aufwiesen. |
1328 |
Hinzu kam, daß die Kommission mit Unnachgiebigkeit auf der längst versprochenen und immer hinausgeschobenen Aufbesserung der Beamtenbesoldung bestand – wobei nicht zu leugnen war, daß die Gehälter der Verwaltungsbeamten, Geistlichen und Lehrer des Großherzogtums in der Tat zum Erbarmen aufforderten. |
1329 |
Wetterunbilden, Hagel, Dürre und übermäßiger Regen hatten die Bauern getroffen; ein außerordentlich schneearmer und kalter Winter hatte die Saaten erfrieren gemacht; und die Krittler behaupteten, wenn auch ziemlich unbewiesenerweise, daß die Fällungen bereits das Klima beeinträchtigt hätten. |
1330 |
Die Forsten? Es war nichts daraus erwirtschaftet worden. Ein Unheil kam zum andern; Schädlinge, Nonnen hatten die Wälder mehrmals heimgesucht – und daran, daß durch die Überhauungen der Wald überhaupt in seinem Kapitalwerte erschüttert war, braucht nicht erinnert zu werden. |
1331 |
Was aber jenes andere, minder sittliche, doch verlockend bequeme Hilfsmittel gegen Geldmangel betrifft, welches die Finanzwissenschaft kennt, nämlich die Anleihe, so war die Stunde gekommen, wo eine mißbräuchliche und leichtfertige Ausnutzung dieses Mittels sich bitter zu rächen begann. |
1332 |
In Erwägung, daß beide Besitztümer für Wohnzwecke der allerhöchsten Familie nicht mehr in Betracht kämen und jährlich steigende Zuschüsse erforderten, habe die Verwaltung der Kronfideikommißgüter die zuständigen Stellen angewiesen, die Veräußerung in die Wege zu leiten. |
1333 |
Dort hauste er, mit seinem Leibarzt, seiner elektrisch betriebenen Orgel und seiner Gläsersammlung, hinter den Säulen, den Bogenfenstern und gemetzten Laubgewinden des Lustschlosses, das sein Wink aus dem Verfalle hatte erstehen lassen. Man sah ihn fast nie; er lag mit Breiumschlägen. |
1334 |
Man sah ihn im Wagen, wie er über dem Säbelgriff den linken Unterarm mit dem rechten bedeckte. Man sah ihn unter einem Baldachin, auf einer mit Fahnentüchern behangenen Tribüne sich darstellen, ein wenig nach links gewandt, die Linke auf eine gewisse Art in die Hüfte gestützt. |
1335 |
Sein linker Arm war zu kurz, die Hand verkümmert, man wußte es und kannte sogar verschiedene Erklärungen für die Entstehung dieses Gebrechens, ohne daß Ehrfurcht und Abstand doch erlaubt hätten, es klar zu sehen oder es auch nur eigentlich zuzugeben. Aber nun sah man es. |
1336 |
Ja, worum Klaus Heinrich fortan mit Blick und Worten bat, war nicht sowohl, daß Fräulein Spoelmann die Empfindungen, die er ihr entgegenbrachte, erwidern – sondern daß sie sich überhaupt entschließen möge, an die Wirklichkeit und Lebendigkeit dieser Empfindungen zu glauben. |
1337 |
Diese saß gerade aufgerichtet in ihrem engen braunen Kleid am Tische und handhabte ihr Löffelchen mit vornehmen Bewegungen, ohne sich irgendwie gehen zu lassen. Der heute sprach, war Herr Spoelmann. Er tat es, wie gesagt, auf eine sanfte, ja wehmütige Weise, die das Ergebnis seiner Schmerzen war. |
1338 |
Was aber hatte die menschenfreundliche Anstalt getan? Sie hatte die Schenkung ausgeschlagen, sie zurückgewiesen, die Annahme verweigert – und zwar mit dem ausdrücklichen Hinzufügen, daß sie es vorziehe, auf eine Unterstützung mit fragwürdig und gewalttätig erworbenem Gut Verzicht zu leisten. |
1339 |
Er antwortete auf keine Frage, ließ sich nicht aufhalten und ging. Man fragte einander in seiner Abwesenheit, was er im Sinn haben könne, und Doktor Watercloose, wohl in der Befürchtung, daß ein Schmerzensanfall seinen Patienten vertrieben habe, folgte ihm auf dem Fuße. |
1340 |
Aber in letzter Zeit habe ich oftmals über ihn nachgedacht, und als Sie damals so über ihn geurteilt hatten, da habe ich mich mehrere Stunden lang mit Ihrem Urteil beschäftigt und mußte Ihnen recht geben. Denn ich will Ihnen sagen, Imma, welche Bewandtnis es mit Doktor Überbein hat. |
1341 |
Wie könnte man Vertrauen zu Ihnen haben. Nein, es ist nicht Vertrauen, was Sie einflößen, sondern Kälte und Befangenheit, und wenn ich mir auch Mühe gäbe, Ihnen näherzukommen, so würde mich diese Art von Befangenheit und Unbeholfenheit daran hindern – jetzt habe ich geantwortet. |
1342 |
Man sprach von nichts anderem. In den geringeren Stadtgegenden, zum Beispiel in der Nähe des Dorotheen-Kinderspitals, standen gegen Abend die Frauen vor ihren Haustüren, preßten die flachen Hände gegen den Busen und keuchten, um einander deutlich zu machen, wie es sei, wenn einem der Atem fehle. |
1343 |
Diese Ausfahrt jedoch, die acht Tage nach des Fräuleins Erkrankung an einem sonnigen Herbstvormittag stattfand, sollte zu einer Gefühlsäußerung von seiten der Bevölkerung Veranlassung geben, die von Leuten mit strengem Selbstbewußtsein sogar als zu weitgehend bezeichnet wurde. |
1344 |
Jener nüchterne kleine Salon, in welchem die drei schönen Empirefauteuils in Mahagoni mit der bläulichen Lyrastickerei auf gelbem Grunde standen, war der Schauplatz der Unterhaltung. Wiewohl den Siebzig nicht mehr fern, war Exzellenz von Knobelsdorff rüstig in körperlichem wie in geistigem Betracht. |
1345 |
Ich bekenne, daß ich über Euerer Königlichen Hoheit Erlebnisse unterrichteter bin, als ich mir eben den Anschein gab. Königliche Hoheit werden mir, abgesehen von jenen Feinheiten und Einzelheiten, die das Gerücht nicht aufzunehmen vermag, kaum etwas Neues mitzuteilen haben. |
1346 |
Er hatte die Sofabank verlassen, wodurch er Herrn von Knobelsdorff gezwungen hatte, sich ebenfalls zu erheben, und wollte der Wärme wegen durchaus die Glastür zu der kleinen Veranda öffnen, was aber Herr von Knobelsdorff mit dem Hinweis auf die große Erkältungsgefahr verhinderte. |
1347 |
Es gab keinen amerikanischen Geschäftsträger am Orte – kein Grund dafür, erklärte Herr von Knobelsdorff, die Damen durch den erstbesten Kammerherrn präsentieren zu lassen: nein, der Oberzeremonienmeister selbst bitte um die Ehre, sie dem Großherzog vorstellen zu dürfen. |
1348 |
Es werde Gerede geben, Aufsehen bei Hofe und in der Stadt. Aber gleichviel und um so besser. Aufsehen war keineswegs unerwünscht, Aufsehen war nützlich, war notwendig ... Herr von Knobelsdorff ging. Es war so dunkel geworden, als er sich verabschiedete, daß man einander kaum noch sah. |
1349 |
Klaus Heinrich, der dessen erst jetzt gewahr wurde, entschuldigte sich in einiger Verwirrung, aber Herr von Knobelsdorff erklärte es für ganz unwesentlich, in welcher Beleuchtung eine solche Unterredung stattfinde. Er nahm Klaus Heinrichs Hand, die dieser ihm bot, und umfaßte sie mit seinen beiden. |
1350 |
Es waren Werke von nüchternem und schulbuchmäßigem Aussehen, mit Glanzpapierbacken, unschön geschmückten Lederrücken und rauhem Papier, auf welchem der Inhalt peinlich nach Abschnitten, Hauptabteilungen, Unterabteilungen und Paragraphen angeordnet war. Ihre Titel waren nicht heiter. |
1351 |
Aber während er sprach, von Imma mit Mund und Augen befragt, sich mühte, sich ereiferte und sich ganz seinem Gegenstand hingab, fühlte Gräfin Löwenjoul sich nicht länger zu nüchterner Klarheit angehalten durch seine Gegenwart, sondern ließ sich gehen und erlaubte sich die Wohltat des Irreschwatzens. |
1352 |
Herr von Bühl zu Bühl beklagte bitter diese Überstürzung, welche ihn und seine Unterbeamten zwänge, die Vorbereitungen zu der wichtigsten höfischen Festlichkeit über das Knie zu brechen, namentlich die Ausbesserungen, deren die Festräume des Alten Schlosses so dringend bedürftig waren. |
1353 |
Aber war nun ihre Stellung schon zu befestigt, als daß die Kritik sich hervorgewagt hätte, oder hatte ihre Persönlichkeit an und für sich den heimlichen Widerstand überwunden – nur eine Stimme hatte geherrscht, und es war die gewesen, daß Imma Spoelmann schön sei wie Bergkönigs Töchterlein. |
1354 |
Und indem er mit der kurzen, gerundeten Unterlippe leicht an der oberen gesogen, hatte Albrecht auf ihre spröde Pagenverneigung niedergeblickt, aus der sie sich erhoben hatte, um aus redenden Augen den leidenden Husarenobersten in seinem stillen Hochmut mit dunklem Forschen zu betrachten. |
1355 |
Hierauf, nach einer Pause, welche vielleicht eine Pause des inneren Kampfes gewesen, hatte Albrecht ihr sein Vergnügen zum Ausdruck gebracht, sie bei Hofe zu sehen; und dann hatte auch Gräfin Löwenjoul, mit einem seitwärts entgleitenden Blick, ihre Kniebeugung vollführen dürfen. |
1356 |
Dieser Auftritt, Imma Spoelmann vor Albrecht, blieb lange der Lieblingsgegenstand des Gesprächs, und obgleich er ohne Sonderlichkeiten verlaufen war, wie er verlaufen mußte, so sollen sein Reiz und seine Bedeutung nicht geschmälert werden. Der Höhepunkt des Abends war er nicht. |
1357 |
Seine Instruktion war offenbar die gewesen, ihr nicht gerade das erste zu bringen. Er hatte zunächst seiner Tante Katharina und einer rothaarigen Cousine je eines überreicht; aber dann war er mit einem Fliedersträußchen aus der Hofgärtnerei vor Imma Spoelmann hingetreten. |
1358 |
Dann hatten sie, ruhig sprechend, ziemlich lange miteinander getanzt. Jedoch während dieses Tanzes war es gewesen, daß jener unbelauschte Wortwechsel, jene Unterredung mit greifbar bürgerlichem Inhalt und sachlichem Enderfolg zwischen ihnen stattgefunden hatte ... hier ist sie. |
1359 |
Dort war sie, einzig dort, im Stadtpark, in dem zweiten Zentrum der Residenz, an dem Wohnsitz des kränkelnden Geldfürsten, unseres Gastes und Einwohners, dessen Person das Volk mit seinen Träumen umspann, und für den es ein kleines sein würde, allen unseren Mißhelligkeiten ein Ende zu bereiten. |
1360 |
Kurz, so weise und unwiderstehlich war seine Rede, daß er das Alte Schloß nicht verließ, ohne stolz gelispelte Genehmigungen und Ermächtigungen mit fortzunehmen, die weit genug reichten, um, wenn Fräulein Spoelmann nur irgend das ihre getan hatte, Abschlüsse sondergleichen zu gewährleisten. |
1361 |
Das neue Mitglied des Herrscherhauses würde auf jede Apanage verzichten. Was das höfische Zeremoniale betraf, so war zum Feste der linkshändigen Vermählung nur eine Sprechcour, zur Feier der Ebenbürtigkeitserklärung jedoch jene höchste und vollkommenste Huldigungsform, die Defiliercour, vorgesehen. |
1362 |
Wieder stand Klaus Heinrich in dem großen, zugigen Arbeitszimmer unter dem zersprungenen Deckengemälde vor seinem Bruder, wie einst, als Albrecht ihm die Repräsentationspflichten übertragen hatte, und nahm in dienstlich geschlossener Haltung die großen Mitteilungen entgegen. |
1363 |
Dabei fällt die Frage kaum ins Gewicht, als ob ich sie auch nur verdiene. Ich gehe zur Abfahrtsstunde auf den Bahnhof, um zu winken – das ist weniger verdienstvoll als albern, aber es ist nun einmal mein Amt. Dein Fall ist freilich ein anderer. Du bist ein Sonntagskind. |
1364 |
Übrigens sagte ich schon, daß alles sich dir zum besten fügt. Das Mädchen deiner Wahl ist recht fremdartig, recht wenig hausbacken, recht unvolkstümlich zu guter Letzt. Sie hat viererlei Blut ... ich habe mir sagen lassen, daß sogar indianisches Blut in ihren Adern fließt. |
1365 |
An des Doktors Grabe bildeten sich zwei Parteien. Erschüttert durch seine Verzweiflungstat, behaupteten die einen, man habe ihn in den Tod getrieben; die andern erklärten achselzuckend, daß sein Benehmen unmöglich und hirnverbrannt, seine Maßregelung durchaus geboten gewesen sei. |
1366 |
Sowohl mit dem Faulenzen also, wie mit der Langeweile hatte es in der Unterprima ein jähes Ende genommen. Doktor Überbeins Ansprüche waren hochgespannt, seine Kunst, auch die Widerwilligsten dafür zu begeistern, war unwiderstehlich gewesen. Die jungen Leute beteten ihn an. |
1367 |
Und fanatisiert von seiner bebenden Erregung, hatten sie geschrien, sie wollten ihn. Dann sollten sie gefälligst selbst ihre Sache in die Hand nehmen, Farbe bekennen und geschlossen vorgehen, hatte er gesagt – und Gott wußte, was er sich in seiner Überreiztheit eigentlich dabei gedacht hatte. |
1368 |
Er wurde nicht unnötig aufgebauscht. Die Revoltanten blieben fast straflos, da Doktor Überbein bei der sofort eingeleiteten Untersuchung selbst seine Ansprache zu Protokoll gegeben hatte. Aber auch was ihn selbst, den Doktor, betraf, so schien die Behörde durchaus geneigt, ein Auge zuzudrücken. |
1369 |
Es hatte ein Ende mit den Angstverkäufen von Schuldforderungen, der landesübliche Zinsfuß sank, unsere Verschreibungen waren als Anlagepapiere freudig begehrt, und von heute auf morgen schnellte der Kurs unserer hochverzinslichen Anleihen aus kummervollem Stande weit über pari empor. |
1370 |
So viele Menschen! Da stehen sie und rufen herauf. Viele davon sind sicher Kujone und führen einander auf den Leim und bedürfen dringlich der Erhebung über den Wochentag und seine Sachlichkeit. Aber wenn man dabei sich ihrer Not und Bedrängnis nicht fremd zeigt, so sind sie sehr dankbar. |
1371 |
Immerhin meine ich persönlich, daß manche Vermutungen, die ich damals nicht öffentlich äußerte, die wirkliche Aufklärung jener erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar vorausging. |
1372 |
Am nächsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht lange und ließ mir den Platz zuschreiben. |
1373 |
Ich hatte eine neue Welt gesehen, rasch ineinanderstürzende Bilder in rasender Jagd in mich eingetrunken. Nun wollte ich mirs übersinnen, zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte gestalten, aber hier auf dem gedrängten Boulevard gab es nicht eine Minute Ruhe und Rast. |
1374 |
Es war unmöglich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein. Drei Tage lang versuchte ichs, sah resigniert auf die Menschen, auf das Meer, aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergang plötzlich mit allen Farben jäh übergossen. |
1375 |
Schließlich drehte ich entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um das Souper und den Tanzabend zu überschlafen. Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der Kabine. |
1376 |
Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten, aber doch: er strahlte; es war, als verhüllte dort ein samtener Vorhang ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen, durch die jenes unbeschreiblich Helle vorglänzte. |
1377 |
Nie hatte ich den Himmel gesehen wie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und doch funkelnd, triefend, rauschend, quellend von Licht, das vom Mond verhangen niederschwoll und von den Sternen und das irgendwie aus einem geheimnisvollen Innen zu brennen schien. |
1378 |
Ich stand und sah empor: mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fällt, nur daß dies Licht war, das mir weiß und auch lau die Hände überspülte, die Schultern, das Haupt mild umgoß und irgendwie nach innen zu dringen schien, denn alles Dumpfe in mir war plötzlich aufgehellt. |
1379 |
Nun, nun zum ersten Male, seit ich die Planken betreten, überkam mich die heilige Lust des Träumens, und jene andere sinnlichere, meinen Körper weibisch hinzugeben an dieses Weiche, das mich umdrängte. Ich wollte mich hinlegen, den Blick hinauf zu den weißen Hieroglyphen. |
1380 |
Aber die Ruhesessel, die Deckchairs waren verräumt, nirgends fand sich auf dem leeren Promenadendeck ein Platz zu träumerischer Rast. So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu dringen schien. |
1381 |
Ich wollte schlafen, träumen und doch nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg. Unwillkürlich ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie, über mich strömte der silberne Glanz. |
1382 |
Irgend etwas zog mich, verwirrte mich, und ich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwarzen Gewind am Kiel, ob er wieder dort starr sitze, der Geheimnisvolle. Von oben her schlug die Schiffsglocke. Dies riß mich fort. Schritt für Schritt, widerwillig und doch gezogen, gab ich mir nach. |
1383 |
Ich zündete an. Wieder riß sich das Gesicht flackernd vom schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter der Brille forschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irren Gewalt. Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte, sprechen mußte. |
1384 |
Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu helfen. Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der Lichtring der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Hand bebte. |
1385 |
Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben sich gestellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte, während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augenblick stand Schweigen zwischen uns. |
1386 |
Nun, ich dachte gleich, es müßte ein sauberes Ding sein, für das man Handgeld biete, ich wußte, daß die Grabkreuze auf diesen Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen als bei uns, aber wenn man jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod springt immer nur auf die andern. |
1387 |
Die paar Europäer langweilten mich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte in mich hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dann war ich frei mit Pension, konnte nach Europa zurückkehren, noch einmal ein Leben anfangen. Eigentlich tat ich nichts mehr als warten, stilliegen und warten. |
1388 |
So still war es, daß ich mit einem Male wieder das Wasser hörte, das sich schäumend am Kiel brach, und den fernen, dumpfen Herzstoß der Maschine. Ich hätte mir gern eine Zigarette angezündet, aber ich hatte Furcht vor dem grellen Aufschlag des Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht. |
1389 |
Ich will die Treppe hinab, reiße mich aber noch zurück. Ein Blick in den Spiegel, hastig richte ich mich ein wenig zurecht. Ich bin nervös, unruhig, irgendwie gequält von unangenehmem Vorgefühl, denn ich weiß niemanden auf der Welt, der aus Freundschaft zu mir käme. Endlich gehe ich hinunter. |
1390 |
Ich werde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeit empfinde, so stumm vor ihr zu stehen, übergossen von ihrer prasselnden Geschwätzigkeit. Endlich stoppt sie ein wenig, und ich kann sie hinaufbitten. Sie macht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben, und geht vor mir die Treppe empor. |
1391 |
Ich sah ein Gesicht, ganz so wie ich es — gefürchtet hatte, ein undurchdringliches Gesicht, hart, beherrscht, von einer alterslosen Schönheit, ein Gesicht mit grauen englischen Augen, in denen alles Ruhe schien und hinter die man doch alles Leidenschaftliche träumen konnte. |
1392 |
Sie mußte irgend etwas davon fühlen, denn sie spannte ihre Augenbrauen hoch, wie wenn man jemand Lästigen wegweisen will: der Haß zwischen uns war plötzlich nackt. Ich wußte, sie haßte mich, weil sie mich brauchte, und ich haßte sie, weil ... weil sie nicht bitten wollte. |
1393 |
Ich wußte um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ich wußte, daß es für sie um Leben und Tod ginge, und hatte doch keine Möglichkeit, mich nur mit einem Flüstern, mit einem Zeichen ihr zu nähern, denn gerade das Stürmische, das Tölpische meines Nachrennens hatte sie erschreckt. |
1394 |
Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge — drei Uhr. Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle zitterte schon unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie eine Brise her. |
1395 |
Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte ihn rufen lassen — er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits erfahren hatte. |
1396 |
Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gieriger Blick, mein leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine Schnurrbärtchen über der Lippe zuckte verräterisch ... dieser junge Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, um nicht herauszuschluchzen. |
1397 |
Ich sah ihn ernst und gequält abseits von den andern auf und ab gehen, und der Gedanke, daß ich um seine geheimste Sorge wußte, gab mir eine geheimnisvolle Scheu: ich bog immer zur Seite, wenn er vorüberkam, um nicht mit einem Blick zu verraten, daß ich mehr von seinem Schicksal wußte als er selbst. |
1398 |
Ich fragte einen Matrosen, was geschehen sei. Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, daß Auftrag zum Schweigen gegeben sei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wieder friedfertig und ohne Spur eines Zwischenfalles nach Genua weiterfuhr, war nichts an Bord zu erfahren. |
1399 |
Ich fühlte nichts als den brennenden Andrang der Luft außen an meinen Poren und innen den hastigen Hammerschlag des fiebrig pochenden Blutes. Da auf einmal war mir, als ob durch die Natur ein Atem ginge, leise, ganz leise, als ob ein heißer, sehnsüchtiger Seufzer sich aufhübe von irgendwo. |
1400 |
Wie ein Lebendiges und Erregtes huschten sie hin und her, und plötzlich hob es sich auf, irgendwo fern, ein tiefer, schwingender Ton. Wirklich: Wind kam über die Welt, ein Flüstern, ein Wehen und Weben, ein tiefes, orgelndes Brausen und jetzt ein stärkerer, mächtiger Stoß. |
1401 |
Ich zitterte vor Erregung. Mein Blut war von den feinen Stacheln der Hitze aufgereizt, meine Nerven knisterten und spannten sich, nie hatte ich so wie jetzt die Wollust des Windes geahnt, die selige Lust des Gewitters. Und es kam, es zog heran, es schwoll und kündete sich. |
1402 |
Wo überall ich hinblickte, war die gleiche Erwartung wie in mir, die Erde hatte ihre Sprünge gedehnt: wie kleine, durstige Mäuler waren sie aufgerissen, und so fühlte ich es auch am eigenen Leibe, daß Pore an Pore sich auftat und spannte, Kühle zu suchen und die kalte, schauernde Lust des Regens. |
1403 |
Wie der eiserne Vorhang eines Theaters senkte sich allmählich bleierner Himmel nieder und nieder. Jetzt war schon der ganze Raum schwarz überspannt, zusammengepreßt die warme, verhaltene Luft, und nun setzte noch ein letztes Innehalten der Erwartung ein, stumm und grauenhaft. |
1404 |
Ich hörte hinter mir die Menschen herumeilen, aus dem Walde kamen sie, aus der Tür des Hotels, von allen Seiten flüchteten sie, die Dienstmädchen ließen die Rolläden herunter und schlossen krachend die Fenster. Alles war plötzlich tätig und aufgeregt, rührte sich, bereitete sich, drängte sich. |
1405 |
Ich wendete mich um. Hinter mir stand ein Mädchen, das offenbar die Worte gesagt, denn ihre Lippen, die blassen und fein geschwungenen, waren noch im Lechzen aufgetan, und ihr Arm, der sich an der Tür hielt, zitterte leise. Nicht zu mir hatte sie gesprochen und zu niemandem. |
1406 |
Etwas Nachtwandlerisches und Traumhaftes war in ihrer statuenhaften Gestalt, in ihrem gelösten Blick. Und wie sie so dastand, weiß in ihrem lichten Kleide gegen den bleifarbnen Himmel, schien sie mir der Durst, die Erwartung der ganzen schmachtenden Natur. Etwas zischte leise neben mir ins Gras. |
1407 |
Etwas knirschte leise im heißen Kies. Überall war plötzlich dieser leise surrende Ton. Und plötzlich begriff ichs, fühlte ichs, daß dies Tropfen waren, die schwer niederfielen, die ersten verdampfenden Tropfen, die seligen Boten des großen, rauschenden, kühlenden Regens. |
1408 |
Noch waren sie spärlich, die platschenden Tropfen, aber ich fühlte ihre sinkende Fülle schon voraus, ich hörte sie schon strömen und rauschen, die aufgetanen Schleusen, ich spürte schon das selige Niederbrechen des Himmels über dem Walde, über das Schwüle der verbrennenden Welt. |
1409 |
Zaghaft tropfte es herab, und statt schneller zu werden, ward der Takt langsam und immer langsamer und stand dann plötzlich still. Es war, wie wenn das Ticken eines Minutenzeigers in einer Uhr plötzlich aufhört und die Zeit erstarrt. Mein Herz, das schon glühte vor Ungeduld, wurde plötzlich kalt. |
1410 |
Der Himmel blickte schwarz und starr nieder mit umdüsterter Stirn, totenstill blieb es minutenlang, dann aber schien es, als ob ein leises, höhnisches Leuchten über sein Antlitz ginge. Von Westen her hellte sich die Höhe auf, die Wand der Wolken löste sich mählich, leise polternd rollten sie weiter. |
1411 |
Wie von Wut lief noch ein leises, letztes Zittern durch die Bäume, sie beugten und krümmten sich, dann aber fielen die Laubhände, die schon gierig aufgereckt waren, schlaff zurück, wie tot. Immer durchsichtiger ward der Wolkenflor, eine böse, gefährliche Helle stand über der wehrlosen Welt. |
1412 |
Fast körperlich begann dieser Brand in mir zu werden, und als ich jetzt mit den Fingern nach dem Holz der Tür griff, knisterte es leise unter ihnen wie Zunder, brenzlig und trocken. Der Gong lärmte zur Abendmahlzeit. Tief in mich schlug der kupferne Klang hinein, schmerzhaft auch er. |
1413 |
Widerlich war mir der tote Klang. Ich hatte keinen Hunger, kein Verlangen nach Menschen, aber diese einsame Schwüle hier draußen war zu fürchterlich. Der ganze schwere Himmel lastete stumm auf meiner Brust, und ich fühlte, ich könnte seinen bleiernen Druck nicht länger mehr tragen. |
1414 |
Ich mußte mich bemeistern, um nicht etwas Sinnloses zu tun, denn ich fühlte es an meinem Pulse: alle meine Sinne hatten Fieber. Jeden einzelnen dieser Menschen mußte ich ansehen, und gegen jeden fühlte ich Haß, als ich sie so friedlich dasitzen sah, gefräßig und gemächlich, indessen ich glühte. |
1415 |
Nur den Nacken sah ich, weiß und schmal und darüber wie einen Stahlhelm schwarz und fast blau das volle Haar. Sie saß reglos da, und an ihrer Starre erkannte ich sie als dieselbe, die früher auf der Terrasse lechzend und aufgetan vor dem Regen gestanden wie eine weiße, durstende Blume. |
1416 |
Niemand half mir. Auch sie fühlte mich nicht. Auch in ihr war nicht die Welt. Ich brannte allein. Oh, diese Schwüle außen und innen, ich konnte sie nicht mehr ertragen. Der Dunst der warmen Speisen, fett und süßlich, quälte mich, jedes Geräusch bohrte sich den Nerven ein. |
1417 |
Wieder rückten neben mir die Sessel, und wieder schrak ich zusammen. Das Diner war zu Ende, die Leute standen lärmend auf: auch meine Nachbarn erhoben sich und gingen an mir vorbei. Der Vater zuerst, gemächlich und satt, mit freundlichem, lächelndem Blick, dann die Mutter und zuletzt die Tochter. |
1418 |
Es war gelblich bleich, von derselben matten, kranken Farbe wie draußen der Mond, die Lippen waren noch immer, wie früher, halb geöffnet. Sie ging lautlos und doch nicht leicht. Irgend etwas Schlaffes und Mattes war an ihr, das mich seltsam gemahnte an das eigene Gefühl. |
1419 |
In diesem Augenblick sah sie mich an. Starr und schwarz stieß ihr Blick in mich hinein und blieb in mir festgehakt, tief und saugend, daß ich nur ihn spürte, ihr helles Gesicht darüber entschwand und ich einzig dieses düsternde Dunkel vor mir fühlte, in das ich stürzte wie in einen Abgrund. |
1420 |
Oh, wie wirr alles durcheinander ging in dieser phantastischen schwülen Nacht, wie alles zergangen war in dies eine Gefühl von Erwartung und Ungeduld! War es mein Wahnsinn, war es der der Welt? Ich war erregt und wollte Antwort wissen, und so ging ich ihr nach in die Halle. |
1421 |
Sie las ein Buch, aber ich glaubte ihr nicht, daß sie lese. Ich war gewiß, daß, wenn sie fühlte wie ich, wenn sie litt mit der sinnlosen Qual der verschwülten Welt, daß sie nicht rasten könnte im stillen Betrachten, daß dies ein Verstecken war, ein Verbergen vor fremder Neugier. |
1422 |
Ich setzte mich gegenüber und starrte sie an, ich wartete fiebernd auf den Blick, der mich bezaubert hatte, ob er nicht wiederkommen wolle und mir sein Geheimnis lösen. Aber sie rührte sich nicht. Die Hand schlug gleichgültig Blatt um Blatt im Buche, der Blick blieb verhangen. |
1423 |
Und ich wartete gegenüber, wartete heißer und heißer, irgendeine rätselhafte Macht des Willens spannte sich, muskelhaft stark, ganz körperlich, diese Verstellung zu zerbrechen. Zwischen all den Menschen, die dort gemächlich sprachen, rauchten und Karten spielten, hub nun ein stummes Ringen an. |
1424 |
Rückwärts im Saale begann jemand Klavier zu spielen. Die Töne perlten leise herüber, auf und ab in flüchtigen Skalen, drüben lachte jetzt eine Gesellschaft lärmend über irgendeinen albernen Scherz, ich hörte alles, fühlte alles, was geschah, ohne aber für eine Minute nachzulassen. |
1425 |
Hoch oben über mir hörte ich noch die klingenden Skalen auf und nieder rollen, aber schon wußte ich nicht mehr, wo mir dies geschah. Mein Blut war weggeströmt, mein Atem stockte. Schon spürte ich, wie es mich würgte, diese Minute oder Stunde oder Ewigkeit — da schlugen ihre Lider wieder zu. |
1426 |
Ich tauchte auf wie ein Ertrinkender aus dem Wasser, frierend, geschüttelt von Fieber und Gefahr. Ich sah um mich. Mir gegenüber saß unter den Menschen, still über ein Buch gebeugt, bloß mehr ein schlankes junges Mädchen, regungslos, bildhaft, nur leise unter dem dünnen Gewand wippte das Knie. |
1427 |
Ich wußte, daß jetzt dieses wollüstige Spiel von Erwartung und Widerstand wieder beginnen sollte, daß ich Minuten angespannt fordern mußte, um dann plötzlich wieder so in schwarze Flammen getaucht zu werden von einem Blick. Meine Schläfen waren feucht, in mir siedete das Blut. |
1428 |
Weit war die Nacht vor dem glänzenden Haus. Das Tal schien versunken, und der Himmel glänzte feucht und schwarz wie nasses Moos. Auch hier war keine Kühlung, noch immer nicht, überall auch hier das gleiche, gefährliche Sichgatten von Dürsten und Trunkenheit, das ich im Blute spürte. |
1429 |
Etwas Ungesundes, Feuchtes, wie die Ausdünstung eines Fiebernden, lag über den Feldern, die milchweißen Dunst brauten, ferne Feuer zuckten und geisterten durch die schwere Luft, und um den Mond lag ein gelber Ring und machte seinen Blick bös. Ich fühlte mich müde wie nie. |
1430 |
Die Glieder fielen von mir ab, regungslos streckte ich mich hin. Und da, nur nachgebend angeschmiegt an das weiche Rohr, empfand ich mit einemmal die Schwüle als wunderbar. Sie quälte nicht mehr, sie drängte sich nur an, zärtlich und wollüstig, und ich wehrte ihr nicht. |
1431 |
Manchmal war mir, als wäre diese Dunkelheit nur sie, und jene Wärme, die meine Glieder rührte, ihr eigener Leib, gelöst in Nacht wie der meine, und noch im Traume sie empfindend, schwand ich hin in dieser schwarzen, warmen Welle von wollüstiger Verlorenheit. Irgend etwas schreckte mich auf. |
1432 |
Und dann sah ichs, erkannte ichs, daß ich da gelehnt hatte mit geschlossenen Augen und in Schlaf gesunken war. Ich mußte geschlummert haben, eine Stunde oder Stunden vielleicht, denn das Licht in der Halle des Hotels war schon erloschen und alles längst zur Ruhe gegangen. |
1433 |
Die Luft schmeckte nach Feuer und Funken, es glänzten verräterische Blitze hinter den Bergen, und in mir phosphoreszierte Erinnerung und Vorgefühl. Ich wäre gern geblieben, mich zu besinnen, den geheimnisvollen Zustand genießend aufzulösen: aber die Stunde war spät, und ich ging hinein. |
1434 |
Kaum daß ich die Augen schloß, fühlte ich purpurne Funken hinter den Lidern. Noch glänzte in mir der weiße, glühende Tag, noch fieberte in mir diese flirrende, feuchte, funkelnde, phantastische Nacht! Aber ich konnte hier im Flur nicht bleiben, es war alles dunkel und verlassen. |
1435 |
Irgendein Widerstand war in mir, den ich nicht zu zähmen wußte. Ich war müde, und doch fühlte ich mich zu früh für den Schlaf. Irgendeine geheimnisvolle, hellsichtige Witterung verhieß mir noch Abenteuerliches, und meine Sinne streckten sich vor, Lebendiges, Warmes zu erspähen. |
1436 |
Ich ahnte irgend etwas, das wach war wie ich. War es jener Blick, war es die Landschaft, die diesen feinen purpurnen Wahnsinn in mich getan? Ich glaubte irgend etwas Weiches durch Wall und Wand zu spüren, eine kleine Flamme von Unruhe in mir zitterte und lockte im Blut und brannte nicht aus. |
1437 |
Ich trat verwundert näher, zu sehen, was da so hell schimmerte in mondverhangener Nacht. Ich trat näher, und da regte sichs. Ich erstaunte: aber doch, ich erschrak nicht, denn etwas war in dieser Nacht in mir wunderlich dem Phantastischesten bereit, alles schon vorher gedacht und traumbewußt. |
1438 |
Keine Begegnung wäre mir sonderbar gewesen und diese am wenigsten, denn wirklich: sie war es, die dort stand, sie, an die ich unbewußt gedacht, bei jeder Stufe, bei jedem Schritt in dem schlafenden Haus, und deren Wachheit meine aufgefunkelten Sinne durch Diele und Tür gespürt. |
1439 |
Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie erreicht haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich wußte nicht, ob sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn nichts Jähes war in ihrer Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand. |
1440 |
Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton, der heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich ihr Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich nicht verwundert, nicht verwirrt. |
1441 |
Aber ich fühlte dennoch: sie sprach nicht zu mir. Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags vor dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie gab nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen ihre Schultern gegen mich. |
1442 |
Ich erschrak, und sie ward mir im Arme schwer. Leise wollte ich die Willenlose hingleiten lassen auf den Sessel, auf das Bett, um nicht aus einem Taumel Lust zu stehlen, nicht etwas zu nehmen, was sie vielleicht selbst nicht wollte, sondern nur jener Dämon in ihr, der Herr ihres Blutes war. |
1443 |
Ich riß sie an mich, ich schüttelte sie, ich klemmte die Zähne in ihre Lippen und meine Finger in ihre Arme, damit sie endlich die Augen aufschlüge und nun besonnen täte, was hier nur dumpf ein Trieb in ihr genoß. Aber sie bog sich nur und stöhnte unter der schmerzhaften Umklammerung. |
1444 |
Ich spürte, daß das Wache bereits nahe in ihr war, daß es aufbrechen wollte unter den geschlossenen Lidern, denn sie zuckten schon unruhig. Näher faßte ich sie, tiefer grub ich mich in sie ein, und plötzlich fühlte ich, wie eine Träne die Wange hinabrollte, die ich salzig trank. |
1445 |
Mit einemmal ward sie wieder schweres, lastendes Gewicht in meinen Armen, ihre Lippen ließen mich, die Hände sanken, und wie ich sie zurücklehnte auf das Bett, blieb sie liegen gleich einer Toten. Ich erschrak. Unwillkürlich fühlte ich sie an und tastete ihre Arme und ihre Wangen. |
1446 |
Marmor, eine Statue, lag sie da, feucht die Wangen von Tränen, den Atem leise spielend um die gespannten Nüstern. Manchmal überrann sie noch leise ein Zucken, eine verebbende Welle des erregten Blutes, doch die Brust wogte immer leiser und leiser. Immer mehr schien sie Bild zu werden. |
1447 |
Mir war, als läge hier unter meinen Händen die ganze heiße Welt mit ihren entschwülten Sinnen, als hätte sich die Erde aufgebäumt in ihrer Qual und sie als Boten gesandt aus dieser seltsamen, phantastischen Nacht. Etwas klirrte hinter mir. Ich fuhr auf wie ein Verbrecher. |
1448 |
Aus dem Dunkel sprang er, gewaltig und stark, seine Fäuste rissen an den Fenstern, hämmerten gegen das Haus. Wie ein furchtbarer Schlund war das Finstere aufgetan, Wolken fuhren heran und bauten schwarze Wände in rasender Eile empor, und etwas sauste gewalttätig zwischen Himmel und Welt. |
1449 |
Weggerissen war die beharrliche Schwüle von dieser wilden Strömung, alles flutete, dehnte, regte sich, eine rasende Flucht war von einem Ende zum andern des Himmels, und die Bäume, die festgewurzelten in der Erde, stöhnten unter der unsichtbaren, sausenden, pfeifenden Peitsche des Sturmes. |
1450 |
Alles vergaß ich in dem ekstatischen Gefühl, wieder atmen zu können und frisch zu sein, und ich sog diese Kühle in mich wie die Erde, wie das Land: ich fühlte den seligen Schauer des Durchrütteltseins wie die Bäume, die sich zischend schwangen unter der nassen Rute des Regens. |
1451 |
Klar waren die Grenzen gezogen, unendlich fern stand der Himmel, der gestern sich tief hinab in die Felder gewühlt und sie fruchtbar gemacht. Jetzt aber war er fern, weltenweit und ohne Zusammenhang, nirgends rührte er sie mehr an, die duftende, atmende, gestillte Erde, sein Weib. |
1452 |
Ein blauer Abgrund schimmerte kühl zwischen ihm und der Tiefe, wunschlos blickten sie einander an und fremd, der Himmel und die Landschaft. Ich ging hinab in den Saal. Die Menschen waren schon beisammen. Anders war auch ihr Wesen als in diesen entsetzlichen Wochen der Schwüle. |
1453 |
Ihr Lachen klang hell, ihre Stimmen melodisch, metallen, die Dumpfheit war entflogen, die sie behinderte, das schwüle Band gesunken, das sie umflocht. Ich setzte mich zwischen sie, ganz ohne Feindlichkeit, und irgendeine Neugier suchte nun auch die Andere, deren Bild mir der Schlaf fast entwunden. |
1454 |
Neugierig umfaßte ich sie mit dem Blick. Sie bemerkte mich nicht. Sie erzählte irgend etwas, das sie froh machte, und zwischen die Worte perlte ein kindliches Lachen hinein. Endlich sah sie gelegentlich auch zu mir hinüber, und bei dem flüchtigen Anstreifen stockte unwillkürlich ihr Lachen. |
1455 |
Sie sah mich schärfer an. Etwas schien sie zu befremden, die Brauen schoben sich hoch, streng und gespannt umfragte mich ihr Auge, und allmählich bekam ihr Gesicht einen angestrengten, gequälten Zug, als ob sie sich durchaus auf etwas besinnen wollte und es nicht vermöchte. |
1456 |
Ich persönlich halte diese Blätter nun durchaus nicht für eine erfundene Erzählung, sondern für ein wirkliches, in allen Einzelheiten tatsächliches Erlebnis des Gefallenen und veröffentliche unter Unterdrückung des Namens seine seelische Selbstenthüllung ohne jede Änderung und Beifügung. |
1457 |
Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, eben aus jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht verständlich machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von einer so zufälligen Angelegenheit dermaßen erschüttert und umgewühlt worden zu sein. |
1458 |
Aber wie ich dies Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für einen Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht zu wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit sich an das einfachste Vokabel knüpft. |
1459 |
Was sich damals unbewußt in manchen Augenblicken der Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker, unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und vielleicht auch zu leiden. |
1460 |
Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit gegen mich begehen. |
1461 |
Ich hatte nicht gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht selbst erschreckt hätte. |
1462 |
Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl. Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen und gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. |
1463 |
Ich erinnerte mich mit ein wenig Neugier des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die schweren Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten eleganten Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. |
1464 |
Die Reiter mußten längst gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten, Schreie los und aufgeregte Zurufe. |
1465 |
Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. |
1466 |
Jetzt mußten an der Kurve ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einem Male ballte sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die immer wieder einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und diese Schreie schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit. |
1467 |
Ein paar schöne Frauen gingen vorbei, ich sah ihnen frech, aber ohne innerliches Begehren auf die Brüste, die unter der dünnen Gaze bei jedem Schritt bebten und lächelte innerlich über ihre halb peinliche, halb wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so sinnlich abgeschätzt und frech entkleidet fühlten. |
1468 |
Ich kann ganz genau den Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die Uhr gesehen: die Zeiger kreuzten sich, und ich sah ihnen mit jener unbeschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten. Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. |
1469 |
Ich wollte die Lachende noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust, meine Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen. |
1470 |
Sie sprach weiter und weiter. Und jedes ihrer Worte fügte meiner blitzschnell gebildeten Phantasievorstellung ein neues Detail hinzu: eine schmale mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid mit einer schief gesteckten Brillantspange, einen hellen Hut mit einem weißen Reiher. |
1471 |
Sie hörte ihm zu, lächelte, lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn gleichzeitig glitt ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin, gleichsam allen zu: sie sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem, der vorüberging und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen ringsum ein. |
1472 |
Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen entblößten Arm stützte sie weich an die Lehne und nützte die leichte Biegung ihres Körpers, um seine Formen sichtbarer zu zeigen. Der Ärger über meine falsche Psychologie war längst vergessen, mich reizte nur das Spiel mit dieser Frau. |
1473 |
Eigentlich war ich erbittert, denn ich haßte gerade an anderen diese Art kalter und boshaft berechnender Sinnlichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so blutschänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt, vielleicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. |
1474 |
Unwillkürlich kam mir, wie ich ihn so keuchen sah, ein unanständiger und unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in ehelichem Alleinsein mit seiner Gattin vor, und übermütig geworden an dieser Vorstellung, lächelte ich geradeaus in ihrem kaum mehr beherrschten Zorn. |
1475 |
Vorne drängten sich die Menschen dicht zusammen, schon begann Erregung zu wogen und, eine einzige, schmutzige, schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, aber ich sah gar nicht hin, es langweilte mich schon. Und ich dachte daran, hinüber in die Kriau zu gehen oder heimzufahren. |
1476 |
Vor mir brandete die Leidenschaft wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen reizten mich nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an die Meraner Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und in den sprühenden Wasserfall hinabgesehen hatte. |
1477 |
Unbewußt blickte ich hin. An erster Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch sah ich auf das blaue Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch hier die Sieben. Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, der gute Lajos richtig gesetzt. |
1478 |
Ich hatte sofort ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich die Hände zurück, um das fremde Geld nicht zu berühren. Am liebsten hätte ich die blauen Scheine auf der Platte liegen lassen; aber hinter mir drängten schon die Leute, ungeduldig, ihren Gewinn ausbezahlt zu bekommen. |
1479 |
So blieb mir nichts übrig, als, peinlich berührt, mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine zu nehmen: wie blaue Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich unbewußt von mir wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie genommen, nicht zu mir selbst. Sofort übersah ich das Fatale der Situation. |
1480 |
Um mich surrten und schwirrten die Stimmen, Leute drängten und stießen von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit der weggespreizten Hand. Was sollte ich tun? An das Natürlichste dachte ich zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich entschuldigen und ihm das Geld zurückerstatten. |
1481 |
Aber das ging nicht an, und am wenigsten vor den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch Reserveleutnant, und ein solches Eingeständnis hätte mich sofort meine Charge gekostet; denn selbst wenn ich das Tickett gefunden hätte, war schon das Einkassieren des Geldes eine unfaire Handlungsweise. |
1482 |
Unwillkürlich sah ich mich um, und wie ich ratlos im Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen zu drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in den Händen. Und der Gedanke war mir Erlösung. |
1483 |
Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon stand der erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein Pferd zu nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich in das Reden rings um mich. |
1484 |
Auch die Unruhe der Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie genau, ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drängen begannen, ja ich ertappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu blicken, die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. |
1485 |
Aber warum interessierte mich das so? Ärgerlich zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, stand auf, setzte mich wieder hin. Mir war ganz plötzlich heiß geworden, ich mußte mir mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich. Noch immer wollte der Start nicht beginnen. |
1486 |
Für eine Sekunde füllte der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik. Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. Ich mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich vor begeisterter Erregung. |
1487 |
Endlich war die Reihe an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues Bündel Banknoten. Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren sechshundertundvierzig Kronen. Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt weiter spielen, mehr gewinnen, viel mehr. |
1488 |
Wo hatte ich nur meine Rennzeitung? Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, eine neue zu erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Erschrecken, wie plötzlich alles rings auseinanderflutete, dem Ausgang zu, daß die Kassen sich schlossen, die flatternde Fahne sank. |
1489 |
Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann sprang ein Zorn in mir auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich spannten und bebten, das Blut so heiß wie seit Jahren nicht mehr in mir rollte, alles zu Ende sein sollte. |
1490 |
Denn gerade jetzt, wo die Erregung wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine lüsterne Neigung, mir noch einmal die ganze Szene in Gedanken zu erneuern. In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor; unwillkürlich blickte ich hin, um sofort wieder ganz bewußt wegzusehen. |
1491 |
Es war die Frau mit ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht bemerkt. Aber sofort überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, als sei ich ertappt. Und am liebsten hätte ich dem Kutscher zugerufen, auf die Pferde einzuschlagen, nur um rasch aus ihrer Nähe zu kommen. |
1492 |
Unwirsch fuhr ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt. |
1493 |
Aber Schmerz, Lust, Erschrecken, Entsetzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln und abgerissen, alles schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte, daß ich atmete und fühlte. Und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl, das ich seit Jahren nicht empfunden, machte mich trunken. |
1494 |
Nie hatte ich mich selbst auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so ekstatisch als lebendig empfunden als in der Schwebe dieser Stunde. Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause fahren solle. |
1495 |
Noch zuckte das absterbende Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte schon wieder meine Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus meiner Freude. Der Kutscher bedankte sich so überschwenglich, daß ich lächeln mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr fort. |
1496 |
Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik, und unwillkürlich ging ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand es als Wollust, dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hingetriebensein inmitten einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen phantastischen Reiz. |
1497 |
Spitz fiel jeder einzelne Laut in mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. |
1498 |
Aber alle sahen an mir vorbei, jeder Blick strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick war grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er auf die schwingenden Holzpferde. |
1499 |
Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau, zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen Blicke taten mir wohl. |
1500 |
Und dieses Schweigen der fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte, festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. |
1501 |
Es war eine Erlösung, als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. |
1502 |
Nun sah man schon Betrunkene johlen, verlotterte Burschen mit lungerndem und doch suchendem Gang sich aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der einen Stunde, in der ich festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen, diese seltsame Welt mehr ins Gemeine hinabgeglitten. |
1503 |
Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom Reflex der kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von meiner Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich herwandte. |
1504 |
Aber auch in diesem Grauen war noch eine magische Lust, denn selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich Vergessenes und dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe, sumpfige Welt, die ich vor Jahren längst durchschritten und die nun phosphoreszierend mir wieder in die Sinne funkelte. |
1505 |
Wie wunderbar war das für die Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich festzuklammern an ihn, mag er auch überschmutzt sein von vielen Griffen, starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. |
1506 |
Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen. |
1507 |
Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich erschrak. |
1508 |
Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite des Platzes. |
1509 |
Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu. Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder die Füße regen. |
1510 |
Und unwillkürlich liebkosten meine Finger diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich noch nie eine Frau berührt. Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest zusammenhielten. |
1511 |
Noch war es Zeit zu entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein Pfiff konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf. |
1512 |
Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm. Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte. In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. |
1513 |
Nicht eine Sekunde hatte ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet. Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. |
1514 |
Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend entgegengetrieben. Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber. |
1515 |
Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst. |
1516 |
Mein Gehirn blieb ganz wach; ich wußte, daß die Burschen die Polizei mehr fürchten mußten als ich, daß ich mich loskaufen konnte mit ein paar Kronen, — aber ich wollte ganz die Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich genoß die grausige Erniedrigung der Situation in einer Art wissender Ohnmacht. |
1517 |
Ohne Hast, ganz mechanisch ging ich in die Richtung, in die sie mich gestoßen hatten. Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zuging, schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann fingen sie wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. |
1518 |
Hinter mir hatten die Burschen aufgehört zu reden; ich merkte, wie sie langsamer gingen; im nächsten Augenblick mußten sie, ich wußte es, feig zurücktauchen in das Dunkel, in ihre Welt, erbittert über den mißlungenen Streich, und ihren Zorn vielleicht an der Armseligen auslassen. |
1519 |
Ich raffte mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken. Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. |
1520 |
Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich ihnen Geld bieten würde. Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. |
1521 |
Mit einem Griff hätten sie mir sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. |
1522 |
An ihren Stimmen fühlte ich, sie hatten mich irgendwo tief im Dunkel ihres Wesens lieb, sie würden diese sonderbare Sekunde nie vergessen. Im Zuchthaus oder im Spital würde sie ihnen vielleicht wieder einmal einfallen: etwas von mir lebte fort in ihnen, ich hatte ihnen etwas gegeben. |
1523 |
Und dieses Gebens Lust erfüllte mich wie noch nie ein Gefühl. Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt hinein. |
1524 |
Sterne glänzten von oben nieder, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend von irgendwoher, und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte mir mit einem Male, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen, und Freude des Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. |
1525 |
Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich eine Hökerin, müde, gebückt über ihren kleinen Kram. Bäckereien hatte sie, überschimmelt von Staub, und ein paar Früchte, seit Morgen saß sie wohl so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdigkeit knickte sie ein. |
1526 |
Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot und legte ihr einen Schein hin. Sie wollte eilfertig wechseln, aber schon ging ich weiter und sah nur, wie sie erschrak vor Glück, wie die zerknitterte Gestalt sich plötzlich straffte und nur der im Staunen erstarrte Mund mir tausend Wünsche nachsprudelte. |
1527 |
Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut, Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein. |
1528 |
Da stürzte plötzlich Angst über mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm, was diese Nacht so schön gelöst. |
1529 |
Selbstverständlich wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst. |
1530 |
Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der Macht, die ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt, frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein, was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. |
1531 |
Mein Diener, den ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares. |
1532 |
Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint, alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich hinzuschreiben, man lebe wirklich. |
1533 |
Wer aber um das Verbundene weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen. |
1534 |
Brief einer Unbekannten Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog, erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. |
1535 |
Unwillkürlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein Begleitschreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Umschlag war leer und trug so wenig wie die Blätter selbst eine Absenderadresse oder eine Unterschrift. Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur Hand. |
1536 |
Nun liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen, dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. |
1537 |
Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist gestern gestorben — jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und den ich immer geliebt. |
1538 |
Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin, wenn Du mir nicht mehr Antwort geben mußt, wenn das, was mir die Glieder jetzt so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ich weiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen, wie ich immer schwieg. |
1539 |
Er imponierte uns allen sehr, erstens weil in unserem Vorstadthaus ein Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen so ungemein höflich war, ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine Stufe zu stellen und in kameradschaftliche Gespräche einzulassen. |
1540 |
Nur die Titel sah ich scheu von der Seite an: es waren französische, englische darunter und manche in Sprachen, die ich nicht verstand. Ich glaube, ich hätte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein. Den ganzen Abend dann mußte ich an Dich denken; noch ehe ich Dich kannte. |
1541 |
Und nun bedrängte mich dies, wie der Mensch sein müßte, der all diese vielen herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen wußte, der so reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überirdischer Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieser vielen Bücher. |
1542 |
Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an in unserem Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als Du, daß ich mit dem ganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden Beharrlichkeit einer Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben, um Deine Existenz herumging. |
1543 |
Ich beobachtete Dich, ich beobachtete Deine Gewohnheiten, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens drückte sich in der Verschiedenheit dieser Besuche aus. |
1544 |
Aber sie lachte nur noch lauter und höhnischer, bis ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augen schossen vor ohnmächtigem Zorn. Ich ließ sie stehen und lief hinauf. Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ich weiß, Frauen haben Dir, dem Verwöhnten, oft dieses Wort gesagt. |
1545 |
Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuvertrauen, war von keinem belehrt und gewarnt, war unerfahren und ahnungslos: ich stürzte hinein in mein Schicksal wie in einen Abgrund. |
1546 |
An einem Sonntag muß es gewesen sein, Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, die er geklopft hatte, durch die offene Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte. |
1547 |
Mir ward schwarz vor den Augen. Später wußte ich, daß ich in Ohnmacht gefallen war; ich sei, hörte ich die Mutter dem Stiefvater leise erzählen, der hinter der Tür gewartet hatte, plötzlich mit aufgespreizten Händen zurückgefahren und dann hingestürzt wie ein Klumpen Blei. |
1548 |
In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen. An diesem letzten Tage fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, daß ich nicht leben konnte ohne Deine Nähe. |
1549 |
Es war, ich schwöre es Dir, kein sinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend, eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehen wollte ich Dich, einmal noch sehen, mich anklammern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze lange, entsetzliche Nacht, habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet. |
1550 |
Wie abgesprungen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leise machte ich die Tür auf, um Dir entgegenzustürzen, Dir zu Füßen zu fallen ... Ach, ich weiß ja nicht, was ich törichtes Kind damals getan hätte. Die Schritte kamen näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitternd hielt ich die Klinke. |
1551 |
Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen unendlichen zwei Jahren in Innsbruck, jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßene zwischen meiner Familie lebte. |
1552 |
Kaum daß ich je die Gasse betrat: würdest Du es glauben, Geliebter, daß ich von dieser kleinen Stadt, in der ich zwei Jahre gelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und ich wollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbehrung, die ich mir zu der Deines Anblicks noch auferlegte. |
1553 |
Und darum, weil ich jede der Sekunden von einst mir unzähligemale wiederholte, ist auch meine ganze Kindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben, daß ich jede Minute jener vergangenen Jahre so heiß und springend fühle, als wäre sie gestern durch mein Blut gefahren. |
1554 |
Mein Stiefvater war vermögend, er betrachtete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geld selbst verdienen und erreichte es endlich, daß ich in Wien zu einem Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam. |
1555 |
Bis sechs Uhr hatte ich Dienst im Geschäft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn diese Unruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhaft fühlen. Und geradeswegs, sobald die eisernen Rollbalken hinter mir niederdröhnten, lief ich zu dem geliebten Ziel. |
1556 |
Nachher schämte ich mich dieser schulmädelhaften scheuen Flucht, denn jetzt war mein Wille mir doch klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir erkannt sein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren, wollte von Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein. |
1557 |
Und plötzlich spürte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wußte, nun würde ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet hören. Wie eine Lähmung war die Erwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleiben zu müssen, so hämmerte mir das Herz — da tratest Du an meine Seite. |
1558 |
Ich spürte, daß Du, während wir gingen, von der Seite her während des Gespräches mich irgendwie erstaunt mustertest. Dein Gefühl, Dein in allem Menschlichen so magisch sicheres Gefühl witterte hier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis in diesem hübschen zutunlichen Mädchen. |
1559 |
Verzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, daß Du es nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe für mich waren, welcher Taumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quälendes, fast tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaum ohne Tränen daran denken, und ich habe keine mehr. |
1560 |
Du nahmst vier weiße Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreibtisch (ach, ich kannte sie von jenem einzigen diebischen Kindheitsblick) und gabst sie mir. Tagelang habe ich sie noch geküßt. Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ich kam, und wieder war es wunderbar. |
1561 |
Ich klage Dich nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist, heiß und vergeßlich, hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wie Du immer gewesen und wie Du jetzt noch bist. Du warst längst zurück, ich sah es an Deinen erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. |
1562 |
Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten — so fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchen Schmuck, den ich hatte, die Zeit bis zur Niederkunft. Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so mußte ich in die Gebärklinik. |
1563 |
Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal mußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. |
1564 |
Er war so hübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehnten Jahrhundert — nun hat er nichts als sein Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und eingefalteten Händen. |
1565 |
Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein Opfer für mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib gehörte, so fühlte ich es als gleichgültig, was sonst mit meinem Körper geschah. |
1566 |
Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest. Ganz frühmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die weißen Rosen gekauft, die ich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung an eine Stunde, die Du vergessen hattest. |
1567 |
Dann zahltest Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus, nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, daß Du draußen auf mich warten würdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut beherrschen. |
1568 |
Zufälligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein Negerpaar mit knatternden Absätzen und schrillen Schreien einen absonderlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde nützte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, daß ich gleich zurückkäme, und ging Dir nach. |
1569 |
Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde mit Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. |
1570 |
Und wie ich diesen Blick in mich eindringen fühlte, suchend, spürend, mein ganzes Wesen an sich saugend, da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken. Aber Du erkanntest mich nicht. |
1571 |
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch, neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es mich mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. |
1572 |
Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich läßt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Flüchtigen, in dem Kinde. |
1573 |
Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, daß ich Dich weiter bedränge — verzeih mir, ich mußte mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. |
1574 |
Verworren tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren, so wie ein Stein flimmert und formlos zittert am Grunde fließenden Wassers. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild. |
1575 |
Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum erstenmal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. |
1576 |
Dies Gefühl nur empfand ich, daß nichts für mich geschah und doch alles mir zugehörte, dieses seligste Gefühl des durch Anteilslosigkeit tiefsten und wahrsten Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens gehört und mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. |
1577 |
Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber doch eine deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem fremden Winkel der Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne. Es war von irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs, seit Wochen das erste heimatliche Wort. |
1578 |
Etwas schien sich noch im entschwindenden Schatten der Gasse von ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die Stimme noch immer, heller sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich klinkte auf und trat rasch ein. Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges herab. |
1579 |
Mählich erst fand mein Blick sich in der Stube zurecht, die fast leer war, ein Schank und ein Tisch, das ganze offenbar nur Vorgemach zu andern Zimmern rückwärts, die mit halbaufgelehnten Türen, gedämpftem Lampenschein und bereiten Betten ihre eigentliche Bestimmung rasch verrieten. |
1580 |
In allem spürte ich einen Menschen, der müde ist und nur aus Gewohnheit, gleichsam fühllos weiterlebt. Mit Befangenheit und Grauen warf ich eine Frage hin. Sie antwortete, ohne mich anzusehen, gleichgültig und stumpf mit kaum bewegten Lippen. Unwillkommen spürte ich mich. |
1581 |
Gern wäre ich gegangen, aber alles an mir war schwer, ich saß in dieser satten, schwelenden Luft, dumpf torkelnd wie die Matrosen, gefesselt von Neugier und Grauen; denn diese Gleichgültigkeit war irgendwie aufreizend. Da plötzlich fuhr ich auf, erschreckt von einem grellen Gelächter neben mir. |
1582 |
Er hielt den Hut verschüchtert in der Hand wie ein Bettler und zitterte unter dem grellen Gruß, unter dem Lachen, das wie ein Krampf ihre schwere Gestalt mit einem Male zu schüttern schien und von rückwärts, vom Schanktisch, mit raschem Geflüster der Wirtin begleitet wurde. |
1583 |
Ich schob ihr das Geld hin, stand auf und rückte energisch ab, als sie mir schmeichelnd näher kam. Es ekelte mich, mitzuspielen bei dieser Erniedrigung eines Menschen, und deutlich ließ ich durch die Entschlossenheit meiner Abwehr spüren, wie wenig sie mich sinnlich verlocken konnte. |
1584 |
Mühelos war es zu merken, daß er ungewohnt war, Geld rasch auszugeben, sehr im Gegensatz zu den Matrosen, die es mit einem Handschwung aus den klimpernden Taschen hervorholen und auf den Tisch werfen; er mußte offenbar gewohnt sein, sorglich zu zählen und die Münzen zwischen den Fingern zu wägen. |
1585 |
Fern war das Widerliche der Begegnung und das gespannte Gefühl wohltuend gelöst in eine süße Müdigkeit, die sich sehnte, all dies Gelebte in schöneren Traum zu verwandeln. Unwillkürlich blickte ich suchend um mich, den Weg nach Hause durch diese Wirrnis verwinkelter Gäßchen zu finden. |
1586 |
Ich spürte die Demut seiner Augen, ohne sie zu sehen, und merkte das Zucken seiner Lippen, ich wußte, daß er mit mir reden wollte, tat aber nichts dafür und nichts dagegen aus der Taumligkeit meines Empfindens, in dem die Neugier des Herzens mit einer körperlichen Benommenheit sich wogend mengte. |
1587 |
Er räusperte sich mehrmals, ich merkte den erstickten Ansatz zum Wort, aber irgendeine Grausamkeit, die von diesem Weib geheimnisvoll auf mich übergegangen war, freute sich dieses Ringens der Scham und seelischen Not: ich half ihm nicht, sondern ließ dieses Schweigen schwarz und schwer zwischen uns. |
1588 |
Nichts war deutlich und doch vieles zu fühlen, ein ungeheurer Schlaf und der schwere Traum einer starken Stadt. Neben mir spürte ich den Schatten dieses Menschen, er zuckte gespenstisch vor meinen Füßen, floß bald auseinander, bald kroch er zusammen im wandelnden Licht der trüben Laternen. |
1589 |
Ich wickelte mich in meinen Mantel. Mich fröstelte. Nur Müdigkeit spürte ich, eine wirre Trunkenheit, gefühllos und schwarz, einen wandelnden, purpurnen Schlaf. Ich wollte etwas denken und all das besinnen, aber immer hob sich diese schwarze Welle von Müdigkeit aus mir und riß mich mit. |
1590 |
Dunkel lag sie da, dunkel wie damals, und im matten Mond sah ich die Türscheibe jenes Hauses glänzen. Noch einmal wollte ich näher treten, da raschelte eine Gestalt aus dem Dunkel. Schauernd erkannte ich ihn, der dort auf der Schwelle hockte und mir winkte, ich möge näher kommen. |
1591 |
Und nur ein leichter, ganz unmerklich feiner Zug um die schmalen blassen Lippen verriet, daß Kampf und Ringen in ihr war und eine unbändige Sehnsucht, die sich nicht von Worten tragen lassen wollte und nur manchmal ein wildes Beben um den festgeschlossenen Mund legte wie von jähem Schluchzen. |
1592 |
Das war so jeden Tag in diesem Hause, wo auch die gleichgültigste Tätigkeit zu starrer Gewohnheit versteinerte. Und auch Jeanette, ihre Schwester holte sich wie immer ihr Nähzeug her und begann beim Lampenlicht, stark vorgebeugt wegen ihrer Kurzsichtigkeit, mechanisch zu sticken. |
1593 |
Aber heute empfand sie eine sanfte Mattigkeit, eine selige Schwere, die sich sehnt von milden, warm anschmiegenden Decken getragen zu werden. Eine Schläfrigkeit, die nichts anderes ist als Sehnsucht nach süßen, seligen Träumen, rann durch alle Glieder wie ein sacht erkaltendes, betäubendes Gift. |
1594 |
Wie ein hurtiges Schattenspiel tanzten noch einmal die seligen Erinnerungen des Tages vorbei. Sie war heute bei ihm gewesen..... Gemeinsam hatten sie wieder geprobt zu ihrem Konzert, wo ihr Spiel seine Geige begleiten sollte. Und dann spielte er ihr vor – Chopin, die Ballade ohne Worte. |
1595 |
Und dann die sanften lieben Worte, die er ihr sagte, die vielen lieben Worte! Die Bilder eilten immer rascher vorbei, sie führten sie wieder nach Hause zu sich selbst, um rasch wieder hinwegzuirren in die Vergangenheit, zu dem Tag, da sie ihn zuerst kennen gelernt hatte. |
1596 |
Und ein toller merkwürdiger Gedanke kam ihr, ob er sie wohl auch zu sich gebeten hätte. Ein frohes übermütiges Lächeln wollte sich noch matt auf ihre Lippen schleichen, aber sie war schon zu schlaftrunken. Und einige Minuten später trug sie ein sicherer Schlaf zu seligen Träumen. |
1597 |
Und so sollte ihr diese Liebe nicht nur wie ein milder Glanz werden, der jedes Wesen umleuchtet und erhellt, sondern so tief sollte dieses verklärende Gefühl sich verlieren, daß es wie ein Schimmer wurde, der in innigem Durchglühen von innen emporzuwachsen schien aus allem Leblosen und Unbeseelten. |
1598 |
Schon von früher Jugend auf hatte das dunkle Gefühl ihres Ängstlichseins und ihrer zurückhaltenden Einsamkeit sie gelehrt, die Dinge nicht als kalt und leblos zu betrachten, sondern als verschwiegene Freunde, die Geheimnisse und Zärtlichkeiten dem anvertrauen, der auf sie hört. |
1599 |
Bücher und Bilder, Landschaften und Musikstücke sprachen zu ihr, der das dichterhafte Vermögen des Kindes geblieben war, in bemalten Körpern, unbeseelten Dingen frohbewegte bunte Wirklichkeit zu sehen. Und das waren ihre einsamen Feste und Seligkeiten, ehe die Liebe zu ihr gekommen war. |
1600 |
So wurden ihr auch die wenigen schwarzen Schriftzüge auf dem Blatte Ereignis. Sie las die Worte so wie er sie zu sprechen pflegte, mit der weichen und musikalischen Betonung seiner Stimme, sie suchte in ihren Namen den heimlich-süßen Reiz zu legen, den nur die Sprache der Zärtlichkeit geben kann. |
1601 |
Und sie horchte in den wenigen Sätzen, die ihrer Angehörigen wegen in kühler, fast respektvoller Form gehalten waren, den verborgen klingenden Unterton der Liebe und buchstabierte sich so langsam und traumverloren durch die Zeilen, daß sie beinahe ihren Inhalt wieder vergessen hätte. |
1602 |
Und der war nicht so unwichtig. Sie möchte ihm doch mitteilen, ob ihr geplanter Sonntagsausflug zustande käme. Und noch ein paar unwichtige Worte wegen ihres gemeinsamen Auftretens in einem längst besprochenen Konzert. Dann ein freundlicher Gruß und eine hastige Unterschrift. |
1603 |
Er wurde gebeten zu spielen, und es ergab sich als fast selbstverständlich, daß sie die Begleitung übernehmen sollte. Und da wurde er zuerst auf sie aufmerksam, denn sie ging mit soviel Verständnis auf seine Intentionen ein, daß er sogleich die Feinheit und Innigkeit ihres Wesens ahnte. |
1604 |
Man gab sie beide nicht so rasch frei, er konnte nur ab und zu mit einem verstohlenen Blicke ihre überschlanke biegsame Gestalt messen und einen schüchtern-staunenden Gruß ihrer dunklen Augen auffangen. Ihre Worte gingen unter in Gewöhnlichkeiten und Höflichkeiten, mit denen man sie überhäufte. |
1605 |
Dann kamen wieder neue Menschen und hunderterlei Ablenkungen anderer Art, daß sie beinahe die Verabredung vergaß. Aber als alles vorüber war und sie sich empfahl, stand er plötzlich neben ihr und fragte sie mit seiner sanften zurückhaltenden Stimme, ob er sie nach Hause geleiten dürfe. |
1606 |
Aber das war nur ein Anfang. Nur ein Weg zu ihrer Seele. Denn er wußte, daß alle, die in der Kunst ihre letzten Schätze so königlich verschwendeten, die ihr volles Gefühl in die musikalische Schönheit legten, im Leben ernst und verschlossen waren und sich nur dem Verstehenden offenbarten. |
1607 |
Bisher waren nur schlichte Leute in ihren Kreis getreten, Menschen, die sich zerlegen und berechnen ließen, wie eine Schulaufgabe, vorurteilsvolle und konservative Ketzerrichter, denen sie sich fremd fühlte, und die sie beinahe fürchtete. Und dann: es war eine stille und helle Nacht gewesen. |
1608 |
Und wenn man in solchen schweigenden Nächten zu zweit geht, von niemandem gehört und gestört, und sich die dunklen Schatten der Häuser über die Worte senken und die Stimmen ohne Nachhall in der Stille verwehen, da ist man so vertrauensvoll, als ob man zu sich selbst spräche. |
1609 |
Da wachen Gedanken aus den Tiefen auf, die in der bunten Unrast des Tages ungehört untergehen und denen erst die Stille des Abends sanfte Schwingen gibt; und die Gedanken werden zu Worten fast ohne daß man es will. Der lange Gang in der einsamen Winternacht hatte sie einander nahe gebracht. |
1610 |
Als sie sich zum Abschied die Hände reichten, blieben ihre blassen kühlen Finger lange hilflos in seiner starken Hand liegen wie vergessen. Und sie gingen wie alte Freunde voneinander. Sie begegneten sich noch oft in diesem Winter. Zuerst war es ein günstiger Zufall, der aber bald Verabredung wurde. |
1611 |
Manchmal sah sie ihn mit einem fremden und unsinnlichen Blick an wie ein seltsames Bild, in dem man vertraute Züge empfinden will, und ihr Anvertrauen war wie zu einem Beichtiger. Sie dachte nicht an das Leben, weil sie es nie gekannt hatte, sondern es erlebt hatte wie einen haltlosen Traum. |
1612 |
Er spielte oder schwieg, und sie saß und träumte und fühlte nur, wie ihre Träume immer heller und lichter wurden, wenn er sprach oder sie anblickte. Das war alles verklungen, kein irrer Lärm drang mehr vom Tage herüber, nur Stille, Schweigen und silberne Feiertagsglocken tief im Herzen. |
1613 |
Ein Verstehen und eine Erlösung war ihr diese Zeit für das viele, das sie bisher nicht laut zu sagen wagte, und noch nicht mehr. Sie wußte nur, daß eine solche stille Stunde viel Glanz hineinbrachte in ihren öden, arbeitsvollen Tag und einen lichten Schein in ihre Nächte. |
1614 |
Er öffnete rasch, geleitete sie in sein Studienzimmer, nahm ihr mit vorsichtiger Galanterie die Frühlingsjacke ab und streifte respektvoll mit den Lippen ihre schöne feingeäderte Hand. Und dann setzten sie sich zusammen auf ein kleines dunkles Samtsofa, das bei seinem Schreibtisch stand. |
1615 |
Draußen am Himmel verfolgten sich graue Wolken hastig im Abendwind, und ihre Schatten trübten unruhig das matte Dämmerlicht. Er fragte, ob er anzünden solle. Sie verneinte. Das matte süße Licht, das nicht mehr erkennen und nur ahnen läßt, war ihr so lieb mit seiner sanften Melancholie. |
1616 |
Man konnte noch die geschmackvolle Einrichtung des Zimmers deutlich wahrnehmen, den prächtigen Schreibtisch mit einer Bronzestatue, rechts einen geschnitzten Geigenständer, dessen Silhouette sich scharf von dem grauen Stück Himmel abhob, das durch die Scheiben gleichgültig hereinblickte. |
1617 |
Nur ein paar bläuliche Rauchstreifen von seiner vergessenen Zigarette stiegen ebenmäßig in das Dunkel. Und durch das geöffnete Fenster kam ein lauer Frühlingswind zu ihnen herein. Sie plauderten. Zuerst war es ein Lächeln und Erzählen, aber ihre Worte wurden immer schwerer im drohenden Dunkel. |
1618 |
Ein paar Mädchen waren es gewesen, die von der Arbeit kamen, ihre Stimmen klangen weit von ferne, daß er die Worte nicht mehr verstand und nur die leise, schweratmende Sehnsucht der Weise hörte. Und gestern war die Melodie wieder in ihm erwacht, spät am Abend und war ihm ein Lied geworden. |
1619 |
Schweigend trat er zum Fenster hin und nahm seine Geige. Ganz leise begann sein Lied. Hinter ihm ward es langsam wieder hell. Die Abendwolken waren in Brand geraten und glühten in purpurnem Glanz. Das Zimmer begann widerzuleuchten von dem hellen Schein, der allmählich düsterer und gesättigter wurde. |
1620 |
Er dachte an nichts mehr, seine Gedanken waren fern und verwirrt, nur das strömende Gefühl seiner Seele formte mehr die Töne und gab sich ihnen zu eigen. Das enge dunkle Zimmer überflutete von Schönheit..... Die roten Wolken waren schon schwere, schwarze Schatten geworden, und er spielte noch immer. |
1621 |
Erika war mit einem dumpfen hysterischen Schluchzen auf dem Sofa zusammengebrochen, von dem sie sich in ihrer Ekstase erhoben hatte, wie angelockt von den Tönen. Ihre schwachen reizbaren Nerven unterlagen stets dem Zauber einer Gefühlsmusik; sie konnte weinen bei wehmütigen Melodien. |
1622 |
Nur in einem jähen Weinkrampfe löste sich ihre gesteigerte physische Erregung. Er kniete bei ihr nieder und suchte sie zu beruhigen. Er küßte ihr leise die Hand. Aber sie bebte noch immer, und manchmal lief ein Zucken über ihre Finger wie von einem elektrischen Schlage. |
1623 |
Da wurde er immer inniger und küßte mit heißen Worten ihre Finger, ihre Hand und küßte ihren bebenden Mund, der unbewußt unter seinen Lippen erschauerte. Seine Küsse wurden immer drängender, dazwischen stieß er zärtliche Liebesworte hervor und umfaßte sie immer stürmischer und verlangender. |
1624 |
Einen Augenblick blieb sie noch stumm, wie um sich an alles zu besinnen; dann stammelte sie mit unruhigem Blick und gebrochener Stimme, er möge ihr verzeihen, sie habe öfters so nervöse Anfälle, und die Musik habe sie erregt. Einen Augenblick blieb ein peinliches Schweigen. |
1625 |
Er wagte nichts zu antworten, weil er fürchtete, eine niedrige Rolle gespielt zu haben. Sie fügte noch hinzu, sie müsse jetzt gehen, es sei schon höchste Zeit, man würde sie zu Hause schon längst erwarten. Und zugleich nahm sie ihre Jacke. Ihre Stimme schien ihm kühl und fast frostig. |
1626 |
Nachmittags war schon helles Sonntagstreiben in den Straßen. Die vorüberrasselnden Wagen klapperten eine frohe Melodie, aber die Spatzen wollten noch lauter sein und schrieen um die Wette von den Telegraphendrähten herab, und dazwischen schrillten die Signale der Straßenbahn in hellem Durcheinander. |
1627 |
Und ganz kindlich und mädchenhaft war sie in ihrem einfachen glatten Kleide und dem aufgesteckten Haar, das sonst tief und schwer wie eine wetterschwere Wolke über der Stirne drohte. Und ihr Übermut war so überquellend und echt, daß er auch seinen Ernst bald ins Wanken brachte. |
1628 |
Ihr Prater, das waren die breiten wohlgepflegten Alleen mit den uralten Kastanienbäumen, die weiten schweifenden Auen, die in dunklen Waldungen enden und die hellen Wiesen, die sich in sattem Glanze sonnen und nichts mehr von der Millionenstadt wissen, die in unmittelbarer Nähe atmet und stöhnt. |
1629 |
Aber am Feiertag verliert sich dieser Zauber und verbirgt sich vor den überströmenden Scharen. Er schlug vor, gegen Döbling zu zugehen, aber weit hinter den eigentlichen netten Ort mit seinen freundlichen weißen Häuschen, die so kokett aus der dunklen Umhüllung schmucker Gärten herausblitzen. |
1630 |
Manchmal sahen sie sich an und fühlten, wie reich ihr Schweigen war, wie es die ganze selige Empfindung des vollströmenden Frühlings trug und mehrte. Die Felder waren noch niedrig und grün. Aber der segensschwere Duft der warmen spendenden Erde kam zu ihnen wie ein verheißungsvoller Gruß. |
1631 |
Alles schien ihnen bedeutender und größer, da sie an ihn dachten: sie empfanden die Majestät der Landschaft, deren fröhliche Heiterkeit sie nur vorher geschaut, und der schwere satte Duft der sonneglühenden fruchtschwellenden Erde gab ihnen das geheimste Symbol des Frühlings. |
1632 |
Ihr Weg ging weiter durch die Felder. Erika ließ im Vorübergehen das unreife Korn durch ihre Finger rauschen, aber sie fühlte es gar nicht, wenn ab und zu ein Halm unter ihrer Hand zerknickte. Das Schweigen zwischen ihnen gab ihr seltsame und tiefe Gedanken, in die sie sich träumend verlor. |
1633 |
Ihr gefielen diese schlichten unkomplizierten Leute mit den einfachen Empfindungen und Trieben, die sich nicht verbergen konnten. Und ihr gefiel die behaglich-ländliche Stimmung, die kein fremder Einschlag trübte. Der Wirt, ein breiter, gutmütiger Mann kam mit jovialem Lächeln zum Tisch her. |
1634 |
Er hatte in seinem Gast einen vornehmeren Mann bemerkt, den er selbst bedienen wollte. Er fragte, ob er ihm Wein bringen dürfe, und als das bejaht wurde, erkundigte er sich, ob das Fräulein Braut auch etwas wünsche. Erika wurde blutrot und wußte ihm im ersten Augenblicke nichts zu antworten. |
1635 |
Ihr "Bräutigam" saß gegenüber, und obwohl sie ihn nicht ansah, fühlte sie seinen lächelnden Blick, der sich an ihrer Verwirrung weidete. Sie schämte sich eigentlich, wie ungeschickt sie sich benahm einer naturgemäßen Verwechslung halber, aber sie wurde das peinliche Gefühl nicht mehr los. |
1636 |
Und mit einem Male war ihr die Stimmung verdorben, jetzt fühlte sie erst, wie abgehackt und maschinenmäßig die Leute ihre Lieder abdudelten, jetzt erst hörte sie das häßliche Brüllen und Poltern der Bierbässe, die in toller Freude mitjohlten. Am liebsten wäre sie weggegangen. |
1637 |
Erika fühlte wieder erstaunt, was für zwingende Macht die Musik über ihre Seele habe, denn mit einem Male war eine Leichtigkeit in ihr und ein Wiegen und Schweben. Und die Süßigkeit der Melodie ließ sie fremde Versworte mitsingen, ganz leise mitsummen, ohne daß sie es recht wußte. |
1638 |
Als der Walzer zu Ende war, stand er auf und ging. Sie folgte ihm gern, denn sie verstand sofort seine Absicht, sich die packende Gewalt der Melodie und ihre sonnige Innigkeit nicht durch einen öden Gassenhauer zerstören zu lassen. Und sie gingen den schönen Weg gegen die Stadt zu wieder zurück. |
1639 |
Sie sah hinüber, um seinen Gesichtsausdruck zu betrachten. Wollte er sie verspotten? – Nein! Er war ganz ernst und sah sie gar nicht an. Er hatte es absichtslos gesagt. Aber er wollte eine Antwort haben. Jetzt fühlte sie erst, wie gezwungen er das gesagt hatte; wie um einen Anfang zu machen. |
1640 |
Sie hatte die Augen zu Boden gerichtet, aber sie spürte, daß er sie ansehe, tief, fragend, durchdringend. Sie dachte nun an das letzte Mal, wie sie bei ihm war und er sie geküßt hatte. Sie hatte ihm damals nichts gesagt, aber ihr Herz war ungestüm erwacht, sie wußte nicht, ob in Zorn oder Scham. |
1641 |
Sie fühlte, daß er weitersprechen würde und sehnte sich danach und fürchtete sich doch. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte die Felder sehen, ja, den Abend, den herrlichen Abend. Nur nichts hören, nichts hören. Nur die Stadt ansehen mit ihrem dunklen Nebel, die Stadt und die Felder. |
1642 |
Ich weiß, daß ich Sie nicht heiraten kann, ich weiß, es würde mich meine Kunst kosten. Das kann kein Fremder verstehen – Sie werden es verstehen, meine liebe, liebe Erika. Nur ein Künstler kann das verstehen, und Sie haben eine reiche, unendlich reiche Künstlerseele. Und Sie sind auch klug. |
1643 |
Sie wollte ablehnend sprechen, aber sie vermochte es nicht. Das sanfte "du" seiner Rede hatte sie eigentümlich überwältigt mit seiner liebevollen Innigkeit. Sie verspürte wieder, wie sie ihn liebte; das Bewußtsein kam ihr plötzlich, wie ein vergessenes Wort, das wiederkehrt. |
1644 |
Ein sanfter Schauer überlief sie. Sie wußte nur, daß sie ihn verlieren sollte und nicht konnte. Und daß sie hoch über dem Leben stand. Alles war so fern, so weit. Abendstille lag über den Tälern und sanfte Feierlichkeit, die Stadt war fern und ihr Gebrause und alles, was an Wirklichkeit erinnerte. |
1645 |
Nirgends die sanfte Melancholie, die sonst seine Kräfte in eine schöne Harmonie bannte, nur triumphierende Härte, die vielleicht eine lauernde Sinnlichkeit war. Langsam wandte Erika den Blick. – Noch nie war er ihr so fremd und so ferne gewesen wie in diesem Augenblick. |
1646 |
Nur Ekel empfand sie in diesem Augenblick, und alles verfinsterte sich vor ihren Blicken und bekam eine häßliche und niedrige Bedeutung; der leise Armdruck, den sie fühlte, die Liebespaare, die im Nebel auftauchten und sich wieder verloren, jeder zufällige Blick, der sie im Vorübergehen traf. |
1647 |
Und eine kam immer wieder, eine seltsame und doch so alltägliche Geschichte von einem Mädchen, die mit ihr zur Schule gegangen war. Die hatte sich einem Manne hingegeben, und als er sie verließ, aus Rache und Zorn einem andern und dann wiederum andern – sie wußte selbst nicht mehr, warum. |
1648 |
Aber das Schweigen blieb kalt und scheidend zwischen den beiden, die nebeneinander hergingen, Arm in Arm. Gern wollte Erika den ihren losmachen, aber es war, als hätten ihre Glieder jede Bewegungsfähigkeit verloren, nur die Füße schoben sich in traumhafter Gleichförmigkeit nach vorwärts. |
1649 |
Sie fuhr auf und erschrak. Sie waren vor dem Hause, in dem er wohnte. Eine Minute blieb ihr Herz ohne Schlag, ruhig, ganz unbeweglich. Aber dann begann es wieder zu pochen, hastig und wild, mit hämmernder Angst und steigender Schnelligkeit. Er sagte ihr ein paar Worte, liebe süße Worte. |
1650 |
Sie hatte ihn beinahe wieder gern in diesem Augenblick, so herzlich und feinfühlig sprach er zu ihr. Aber als er ihren Arm fester erfaßte und ihren widerstandslosen Körper mit sanfter Zärtlichkeit drängte, da kam wieder die alte dunkle Angst, und sie war betäubender und furchtbarer denn je. |
1651 |
Der Augenblick gab ihr Mut und Erwachen. Die Furcht kam plötzlich über sie wie ein Fieberschauer, der die krampfhafte Starre löste. Und blitzschnell stürmte sie wieder die Treppe hinab, ohne in ihrer wahnsinnigen Eile auf die Stufen zu achten, rasch, nur rasch vorwärts. |
1652 |
Ihr war noch, als ob sie seine Stimme von oben hörte, aber sie wollte gar nicht mehr zur Besinnung kommen, sondern lief und lief, ohne innezuhalten, immer vorwärts. Eine wilde Angst war in ihr erwacht, daß er ihr nachfolgen könne und eine Angst vor ihr selbst, sie möchte zu ihm zurückkehren. |
1653 |
Und wie ein schwarzer, steigender Rauch lösen sie sich auf, werden ferner und breiter, bis sie schließlich mit mattem, schwermütigem Grau unbeweglich über dem Leben schweben, ein Schatten, der sich unabwendbar und eifersüchtig an die Minute heftet und immer wieder seine drohende Faust erhebt. |
1654 |
Und sie dachte an ihn und ihre Liebe mit einem seligen Schmerz und einer heißen Ängstlichkeit, und alle Bilder kamen wieder und wirrten durcheinander, aber sie waren nicht mehr hell und froh, sondern dunkel beschattet von der Wehmut der Erinnerung. Draußen ging eine Türe. |
1655 |
Man sollte sie nicht immer mit Fragen belästigen, sie kümmere sich auch um niemanden. Und außerdem habe sie jetzt Kopfschmerzen und wolle Ruhe haben. Die Schwester erwiderte nichts, sondern ging aus dem Zimmer. Mit einem Male fühlte Erika, wie ungerecht sie gewesen war. |
1656 |
Und die zogen heran und verloren sich wieder in der Ferne, schwere, schwarzbeschwingte Boote, die sich durch die dunkle Flut gerungen ohne Lärm und Rauschen, ohne Färbung und tiefeinschneidende Spur, nur von unbekannten und unsichtbaren treibenden Gewalten gesendet und gelenkt. |
1657 |
Oder es sollte ein Brief sein mit milden, verstehenden Worten, die zu ihrer Seele gingen und sie wieder zurückführten in den Reigen der seligen Stunden, aus dem sie geschieden. Aber keine Botschaft kam, kein Zeichen stellte sich zwischen sie und die quälende Ungewißheit. |
1658 |
So gingen zwei Wochen dahin, ohne daß Erika eine Nachricht von ihm empfangen hätte. Alles schien vorüber zu sein und vergessen. Ihre Traurigkeit und Unbeständigkeit verlor sich noch nicht, aber sie befreite sich von ihrer häßlichen, gereizten Form und fand verfeinerten und durchgeistigten Ausdruck. |
1659 |
Und nun fühlte sie, wie ihre Geschichte nicht Ungerechtigkeit und Haß des Lebens verkündigte, sondern nur schmerzlich war, weil ihr der frohe Tänzerschritt eines lachenden unbedeutenden Temperamentes fehlte, der rasch vergessend die dunklen, aber geheimnisreichen Abgründe des Schmerzes überspringt. |
1660 |
Eine sonderbare Scham, sich mit ihren Tiefen und geheimen Schönheiten einem Fremden zu geben, hatte sie von allen Freundinnen abgewandt; und ihr fehlte auch der seligvertrauende Glaube der Frommen, der zu einem Gotte spricht und ihm die verschwiegensten Geständnisse zu eigen gibt. |
1661 |
Der Schmerz, der von ihr ausging, floß wieder in ihre Seele zurück, und dieses unaufhörliche Sichselbstanvertrauen und Zergliedern gab ihr schließlich eine dumpfe Müdigkeit und hoffnungslose Trägheit, die nicht mehr mit dem Schicksal ringen wollte und mit seinen verborgenen Gewalten. |
1662 |
Sie sah Leute in wildem Durcheinander, Liebespaare, die in seliger Versunkenheit vorübergingen, dann wieder hastende Burschen, vorbeischießende Radfahrer, rasch dahinrollende Wagen mit schwirrenden Rädern, Bilder des Tages und der Gewöhnlichkeit. Aber ihr war alles das so fremd. |
1663 |
Als ob es etwas Reicheres und Seligeres geben könne als den großen Frieden, in dessen Bann alle Leidenschaften schlafen und alle Sehnsüchte; der doch wie eine wunderwirkende Quelle war, in deren milder und geheimkräftiger Flut sich alles Kranke und Häßliche ablöste, wie eine lästige Schicht. |
1664 |
Und Erika dichtete sich in ihren Gedanken, die sich im Abend berauschten, immer wieder neue Abschlüsse dazu, aber sie fand keinen rechten, denn sie wollte ein mildes und versöhnliches Ende voll Hoheit und reifer Entsagung, mit kühlem freundschaftlichem Händereichen und tiefem Verstehen. |
1665 |
Sie wußte nur plötzlich, daß sie sich wieder nach ihm sehnte, aber nicht nach gütigen Worten und schweigenden Stunden, sondern nach seinen kraftvollen Armen und nach den heißen Lippen, die einstmals verlangend auf den ihren gebrannt, ohne daß diese ihre stummen, bettelnden Worte verstanden. |
1666 |
Eine Stunde zu früh begab sie sich zum Konzertsaal. Wohl hatte sie zuerst einen Spaziergang geplant, ein kurzes Rasten für ihre Nerven, die zu fiebern schienen, aber kaum daß sie die Straße betrat, fühlte sie eine dunkle Gewalt, die sie magnetisch einer Richtung zudrängte. |
1667 |
Und als die ersten Wagen behäbig vorrasselten, mühte sie sich nicht mehr länger, sich zu bezwingen und ging mit beherzter Miene in den eben erleuchteten Saal. Nicht lange blieb drinnen dieses breite und leere Schweigen, das zu fürchtigen Träumen lud. Dichter und dichter drängten sich die Leute. |
1668 |
Erika sah nicht die einzelnen, sondern fühlte nur die hereinströmende Masse, fühlte vor ihren Augen die wandernden Streifen der farbigen Toiletten, das dunkle Durcheinanderschieben und die vielen wechselnden Gesichter, die ihr wie Masken schienen. Alles in ihr war Unrast und Erwartung. |
1669 |
Und dann plötzlich begann das jähaufrauschende Murmeln und Bewegen, die vorbereitende Unruhe vor dem Schweigen, das leise Knacken der geöffneten Operngläser, das Klappern der Lorgnons, das Regen und Bewegen, jenes vieltönige Geräusch, das sich in stürmischen Beifall löste. |
1670 |
Sie fühlte, daß er eingetreten war, jetzt eingetreten war. Und schloß die Augen. Sie wußte sich zu schwach, ihn in dieser stolzen Minute schweigend zu sehen. Sie hätte ja jubeln müssen oder ihn rufen, aufspringen oder ihm zuwinken, aber jedesfalls etwas Törichtes, Unüberlegtes, Lächerliches tun. |
1671 |
Und sie fühlte eine warme Blutwelle, wie sie ihn sah, gleichsam emporgetragen von diesem dunklen, schweigenden Meer, das die funkelnden Gläser und suchenden Blicke wie zitternde Schaumkämme durchglänzten. Und sie fühlte sein Spiel und wieder die ganze zauberische Gewalt von einst. |
1672 |
Lachen und Weinen war in ihr, ein Fluten der Erregung, warme zitternde Wellen. Sie fühlte Jubel, Jubel aus tausend sonndurchglänzten Springstrahlen in ihr Herz sprudeln, sie fühlte es selbst aufschäumen zu ihrer Kehle wie den jauchzenden Strahl einer aufzuckenden Fontäne. |
1673 |
Alle Häßlichkeit und Herbe jener Minuten war zerronnen in diesem stolzen Bewußtsein, in dieser siegenden Stunde seines Künstlertums. So ward dieser Abend ein lauteres und tiefes Fest für ihre suchende und unruhige Seele. Nur eine Frage drängte sie, ob er ihrer wohl noch gedachte. |
1674 |
Sie dachte nicht mehr an sich und nur mehr an ihn, sah nur sein Verlangen und seine Inbrunst in dem lockenden Geigenspiel und nicht mehr Töne und Melodien. Und da kam ihr eine seltsame und unendlich beseligende Antwort. Nach langen Beifallsstürmen hatte er sich noch zu einer Zugabe entschlossen. |
1675 |
Und nur ein paar schlichte, langsame Takte hatte er gespielt, als Erika erblaßte. Sie lauschte und lauschte wie gebannt. In herbem Erschrecken hatte sie das Lied erkannt, das Lied jenes ersten seltsamen Abends, da er es ihr zuliebe in die Dämmerung gestammelt. Und sie träumte von einer Huldigung. |
1676 |
Sie hörte es nur als Frage, die über alle andern zu ihr hinabtastete in den Saal, sie sah eine Liedseele, die in den dunklen Saal flog, um sie zu finden. Eine rasche Gewißheit schaukelte sie in selige Träume. Sie verstand ein Geständnis, daß er ihrer, nur ihrer mehr gedachte. |
1677 |
Und Seligkeiten brausten auf sie nieder. Wieder war es die Musik, die sie betörte und über alle Wirklichkeiten hob. Sie fühlte einen Flug nach oben, menschenhoch und erdenfrei. Fast so wie damals in jener Stunde, als sie hoch über der fernen, brausenden Stadt zusammen standen. |
1678 |
Denn nun wußte sie auch die helle und sonnige Antwort auf ihre letzte Frage, die sie beängstigt und sie zurückgehalten, sich ihm zu schenken – nun war es ihr offenbar, daß er sie noch immer liebte und glühender wie einst, mit einer viel schöneren, wilderen und größeren Liebe. |
1679 |
Mit Mühe drängte sie sich bis zum Ausgange durch, wo die Künstler herabzukommen pflegten. Wenige Flammen erhellten das matte Dunkel; dort drängten die Menschen nicht in so wilder Hast, und sie konnte sich ungestört wieder ihren Träumen hingeben, die sich in seliger Sicherheit wiegten. |
1680 |
Unwillkürlich zog sich Erika mehr ins Dunkel zurück. Lachend und plaudernd stieg er die Treppe hinab – zärtlich hinabgebeugt zu einer Dame in spitzenbesetztem Kleide, einer kleinen, netten Sängerin von der Oper, die irgend eine alte Operettenmelodie trällerte. Erika zuckte zusammen. |
1681 |
Jene kleinen Schmerzlichkeiten hatten ihr Leben erfüllt, die ein seltsames Glückseligkeitsgefühl in sich tragen, weil sie zu melancholischen, träumerischen Stunden leiten, zu sanften Verzagtheiten und zu jenen süßen Traurigkeiten, aus denen die Dichter ihre innigsten und wehmütigsten Verse schaffen. |
1682 |
Sie hatte gemeint, die finstere Gewalt des Lebens schon getragen zu haben und auf dieses Bewußtsein baute sie ihre starke Sicherheit, die jetzt zusammenbrach unter der Wirklichkeit wie ein Kinderspielzeug in einer nervigen Faust. Und darum verlor ihre Seele so ganz ihre bindenden Kräfte. |
1683 |
Nur mehr Öde war vor ihren Blicken und Finsternis, weite undurchdringliche Finsternis, die alle Wege versteckte, alle Blicke erblindete und die hallenden Angstrufe mitleidslos verschlang. Nur mehr Schweigen war in ihr, ein dumpfes, atemloses Schweigen, die Stille des Todes. |
1684 |
Unten der Fluß, schwarz und langsam gleitend, mit vielen hellen, glitzernden Punkten. Sterne waren das und Reflexe von den Brückenlaternen, die hinaufstarrten wie aufgerissene Augen. Und von irgendwo ein leises unaufhörliches Plätschern, die Strömung, die sich an einem Pfeiler bricht. |
1685 |
Aber einer war, der könnte es erfahren und dann vielleicht selbstbewußt lächeln, im Bewußtsein eines Siegers..... Nein – das durfte nicht sein! Das Leben war noch nicht erschöpft, das fühlte sie, denn es konnte noch Rache bergen, den letzten tastenden Versuch einer Verzweiflung. |
1686 |
Ein Lachen rang sich ihr aus der Brust, wie sie sich von der Brücke abwendete, ein Lachen, vor dem sie erschrak. Denn sie fühlte, wie sie sich selbst nicht ihre ungesprochenen Worte glaubte. Nur der Schmerz war wahr, und der glühende brennende Haß, die blinde Sucht nach Rache. |
1687 |
Und andererseits wieder dieses einsame langsame Spazierengehen spät in der Nacht – ganz recht bekam er's nicht heraus. Aber er redete unbekümmert weiter. Erika schwieg. Instinktiv hatte sie ihn abweisen wollen, aber alle Dinge von früher hatten sie auf seltsame Gedanken gebracht. |
1688 |
Eigentlich war er noch ein halbes Kind, das in einer Uniform sich so seltsam ausnahm, wie in einem kriegerischen Maskenkostüm; und seine bisherigen Abenteuer waren so simpler Natur gewesen, daß sie keine Abenteuer mehr waren. Zum ersten Mal sah er sich einem wirklichen Rätsel gegenüber. |
1689 |
Aber mit der Müdigkeit, die sie immer enger und zärtlicher umfaßte, kam auch jene Schwermut wieder, halb die lallende unmotivierte Melancholie der Trunkenen, und halb der Schmerz, der schon den ganzen Abend ihre Brust durchstürmte und sich noch immer nicht Bahn gebrochen hatte. |
1690 |
Der junge Mann war diesem jähen und peinlichen Ausbruche gegenüber gänzlich hilflos. Er suchte sie zu beruhigen, strich ihr leise und zärtlich über die dunklen Flechten; wie aber ihre Anstrengungen sich immer verdoppelten, kam ein sonderbares Gefühl mitleidsvoller Zuneigung über ihn. |
1691 |
Wie ein Verbrechen erschien es ihm, ihren Körper zu berühren, der zu schwach war, den mindesten Widerstand leisten zu können; nach und nach kam ihm dann auch zu Bewußtsein, daß er sehr großartig dabei handle, und diese kindliche Freude an einem seltsamen Erlebnis stärkte seine Willenskraft. |
1692 |
Er ließ einen Wagen holen und begleitete sie, nachdem er von ihr die Adresse erfahren hatte, bis zum Hause hin, wo er sich mit freundlichen und beruhigenden Worten verabschiedete. Als Erika sich wieder in ihrem Zimmer befand, war auch der letzte Rest des Rausches verflogen. |
1693 |
Sie wußte nun, daß die Liebe nicht mehr zu ihr kommen würde, und daß sie ihr nicht entgegengehen dürfe; die Bitterkeit des Entsagens nahte ihr zum letzten Male. Einen Augenblick zögerte sie noch in geheimer unverständlicher Scham; doch dann löste sie die letzten Hüllen vor dem Spiegel. |
1694 |
Sie war noch jung und schön. In ihrem blütenweißen Körper lag noch die hellschimmernde Frische früher Jahre, in sanfter, fast kindlicher Rundung bebten ihre Brüste, die in wilder innerer Erregung sich hoben und senkten, leise und zart in rhythmisch verfließendem Linienspiel. |
1695 |
Und das alles sollte ungenützt und unfruchtbar vergehen, wie die Schönheit einer Blume, die ein Wind verweht, ein taubes Korn im unübersehbaren Garbenfelde der Menschheit? Eine milde versöhnliche Resignation kam über sie, die Hoheit der Menschen, die durch den größten Schmerz gegangen. |
1696 |
Und auch den Gedanken, daß diese blühende Jugend einem, einem einzigen bestimmt gewesen sei, der sie begehrt und verachtet habe, auch diese letzte schwerste Prüfung fand keinen Groll mehr bei ihr. Wehmütig löschte sie das Licht und sehnte sich nur mehr nach dem leisen Glück milder Träume. |
1697 |
In ihnen lag alles beschlossen, was sie erlebte, und die vielen späteren Tage gingen an ihr vorüber, gleichgültig wie Fremde. Ihr Vater starb, die Schwester heiratete einen Beamten, Verwandte und Freunde trugen Glück und Unglück, nur in ihre einsamen Stunden ließ sie das Schicksal nicht mehr ein. |
1698 |
Und Erika fand wehmütige Melodieen mit ihren weißen schmalen Fingern, die immer heller und durchleuchtender zu werden schienen, dazwischen leise Phantasieen, bei denen verhallte Erinnerungen anklangen. Und einmal, als sie so spielte, kam ihr ein Motiv, dessen sie sich nicht entsinnen konnte. |
1699 |
Und doch war es eine jener Sekunden, in die tausende Stunden und Tage voll Jubel und Qual gebannt sind, gleichwie der großen dunkelrauschenden Eichen wilde Wucht mit all ihren wiegenden Zweigen und schaukelnden Kronen in einem einzigen verflatternden Samenstäubchen geborgen ist. |
1700 |
Er strich nach dem Souper über die zerknüllten Tischtuchfalten vor ihrem Platze mit so zärtlichen und kosenden Fingern, wie man wohl liebe und weichruhende Frauenhände streichelt; er rückte alle Dinge ihrer Nähe mit hingebungsvoller Symmetrie zusammen, als ob er sie zu einem Feste bereite. |
1701 |
Die Gläser, die ihre Lippen berührt hatten, trug er sich sorgsam in sein enges dumpfes Dachlukenzimmer und ließ sie im perlenden Mondlicht nächtlich auffunkeln wie köstliches Geschmeide. Stets war er aus irgend einem Winkel der geheime Behorcher ihres Schreitens und Wandelns. |
1702 |
Er trank ihre Sprache so wie man einen süßen und duftberauschenden Wein wollüstig auf der Zunge wiegt, und fing die einzelnen Worte und Befehle gierig wie Kinder den fliegenden Spielball. So trug seine trunkene Seele in sein armes und gleichgültiges Leben einen wechselnden und reichen Glanz. |
1703 |
Er machte ein paar Schritte; es war ein Taumeln. Unsicher und erschreckt glitt er an einem hohen goldgerahmten Spiegel vorbei, aus dem ihm ein fahles und fremdes Gesicht kreidig entgegenstarrte. Die Gedanken wollten nicht kommen, sie waren gleichsam festgemauert hinter einer dunklen nebligen Wand. |
1704 |
Noch ein paar Schritte wankte seine unruhige Gestalt, gleich dem niederen und taumelnden Flug eines großen dunklen Nachtvogels, dann sank er auf eine Bank, den Kopf an die kühle Lehne gepreßt. Es war ganz still dort. Rückwärts zwischen den runden Sträuchern funkelte das Meer. |
1705 |
Gingen nicht alle die Fremden fort, die kamen, nach zwei, nach drei, nach vier Wochen? Wie töricht, das nicht überdacht zu haben. Es war ja alles so klar, zum Lachen, zum Weinen klar. Er lachte ganz laut in seinem jähen ingrimmigen Schmerz. Und die Gedanken schwirrten und schwirrten. |
1706 |
Das reichte kaum die Hälfte des Weges. Und was dann? Wie durch einen zerrissenen Schleier sah er auf einmal sein Leben, fühlte, wie arm, wie kläglich, wie häßlich es jetzt werden mußte. Öde leere Kellnerjahre, zermartert von törichter Sehnsucht, diese Lächerlichkeit sollte seine Zukunft sein. |
1707 |
Es gab nur eine Möglichkeit. – Leise schwankten die Wipfel in einer unmerklichen Brise. Eine finstere schwarze Nacht stand drohend vor ihm. Da erhob er sich sicher und gelassen von seiner Bank und schritt über den knirschenden Kies zu dem großen, in weißem Schweigen schlafenden Hause empor. |
1708 |
Und eilte zurück. Die Vase mit den Blumen stellte er mit wehmütiger Feierlichkeit vor das Kuvert der Gräfin, das er nun zum letzten Male mit einer voluptuösen und langsamen Peinlichkeit bereitete. Dann kam das Diner. Er servierte wie immer: kühl, lautlos und geschickt, ohne aufzuschauen. |
1709 |
Nur zum Ende umfing er ihre ganze biegsame, stolze Gestalt mit einem unendlichen Blicke, von dem sie nie wußte. Und nie erschien sie ihm so schön, wie in diesem letzten wunschlosen Blick. Dann trat er ruhig, ohne Abschied und Gebärde vom Tische zurück und ging aus dem Saal. |
1710 |
Vor dem Hotel blieb er eine Sekunde unschlüssig stehen: dann wandte er sich den blinkenden Villen und breiten Gärten entlang einem Wege zu, weiter, immer weiter wandelnd in seinem nachdenklichen Promenadeschritt, ohne zu wissen, wohin. Bis zum Abend irrte er so unstet in träumerischem Verlorensein. |
1711 |
Er sann über nichts mehr nach. Nicht über Vergangenes und nicht über das Unabwendbare. Er spielte nicht mehr mit dem Todesgedanken, so wie man wohl noch in den letzten Augenblicken den funkelnden, mit tiefem Auge drohenden Revolver prüfend in der wägenden Hand hebt und wieder senkt. |
1712 |
Längst hatte er sich das Urteil gesprochen. Nur Bilder kamen noch, in flüchtigem Fluge, gleich ziehenden Schwalben. Zuerst die Jugendtage bis zu einer verhängnisvollen Schulstunde, da ihn ein törichtes Abenteuer aus einer verführerisch winkenden Zukunft jählings in das Gewirre der Welt stieß. |
1713 |
Viele farbige Erinnerungen wirbelten vorüber. Und schließlich glänzte noch die sanfte Spiegelung dieser letzten Tage aus den wachen Träumen; und jählings stießen sie wieder das dunkle Tor der Wirklichkeit auf, das er durchschreiten mußte. Er besann sich, daß er noch heute sterben wollte. |
1714 |
Bis ihn plötzlich ein Gedanke durchzuckte. Aus trüben Sinnen fiel ihm jäh ein finsteres Symbol ein: so wie sie unwissend und vernichtend über sein Schicksal hinweggebraust war, so sollte sie auch seinen Körper zermalmen. Sie selbst sollte es vollbringen. Sie selbst ihr Werk vollenden. |
1715 |
Und nun hasteten die Gedanken mit unheimlicher Sicherheit. In einer knappen Stunde, um acht Uhr ging der Expreß ab, der sie ihm entführte. Dem wollte er sich unter die Räder werfen, sich zerstampfen lassen von der gleichen stürmenden Gewalt, die ihm die Frau seiner Träume entriß. |
1716 |
Und sie führten ihn in gewundenem Zuge aufwärts durch die tiefen duftenden Tale, deren dunstige Schleier das matte Mondlicht durchsilberte, sie lenkten ihn im steigenden Gange in das Hügelland, wo man sah, wie ferne das weite nachtschwarze Meer mit seinen funkelnden Strandlichtern aufglänzte. |
1717 |
Es war schon spät, als er nun schweratmend am dunklen Hange des Waldes stand. Schauerlich und schwarz reihten sich die Bäume um ihn. Nur hoch oben in den durchschimmernden Kronen spann ein fahles zitterndes Mondlicht in den Zweigen, die stöhnten, wenn sie die leise Nachtbrise in die Arme nahm. |
1718 |
Manchmal zuckten seltsame Rufe ferner Nachtvögel in diese dumpfe Stille. Die Gedanken erstarrten ihm ganz in dieser bangenden Einsamkeit. Er wartete nur, wartete und starrte, ob nicht unten an der Kurve der ersten ansteigenden Serpentine das rote Licht des Zuges auftauchten wollte. |
1719 |
Der Zug war noch weit. Minuten mochte es wohl dauern. Noch hörte man nichts außer dem flüsternden Rauschen der Bäume im Wind. Wirr sprangen die Gedanken. Und plötzlich einer, der blieb und sich wie ein schmerzhafter Pfeil in sein Herz bohrte: daß er um ihretwillen starb und sie es nie ahnen würde. |
1720 |
Daß nicht eine einzige leise Welle seines aufschäumenden Lebens die ihre berührt hatte. Daß sie nie wissen würde, daß ein fremdes Leben an ihrem gehangen, an ihrem zerschmettert sei. Ganz leise keuchte von ferne durch die atemstille Luft der rhythmische Gang der steigenden Maschine. |
1721 |
Alle Sehnsucht und diese letzte schmerzliche Frage fluteten über in den weißen leuchtenden Stern, der mild auf ihn niedersah. Näher und näher schmetterte der Zug. Und der Sterbende umfing noch einmal mit einem letzten unsagbaren Blick den funkelnden Stern, den Stern über dem Walde. |
1722 |
Erstickende Schwüle wärmte diese schweren Duftwellen, die träge niederdrückten, selbst in der sausenden Eile des Zuges. Plötzlich ließ sie mit matten Fingern das Buch sinken. Sie wußte selbst nicht, warum. Ein geheimes Gefühl war es, das sie aufriß. Sie fühlte einen dumpfen schmerzlichen Druck. |
1723 |
Ein jäher, unverständlicher beklemmender Schmerz umpreßte ihr Herz. Sie glaubte ersticken zu müssen in dem schwülen betäubenden Dunst der Blumen. Und dieser ängstigende Schmerz wich nicht, sie fühlte jede Schwingung der sausenden Räder, das blinde Vorwärtsstampfen marterte sie unsäglich. |
1724 |
Sie zuckt zusammen. Instinktiv trifft ihr Blick den hohen schweigenden Himmel und drüben die schwarzen rauschenden Bäume. Und über ihnen ein einsamer Stern über dem Walde. Sie fühlt seinen Blick wie eine funkelnde Träne. Sie sieht ihn an und spürt jählings eine Traurigkeit, wie sie sie nie gekannt. |
1725 |
Immer häufiger kamen Männer von Jerusalem zu den kleineren Orten Judäas und erzählten von Zeichen und Wundern, die sich ereignet hatten. Und wenn sie zu wenigen beisammen waren, dann senkten sie ihre Stimmen geheimnisschwer, um von dem seltsamen Manne zu künden, den sie Meister nannten. |
1726 |
Und ihm war, als müßte alle Unrast und Schmerzlichkeit seiner jungen Seele schwinden, dürfte er nur einmal den leuchtenden Glanz tragen, der von dem Herrn ausging. Noch aber wagte er es nicht, Heimat und Arbeit zu verlassen, die ihn ernährten, und dorthin zu gehen, wohin ihn seine Sehnsucht wies. |
1727 |
Einmal aber erwachte er plötzlich in tiefer Nacht aus einem Traum. Er vermochte sich seiner nicht mehr zu besinnen, nicht einmal, ob er ihm Glück gegeben oder einen Schmerz; er fühlte nur so, als ob ihn jemand von ferne gerufen hätte. Und da wußte er, daß der Heiland ihn zu sich entboten. |
1728 |
Denn sein Schritt war beschleunigt und beinahe ängstlich; es schien, als wollte er das monatelange Versäumnis in dieser einen Nacht wett machen. In ihm bangte ein Gedanke, den er sich kaum zu sagen wagte: es könnte zu spät sein, und er würde den Heiland nicht mehr finden. |
1729 |
Aber dann gedachte er des innigen Wunders, das er vernommen von drei Königen aus fernem Lande, die ein leuchtender Stern durch das Dunkel geführt. Und da verließ wieder die lästige Schwere seine Seele, und der eilende Wanderschritt hallte sicher und fest auf dem harten Pfade. |
1730 |
Und es ward ein heißer Tag, der sich schwer über das Land legte. Bald wurde sein Schritt langsamer. Lichte Schweißperlen tropften von seinem Körper, und das schwere Feiertagsgewand begann ihn zu drücken. Zuerst legte er es über die Schulter, um es zu bewahren, und ging in ärmlicher Gewandung dahin. |
1731 |
Bald aber begann er die Schwere der Last zu fühlen und wußte nicht mehr, was er mit dem Kleide beginnen sollte. Er wollte es nicht weggeben, denn er war arm und hatte kein anderes Feiertagsgewand, so daß er schon daran dachte, es im nächsten Dorfe zu verkaufen oder als Pfand für Geld zu geben. |
1732 |
Er fand sich in einem kleinen Raum von wohltuender Kühle auf einem Ruhebette ausgestreckt. Und überall die Spuren einer mildtätig-sorglichen Hand; sein glühender Körper war mit Essig gewaschen worden und sorgfältig gesalbt, und neben seinem Lager stand noch das Gefäß, aus dem man ihn gelabt. |
1733 |
Zuerst bemerkte er von alldem nichts, denn er achtete nicht auf sie und ließ ihre Worte wie ein sinnloses Geräusch an sich vorbeiströmen. Sein ganzes Denken verlor sich immer wieder in dem einzigen Gedanken, daß er weiterwandern müsse, um noch heute den Heiland zu sehen. |
1734 |
Wenn er schon Monate gezögert, dürfe er doch nicht mit einem einzigen Tage rechnen. Und mit ihrem seltsamen Lächeln kam sie immer wieder darauf zurück, daß sie allein zu Hause sei, ganz allein. Dabei bohrte sich ihr Blick verlangend in den seinen. Und auch über ihn war eine seltsame Unruhe gekommen. |
1735 |
Jäh, fast feindselig riß er sich aus ihren Armen los, denn der Gedanke, er könnte den Messias versäumt haben um eines Weibes willen, machte ihn furchterfüllt und wild. In Hast nahm er seine Kleider, ergriff den Stab und verließ das Haus nur mit einer stummen Gebärde des Abschieds. |
1736 |
Er aber dachte immer wieder, daß er seiner Berufung untreu geworden sei, um einer flüchtigen Wollust willen, und die dumpfe Schwere in seinem Herzen wollte nicht leichter werden, ob er auch die hellen Mauern und blanken Türme der heiligen Stadt erblickte und die leuchtenden Zinnen des Tempels. |
1737 |
Nahe der Stadt, auf einem niederen Hügel, sah er eine gewaltige Menge Menschen, die sich wirr durcheinander drängte und so laut lärmte, daß er die Stimmen selbst aus der Ferne vernahm. Und über ihnen sah er drei Kreuze ragen, die sich schwarz und scharf von der Himmelswand abhoben. |
1738 |
Diese aber war überflutet von heller Glut, als sei die ganze Welt mit leuchtendem Flammenschein übergossen und in drohenden Glanz getaucht. Und die blanken Speere der Söldner glühten, als seien sie mit Blut befleckt.... Ein Mann kam auf dem menschenleeren Weg daher, mit ziellosem, unruhigem Gang. |
1739 |
Der Fremde wendete sich nicht um, sondern lief fort und fort, aber dem Weiterwandernden dünkte es, als hätte er in ihm einen Mann aus Kerijoth, namens Judas Ischariot, erkannt. Doch er verstand nicht sein seltsames Gebaren. Den Nächsten, der des Weges vorüberzog, befragte er ebenfalls. |
1740 |
Und ehe er ihn weiter fragen konnte, war er vorüber. Und da ging er selbst weiter gegen Jerusalem zu. Einmal warf er noch einen Blick zurück auf den Hügel, der wie mit Blut umwölkt war, und sah zu den drei Gekreuzigten hin. Zum Rechten, zum Linken und zuletzt zu dem in der Mitte. |
1741 |
Hie und da kämpfte ein matter Lichtschein mit dem feuchten Rauche und suchte ein grelles Schild zu beleuchten, aber nur das verschwommene Lärmen und Lachen harter Kehlen verriet die Schenke, in der sich die Frierenden und die des Wetters Unlustigen zusammengefunden hatten. |
1742 |
Die Gassen waren leer, und wenn Gestalten vorbeikamen, so war es nur wie ein flüchtiger Streif, der rasch in Nebel zerrann. Trostlos und müde war dieser Sonntagmorgen. Nur die Glocken riefen und riefen ohne Unterlaß, wie verzweifelt, daß der Nebel ihren Schrei erstickte. |
1743 |
Alte, verhutzelte Frauen, die ihre Rosenkränze emsig surrten, arme Leute in schlichtem Sonntagsgewand standen wie verloren in den tiefen dunklen Hallen der Kirche, aus denen das schimmernde Gold der Altäre und Kapellen und das leuchtende Meßgewand wie eine milde und sanfte Flamme entgegenstrahlte. |
1744 |
Der andere war absonderlicher, wenn auch nicht phantastisch gekleidet: seine sanften und ruhigen Bewegungen harmonierten mit seinem etwas grobknochig-bäuerlichen, aber gutherzigen Gesicht, dem die weiße Wucht der herabwallenden Haare die Milde eines Evangelisten verliehen. |
1745 |
Der Weg der beiden ging durch die schmalen verwinkelten Gassen dem hellen Hafen zu, wo der Kaufherr wohnte. Und da sie langsam dahinschritten, in Gedanken und Erinnerung verloren, führte des Kaufherrn Geschichte schneller hin zum Ziele als ihrer Schritte träumerischer Gang. |
1746 |
Statt meines Vaters Contor zu verwalten, saß ich in Schenken mit dem jungen Volk, das dort den lieben Tag in Saus und Braus verbringt, trank, spielte, wußte auch schon manches freche Lied und manchen bittern Fluch über den Tisch zu donnern, wie die andern. An Heimkehr dacht' ich nicht. |
1747 |
Ich lachte nur, manchmal mit Ärgernis: ein rascher Schluck von diesem dunkelsüßen Wein schwemmte mir alle Bitterkeiten weg, und tat's nicht er, so tat's ein Dirnenkuß. Die Briefe riß ich auf und bald entzwei: mich hatte ganz der böse Rausch gefaßt, ich dachte nie mehr loszukommen. |
1748 |
Auch Dirnen waren mit, und eine war sehr schön; wir trieben's selten toller als in dieser Nacht, die stürmisch war und sehr unheimlich. Plötzlich, als eben eine unzüchtige Historie dröhnendes Lachen weckte, trat mein Diener ein und gab mir einen Brief, den der Kurier von Flandern gebracht hatte. |
1749 |
Ich warf ihr Geld hin, das sie widerwillig nahm, weil sie fürchtete, daß ich sie verachte, und nannte mich einen deutschen Narren. Ich aber hörte nicht mehr, sondern stürmte fort in die kalte Regennacht und schrie wie ein Verzweifelter in die dunklen Kanäle hinaus nach einer Gondel. |
1750 |
Vor dem Tore stand meine Mutter, gealtert und blaß, doch wohlauf. Als sie mich sah, breitete sie mir jubelnd die Arme entgegen, und ich weinte vieler Tage Sorge und vieler vergeudeter Nächte Schmach an ihrem Herzen aus. Mein Leben ist seitdem ein anderes geworden, ich darf beinah sagen ein gutes. |
1751 |
Und, wiewohl ich keinen Beweis dafür habe und mich solches Tun ketzerisch und unchristlich anmutet, so meine ich, daß jenes Bild, das Ihr gesehn und das er im Verlauf weniger Wochen ohne Vorbild und mühsame Bereitung aus der Erinnerung gemalt, jener Frau Züge erhalte, die er geliebt. |
1752 |
Und glaubt, obgleich eines sündigen Menschen Antlitz, wenn ihr in frommer Hingebung es schafft, bleibt nichts von Schlacken der Begehrlichkeit und Sündhaftigkeit in diesen Zügen, ja dieser wunderbaren Reinheit Zauber wirkt oft weiter als ein Zeichen in der irdischen Frauen Angesicht. |
1753 |
Er liebte dieses wilde farbenreiche Bild, darin die Arbeit ungebrochen pulste, und manchmal setzte er sich auf einen Taupflock nieder, um irgend eines Schaffenden seltsame Körperbiegung nachzubilden und der schwierigen Kunst der Verkürzungen ein fußbreit Weges abzuringen. |
1754 |
Und nichts Furchtbareres gibt es, als den Schauer eines Lebens, das schon auf dem letzten Grat seines Aufstieges aufblickt, vom mutvollen Schreiten und dann von sinnender Angst befallen, es habe den Fehlweg eingeschlagen, die Kraft verliert, die letzten leichtesten Fußtapfen nach vorwärts zu machen. |
1755 |
Er sah die blonde gefräßige Behäbigkeit in der einen, die wilde verhaltene Gier, sich im Liebeskampfe auszutoben, in der andern, er fühlte die leere Glätte hinter den kurzen glänzenden Mädchenstirnen und erschrak beim plumpen Schritt und bei der verbuhlten Hüftenbiegung der Dirnen. |
1756 |
Und erst wenn er die Kirche verließ und begann, seiner selbst und eigenen Bemühens zu gedenken, fühlte er den alten Schmerz mit doppelter Gewalt. Eines Nachmittags war er wieder durch die hellerleuchteten Straßen geirrt, und diesmal fühlte er seine quälerischen Zweifel milder werden. |
1757 |
Aber von Fenster zu Fenster gab sich das spiegelnde Leuchten weiter, wie wenn funkelnde Hände flirrend hinabgriffen und es hin- und herschnellten in übermütigem Spiel. Und manchen Fleck gab es, da das Leuchten still und mild blieb, wie ein träumendes Auge in der ersten Dämmerung des Abends. |
1758 |
Ein Schauer überlief ihn, die grausame Angst der Enttäuschung vereint mit jenem selig zitternden Rausch eines Begnadeten, dem die wundersame Vision der Gottesmutter nicht im Dunkel eines Traumes, sondern in Tageshelle erschienen, ein Wunder, das viele bezeugten und wenige wirklich erschaut hatten. |
1759 |
Erst als seine Pulse langsamer und ruhiger gingen und er nicht mehr schmerzvoll ihren Hammerschlag in der Kehle spürte, raffte er sich auf und sah langsam, unter der überschattenden, zitternden Hand zu jenem Fenster auf, in dessen Rahmen er das verführerische Bild gesehn. |
1760 |
Aber die erhobene Hand sank darum nicht verzagend herab. Denn auch das, was er erschaute, schien ihm ein Wunder zu sein, wenn auch ein viel lieblicheres, milderes und menschlicheres, als eines Gottes Erscheinung, die im glühenden Strahl einer begnadeten Stunde erscheint. |
1761 |
Mehr aber als alle diese Sonderbarkeit und Fremdheit in ihrem Gesichte erstaunte ihn das Wunderspiel der Natur, das hinter ihrem Haupte im bespiegelten Fenster die sonnige Glut aufstrahlen ließ wie einen Heiligenschein, der sich um ihre Locken sammelte und sie funkeln ließ, wie schwarzen Stahl. |
1762 |
Jedenfalls ist es nicht der Leute Kind, sie haben es wo gefunden oder bekommen. Was schert's mich, meine Neugierde hat's nie geplagt und wird's auch nicht sobald. Fragt den Meister selbst, wenn ihr's wissen wollt, der weiß sicherlich besser als ich, wieso er dazu gekommen ist. |
1763 |
Ohne viel Besinnen trat der Maler auf ihn zu. Sie traten ein in die Schenke; der Maler setzte sich in eine Ecke an einen der beschmierten Holztische, ein wenig unruhig und erregt, und als der Wirt ihm das geforderte Glas vorsetzte, bat er ihn, einen Augenblick mit ihm den Platz zu teilen. |
1764 |
Alles, was ich von seinem Judendeutsch verstand, war, daß er mir viel Geld bot, wenn ich sie beide retten wollte. Mir tat das Kind recht leid, das mich erschreckt mit seinen großen Augen anstarrte, der Handel schien nicht übel, so warf ich ihm meinen Mantel über und führte sie in mein Quartier. |
1765 |
Ich brachte sie zu mir, und weil mich der Alte auf den Knieen beschwor, verließ ich noch am selben Abend die Stadt, in der Brand und Mord bis spät in die Nacht wütete. Weit am Wege sahen wir noch den Feuerschein, in den der Alte verzweifelt starrte, während das Kind ruhig weiter schlief. |
1766 |
Ich war dessen froh, denn meines Wanderlebens wurde ich so frei, kaufte mir das Haus und diese Schenke, und der tollen Kriegszeit hab' ich bald vergessen. Das Kind behielt ich: es tat mir leid, dann hofft' ich auch, sie würde, wenn sie heranwachse, mir altem Hagestolz das Haus besorgen. |
1767 |
Einmal hat man mir schon die Priester auf den Hals gehetzt und mir die Hölle heiß gemacht; ich habe sie vertröstet, bis das Ding vernünftig werde. Doch damit hat's wohl noch lange Zeit, obwohl sie heute schon ihre fünfzehn Jahre hinter sich hat, denn sie ist ganz versponnen und trotzig. |
1768 |
Ihres toten Großvaters Bild erstand jäh in ihrem inneren Blick, als sie die schneeige Milde dieses Hauptes umfaßte, und vergessene Glocken schlugen an in ihrem Herzen und schlugen so laut und jubelnd durch alle Adern und bis in die Kehle hinauf, daß sie kein Wort der Antwort wußte. |
1769 |
Sie errötete nur und nickte heftig, fast wie im Zorn, so eckig und hart in der plötzlichen Bewegung. Bangend und erwartend folgte sie ihm an seinen Platz und setzte sich halb an seine Seite, ohne die Bank recht zu berühren. Der Maler beugte sich zärtlich zu ihr nieder, ohne zu sprechen. |
1770 |
Als er auf die Straße trat, war die Sonne schon gesunken, und nur mattrosa Dämmerung umhüllte noch den Himmel. Der Abend war mild und rein. Mit langsamem Schritt ging der alte Mann heimwärts und dachte der Ereignisse, die ihm so seltsam und so begütigend dünkten wie ein Traum. |
1771 |
Die suchte er nun heraus, und sie betrachteten gemeinsam, Schulter an Schulter die Bilder; bald fühlte er den tiefen Eindruck, den manches der Blätter in ihrer Seele erzeugte, an der Unruhe ihrer blätternden Hände und den raschen Atemzügen, die warm an seine Wangen wellten. |
1772 |
Eine farbige Welt von Schönheit tauchte plötzlich vor diesem einsamen Mädchen auf, das seit Jahren nur mehr die verquollenen Gestalten der Schenke, die verrunzelten Gesichter alter schwarzgekleideter Frauen und die schmutzige Plumpheit der schreienden und sich balgenden Straßenkinder gesehn hatte. |
1773 |
Sanft an seinen Arm gelehnt und in diese stillen, blauen, geklärten Augen blickend, in denen sich plötzlich so viel Licht gesammelt, war sie nach und nach an ihm herabgeglitten, ohne daß er es in seiner gottnahen Aufwallung bemerkte, und kauerte an seinen Knieen, den Blick zu ihm erhoben. |
1774 |
Und er mißverstand sie. Denn er meinte, daß das Wunder sich vollendet habe und Gott in einem großen Augenblicke seiner sonst schlichten und wortkargen Sprache die glühenden Feuerzungen der Beredsamkeit geschenkt habe, wie einst den Propheten, da sie zu dem Volke gingen. |
1775 |
Und schlaff fielen die Hände an ihrem schmalen Körper herab, wie Schwingen, die auf hochrauschendem Fluge zerbrochen. Noch immer war ihr das Leben ein Rätsel von Schönheit und Seltsamkeit, aber sie wagte nicht mehr den Traum zu lieben, aus dem sie so niederschmetternd erwacht war. |
1776 |
Auch der alte Maler fühlte, daß ihn ein voreiliges Vertrauen betrogen hatte, aber es war nicht die erste Enttäuschung seines langen suchenden Lebens, das nur Treue und Vertrauen war. So kam ihn kein Schmerz an, sondern nur Erstaunen und dann wieder fast Freude über ihre rasche Beschämung. |
1777 |
Ich hasse die Christen. Ich kenne sie nicht, aber ich hasse sie. Was Ihr mir gesagt habt von der Liebe, die alle umfaßt, ist schöner, als jedes Wort, das ich in meinem Leben je erhört. Aber die Menschen um mich sagen auch, daß sie Christen sind, aber sie sind roh und gewalttätig. |
1778 |
Sie ging wieder die dunklen Ghettogassen entlang bis zu dem Hause. Und mit einem Male waren Zusammenhänge da, alles wurde so klar, und sie erfaßte, daß was sie manchmal für einen Traum hielt, Wirklichkeit und vergangenes Leben war. Mühsam hasteten die Worte den klaren vorübereilenden Bildern nach. |
1779 |
Sie schaute auf, verwirrt und zerfahren; mit mechanischer Gebärde ordnete sie sich ihre Haare und erhob sich mit umherirrenden Augen, als müßte sie sich wieder zurechtfinden in der Wirklichkeit. Schlaffer und müder wurden ihre Züge und nur in den Augen flackerte noch der dunkle Schein. |
1780 |
Wir wollen alle Dinge ruhen lassen, die hellen und die traurigen. Morgen werden wir mit dem Bilde beginnen und mir ist, als wollte es gelingen. Und sei nicht traurig mehr, laß das Vergangene schlafen und rüttle nicht daran. Morgen wollen wir mit neuer Arbeit beginnen und mit neuer Hoffnung. |
1781 |
Eine Gestalt hatte er seinem Bilde ersehnt und, sie war ihm begegnet; war dies nicht Gottes Wille, daß er sie zum Bildnis schüfe, und nicht, daß er ihre Seele einem Glauben zuführte, den sie vielleicht nie würde verstehen können? Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz. |
1782 |
Und vorsorglich legte er ihr ein kleines, nacktes, derbes Kind von mehreren Monaten in den Schoß, das sich anfänglich unruhig bewegte, dann aber unbeweglich blieb. Esther sah mit erstarrten Augen den alten Mann an, von dem sie so sonderbaren Scherz nicht erwartet hatte. |
1783 |
Doch dieser lächelte nur und schwieg. Und als er sah, daß sich ihre ängstlich fragenden Blicke nicht von ihm abwenden wollten, erklärte er ihr ruhig und mit bittendem Tone seine Absicht, sie mit dem Kinde auf dem Schoße zu malen. Die ganze Herzlichkeit und Güte seiner Augen legte er in diese Bitte. |
1784 |
Die tiefe väterliche Liebe, die er zu diesem fremden Mädchen gefaßt hatte und das innige Vertrauen auf ihr unruhiges und gläubiges Herz durchleuchteten seine Worte und noch sein beredtes Schweigen. Esthers Gesicht war blutig überloht. Eine unbändige innere Scham zerquälte sie. |
1785 |
In ihren Blicken lag etwas Krampfhaftes und Gezwungenes, weil sie es unausgesetzt vermied, dem Anblick des nackten schlafenden Kindes auf ihrem Schoße zu begegnen und in endloser stumpfer Wiederholung die Wandhöhe mit den ihr innerlich gleichgültigen Bildern und Zierraten fixierte. |
1786 |
Nur ein gespannter Zug in ihrem Gesichte verriet stärker und stärker die qualvolle Anstrengung, so daß der Maler schließlich selbst, obwohl er nicht ihren ererbten Abscheu, sondern nur mädchenhafte Scheu voraussetzte, ihr Unbehagen zu ahnen begann und die Sitzung unterbrach. |
1787 |
Aber nie vermochte sie es; ein innerer Stolz oder eine geheime Scham hielten die Worte zurück, die schon auf ihren Lippen zuckten, so wie schwungbereite Vögel, die prüfend ihre Schwingen flattern lassen, bereit, sich im nächsten Augenblicke frei emporzustoßen in die Luft. |
1788 |
Aber während sie Tag für Tag kam und ihre Unruhe gewissermaßen schon mit sich trug, wurde diese Scham nach und nach eine unbewußte Lüge, denn sie hatte sich schon damit vertraut gemacht, wie mit einer lästigen Selbstverständlichkeit. Es fehlte nur noch der Augenblick der Erkenntnis. |
1789 |
In Wirklichkeit umfaßte sein Rahmen nur die leeren und unwichtigen Linien der Gestalten und ein paar flüchtige versuchende Tönungen. Denn der alte Mann wartete, bis Esther sich mit dem Gedanken ausgesöhnt hätte und suchte nicht zu beschleunigen, was er mit Sicherheit erhoffte. |
1790 |
Immer eiliger suchte es die kleinen dicken Finger zu bewegen, die vom sonnigen Lichte rötlich durchleuchtet die warme Flut des Blutes durchdämmern ließen, und dieses naive Spiel erfüllte die ganze kleine unfertige Gestalt mit wundersamem Liebreiz, der auch Esther unbewußt bezwang. |
1791 |
Zum ersten Mal webte ein menschliches und innig menschliches Leben für sie in diesem kleinen glatten Körper, dessen fleischige Nacktheit und stumpfe Sättigung sie bisher nur empfunden; und mit kindlicher Neugier folgte sie jeder Regung. Der alte Mann sah zu und schwieg. |
1792 |
Und schmale kindhafte Hände, die behütend zu beiden Seiten warten, um alles Unheil und Verderben von diesem Kinde abzuwehren. Und über dem Haupte ein flüchtiger Glanz, der sich in den Haaren verfangen hat und gleichsam von ihnen auszustrahlen scheint wie ein inneres Licht. |
1793 |
Mit heftigen Zügen hielt er dies Bewegungsspiel dieser kindischen Hände und die sanfte Neigung dieses sonst so harten Mädchenhauptes fest, als wollte er sie der Vergänglichkeit des Momentes für immer entraffen, der sie zusammengefügt. Er fühlte Schöpferkraft in sich wie heißes junges Blut. |
1794 |
Sie sah nur eine Fülle des Lebens; und die Vielfältigkeit und Größe solcher Momente ließen sie immer jenes Erstaunen wiederempfinden, das sie zuerst gefühlt, als ihr der Maler die Bilder ferner und unbekannter Menschen, traumhaft schöner Städte und üppiger Landschaften gezeigt hatte. |
1795 |
Und nur in diesen Stunden glaubte sie auch jetzt noch zu leben; ihr Verweilen zu Hause war ihr eine Fremde, wie die Nacht, in die man schlafend hinabtaucht. Wenn sie mit ihren Fingern die dicken fleischigen Händchen des Kindes umfaßte, fühlte sie, daß dies kein blutloser Traum war. |
1796 |
Aber noch war alles ein tändelnder Reigen zärtlicher Einfälle und inniger Bewunderung, spielender Anmut und törichten Traums. Wie Kinder die Puppen schaukeln, so wiegte sie dieses Kind, aber sie träumte dabei, wie Frauen und Mütter träumen, – in eine süße zärtliche grenzenlose Ferne. |
1797 |
Aus tausend Zärtlichkeiten schuf er eine, aus tausend tändelnden, beseligten, ängstlichen, glücklichen, innigen Blicken einen Mutterblick. Ein stilles großes Werk wuchs empor. Ganz schlicht war es. Ein spielendes Kind und eines Mädchens sanft sich niederneigendes Haupt. |
1798 |
Es war, als müßte irgend ein inneres Licht verborgen sein, von dem sich jene geheime Helle entzünde, eine Luft in ihm weben, die weicher, umschmeichelnder und klarer sei als die aller irdischen Welt. Nichts Überirdisches war darin und doch eine heimliche Mystik des Lebens, das es geschaffen. |
1799 |
Wieder pochte der Gedanke des Wunders an sein Herz, das kaum noch zögerte, ihm Einlaß zu gewähren. Denn dieses Werk schien ihm nicht nur seines ganzen Ringens leuchtende Blüte, sondern etwas viel Ferneres und Höheres, das sein niederes Werk nicht würdig sei zu tragen, wenn auch als seine Krönung. |
1800 |
Und seines Schaffens Heiterkeit senkte sich tiefer und wurde fürchtige Stimmung, ein Bangen vor diesem eigenen Werk, in dem er sich nicht mehr wieder zu erkennen wagte. So wurde auch er Esther ferner, denn sie schien ihm nur die Mittlerin des irdischen Wunders, das er vollbracht. |
1801 |
Der alte Mann überhob sich nicht, da Antwort wissen zu wollen, so Seltsames auch in seinem Leben geschah. Aber er war seiner selbst nicht mehr so sicher wie einst, da er an das Leben glaubte und an Gott und nicht nachsann, wer die Wahrheit war. Und jeden Abend umhüllte er sorglich das Bild. |
1802 |
Die Erzählung von der milden Frau, deren Bild sie gesehen, die Mutter ward nach wundersamer Verkündigung, durchbebte sie mit einer jähen und fast freudigen Angst. Und doch wagte sie nicht zu glauben, denn noch von anderem war da gesprochen worden, das sie nicht verstand. |
1803 |
Und sie selbst fühlte diese innere Kraft, die sie hineinzog in das Leben und zu den Menschen, aber sie war unsinnig und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte und hinterließ nur diesen gleichen drängenden, pressenden und quälenden Schmerz unverbrauchter Sehnsucht und unterbundener Kraft. |
1804 |
Sie sprach mit ihm von allen Dingen, erzählte ihm von dem Bilde, griff tief in sich hinein, um aus diesen Stunden etwas emporraffen zu können, was ihm von Wert sein könnte. Und der Wirt, sichtlich erfreut über diese Wandlung klopfte ihr derb begütigend auf die Wangen und hörte zu. |
1805 |
Es gab ein Nebeneinandersein, aber kein Erkennen, eine Öde und kein Verständnis. Und er schien ihr noch der beste von all den Menschen, die in dieser traurigen Kneipe aus und ein gingen, weil eine gewisse biedere Derbheit in ihm war, die in manchen Augenblicken sogar Herzlichkeit werden konnte. |
1806 |
Er wußte nichts von der fraulichen Wandlung Esthers, aber er ahnte sie aus ihrem ganzen Wesen, dessen so jäh erwachte Ekstatik ihn befremdete. Ihr Schranken zu setzen, versuchte er nicht, weil er die elementare Kraft spürte, die sie vorwärts trieb in diese zähe Leidenschaft. |
1807 |
Und da wandte sie ihre ganze Zärtlichkeit dem Kinde zu. Ihr ganzes Empfinden formte sie in diesen kleinen unbeholfenen Körper, den sie mit heißer Gewalt umfing und küßte, so ungestüm und vergessend, daß das Kind oft nur den Schmerz der Umarmung spürte und zu klagen begann. |
1808 |
Die Protestanten einten sich insgeheim, lichtscheues Gesindel rottete sich zusammen, kleine Aufstände und Zusammenstöße mit den Soldaten häuften sich, getragen von drohenden Botschaften aus Spanien; und in diesem unruhigen Gezänke wetterleuchteten schon die ersten Flammen von Krieg und Rebellion. |
1809 |
Ihr Leben trieb einer einzigen Strömung nach in eine unselige Verwirrung; die Dunkelheit um sie ließ die phantastischen Träume ihrer leeren Stunden ihr als Wirklichkeit erscheinen, so ferne und fremd, daß sie für immer verloren war für die kühle besonnene Verständigkeit der Welt. |
1810 |
So aber dachte sie ihrer nicht, sondern sah nur die Kinder auf den Straßen spielen und dachte träumerisch jenes seltsamen Wunders, das ihr vielleicht auch eines Tages ein solches rosiges spielendes Kind schenken könne, ein Kind, das ganz ihr gehörte und ganz ihre Seligkeit wäre. |
1811 |
Und so unbändig war der Wunsch in ihr, daß sie sich vielleicht dem ersten besten hingegeben hätte, alle Scham und Ängstlichkeit vernichtend, nur um dieses ersehnten Glückes willen; aber sie wußte nichts von dieser schöpferischen Einung, und ihre Sehnsucht ging blinde und nutzlose Pfade in die Irre. |
1812 |
Das Blut stieg ihr in die Wangen bei dieser Frage, denn mit einem Male fühlte sie die stumme Beleidigung aller dieser Stunden, in denen sie nie Aufmerksamkeit weder ihm noch seinem Werke geschenkt. Die Vernachlässigung dieses so gütigen Menschen drückte sie wie eine Schuld. |
1813 |
Aber die finstere Gewalt in ihm zwang ihn, trotzig und grausam zu sein. Er fügte nichts hinzu. In diesem Augenblicke haßte er dieses Mädchen, das so undankbar die viele Liebe vergaß, die sie von ihm empfangen, und der gütige und so milde Mensch empfand die Wollust einer Sekunde, sie zu quälen. |
1814 |
Doch es war nur ein flüchtiger Moment der Schwäche und eigenen Verneinung, der wie eine einsame Welle in diesem unendlichen Meere der sanften Klärung verrann. Und, von dem Bangen ihres Blickes mit Mitleid erfüllt, wandte er sich ab. Aber sie ertrug nicht dieses Schweigen. |
1815 |
Er wartete und wartete. Manchmal schien der aufschäumende Strom zu stocken und die Erregung sich zu mildern, aber immer und immer stieß ein Schluchzen verlorene Worte empor, die halb Schrei und halb Weinen waren. Eine reiche und blühende Seele verblutete in diesem Schmerz. |
1816 |
Die Lippen lallten noch die Worte weiter ohne Sinn und Betonung. Er wollte sie emporheben; ihr Arm, den er faßte, war kraftlos und ohne Regung wie ein abgebrochner Ast; schlaff fiel er wieder zurück. Nur die Lippen stammelten eintönig und unbewußt ihren traurigen Spruch weiter. |
1817 |
Noch war ihr der Gedanke nicht ganz klar, denn instinktiv glaubte sie nicht an ein so großes Glück, das sich aus dem Schmerze wieder erschließen sollte. Unsicher sah sie den alten Mann an, wie mit schwankenden Sinnen. Sie begriff ihn nicht ganz und wartete auf seine Worte. |
1818 |
Alles war ihr so unklar. Aber er sprach nicht, er sah sie nur mit gütiger Verheißung an und nickte ihr zu. Lind umfaßte er sie mit seinem Arm, als hätte er Angst, ihr wehe zu tun. Es war also kein Traum und nicht die Lüge eines Augenblicks. Ihr Herz schlug und schlug in wirrer Erwartung. |
1819 |
Aber dann stürzte sie gierig auf das Bild zu, als wollte sie dieses liebe lächelnde rosige Kind aus dem Rahmen reißen, wieder zurück ins Leben, um es zu wiegen und zu umschmeicheln, um die Zartheit seiner unbeholfenen Glieder zu spüren und das Lachen um diesen kleinen törichten Mund zu erwecken. |
1820 |
Reglos blieb sie knapp vor dem Bilde stehen. Ein Zittern und Reißen war in ihren Fingern, die sich sehnten, die blühende Weiche dieses Kindes wieder erschauernd fühlen zu können, ein Brennen in ihren Lippen, den erträumten Körper mit zärtlichen Küssen bedecken zu können. |
1821 |
Ein seliges Fieber durchlief ihren Leib. Und dann brachen die warmen Tränen empor. Aber sie waren nicht mehr zornig und anklagend, sondern wehmütig und beglückt, sie waren nur ein Quellen und Überquellen von vielen seltsamen Gefühlen, die plötzlich ihre Seele erfüllten und empordrängten. |
1822 |
Und wie fromme Glocken jubelten diese Gedanken durch sein Herz, das sich erwählt dünkte für aller Himmel leuchtende Gnade. Vorsichtig nahm er Esther bei der Hand und führte sie weg vom Bilde. Er sprach nicht, denn auch er fühlte das warme Quellen von Tränen, die er nicht zeigen wollte. |
1823 |
Er sah in Esthers Augen. Sie waren nicht mehr verweint und trotzig; nur ein sanfter spiegelnder Flor schien sie noch zu überschatten. Alles schien ihm heller, milder und verklärter ringsum. Wundernähe und Heiligkeit wollte sich ihm in allen Dingen offenbaren. Lange blieben sie noch beide zusammen. |
1824 |
Esther war still geworden. Der Anblick dieses Bildes hatte sie seltsam berührt und sie so selig gemacht, weil er ihr das Glück ihrer schönsten Erinnerung wieder schenkte, weil sie ihr Kind wieder besaß, aber nun viel heiliger, viel tiefer und mütterlicher als in der Wirklichkeit. |
1825 |
Denn nun war es nur ganz mehr Hülle ihres Traumes, ganz eigen und ganz ihre Seele. Nun konnte es niemand mehr nehmen. Dies Bild gehörte ihr allein, wenn sie es sah, und sie durfte es ja immer sehen. Gerne hatte der alte, von mystischen Ahnungen durchschauerte Mann ihr die zage Bitte verstattet. |
1826 |
Doch der Maler besann sich seines Auftrags, den er beinahe vergessen hatte. Der Kaufherr kam, das Bild zu betrachten, und auch ihn, der nichts von den heimlichen Wundern dieser Schöpfung wußte, überwältigte die milde Form der Muttergüte und die schlichte Weihe des ewigen Symboles in diesem Bilde. |
1827 |
Und sie beschlossen nicht länger dem Altare seinen Schmuck vorzuenthalten. Am folgenden Tage schon schmückte das Bild den andern Altarflügel, der verwaist gewesen. Und seltsam war nun dieses fremde Paar der beiden Madonnen mit ihrer leichten Ähnlichkeit und so verschiedener Gebärde. |
1828 |
Dann flackerte der alte unbändige eifersüchtige Trotz wild in ihr auf, eine Wut brannte in ihrer Seele, die sie zum Schlagen und zum Weinen treiben wollte; ihr Sinn verwirrte sich mehr und mehr in solchen Augenblicken, sie wußte nicht mehr zu scheiden zwischen dieser Welt und der ihres Traumes. |
1829 |
Hoch aber in den Lüften rufen die hellen Glocken unaufhörlich in die Ferne, und von weitherüberleuchtenden Kirchentürmen antworten die freudigen Freundesstimmen, und ihr jubelndes Schwingen ist gewaltig, als ob die Erde selbst singen würde und die trotzigen Wälder und das rauschende Meer. |
1830 |
Tausende von Kerzen durchleuchten mit magischem Licht dieses duftende Dunkel voll Orgelbrausen und Gesang, aus Tiefen und Höhen zittert geheimnisvolles Leuchten und mystische Dämmerung. Und dann scheint plötzlich diese fromme und fürchtige Stimmung sich auf die Straßen zu ergießen. |
1831 |
In diesem Jahre aber überschatteten trübe Wolken die fromme Feier. Seit Wochen lastete ein dumpfer Druck über dem Lande, dunkle und unbestätigte Nachrichten mehrten sich, daß die alten Privilegien für null und nichtig erklärt werden sollten. Die Geusen und Protestanten begannen sich zu regen. |
1832 |
Noch war alles dies unverbürgt, aber man fühlte das heimliche Flackern eines werdenden Brandes, und der bewaffnete Widerstand, den die Besonnenen in ihren Stuben bei heimlicher Beratung planten, artete in jähen Trotz und Unbotmäßigkeit aus bei den vielen, die nichts zu verlieren hatten. |
1833 |
Finstere Gestalten, die niemand kannte, tauchten mit einem Male in den Schenken auf, fluchten und drohten wild den Spaniern und den Pfaffen. Aus den Winkeln und verrufenen Gäßchen quoll seltsames tagscheues Volk mit trotzigem und gereiztem Gebaren. Die Händel mehrten sich. |
1834 |
Noch hielt der Prinz von Oranien strenge Zucht und überwachte dieses habgierige zanksüchtige und böswillige Gesindel, das nur um des Gewinnes willen mit den Protestanten gleiche Sache machte. Die große und prunkvolle Feierlichkeit der Prozession reizte nur den Grimm der unterdrückten Instinkte. |
1835 |
Die Soldaten und die wenigen Gläubigen, die sich zur Feier gewagt hatten, waren machtlos und mußten mit verbissenen Zähnen den Spott ertragen, der immer übermütiger wurde. Und immer ungebärdiger wurde das ungezügelte Volk, seitdem das Bewußtsein seiner trotzigen Kraft erwacht war. |
1836 |
Die Waffen wurden nicht mehr versteckt, Beile und Haken, Schwerter und Pflöcke blitzten im unruhigen Fackelschein; wie eine gierige Flut, die nur noch minutenlang zögert, alle Dämme mit Schaum und Wogen zu überspringen, so ballten sich diese finsteren Massen zusammen, denen niemand zu wehren wagte. |
1837 |
Kein Schatten schwankte in den weiten atemstillen Räumen, und die Heiligengestalten standen vor den Altären in schwarzem reglosen Erz. Und wie leise aufzuckendes Glühwurmblinken flackerte aus der Tiefe, die endlos schien, das schwankende Leuchten des ewigen Lichtes über den Kapellen. |
1838 |
Mühsam tastete sie sich so zum Seitengange durch und ließ sich erschauernd, mit einem unendlichen und doch mystisch gedämpften Jubel vor dem Bilde nieder, das in dem fließenden Dunkel aus dichten und duftenden Wolken herabzublicken schien, unendlich nah und unendlich ferne. |
1839 |
Vom Bilde kam ein ganz leichter, heller, gleichsam silberdunstiger Glanz, wie von einem tief innen strahlenden Lichte, aber sie erkannte ihr Kind in den ekstatischen Träumen, die sie von den frierenden kalten Stufen emportrugen in eine milde warme Sphäre erträumten Lichtes. |
1840 |
Ein jäher Stoß erschütterte mit einem Male die Pforte. Und ein zweiter und dritter, daß sie entsetzt auffuhr und in das furchtbare Dunkel starrte. Und neue donnernde Stöße, daß das ganze hohe stolze Gebäude erzitterte und die einsamen Lampen wie feurige Augen durch das Dunkel rollten. |
1841 |
Esther horchte verstört, wie aus einem Traume geschreckt. Aber da schmetterte endlich das Tor nieder. Ein dunkler Strom Menschen quoll heftig herein und füllte mit jähem Johlen und Toben die gewaltige Halle. Und mehr, immer mehr. Tausende schienen draußen noch zu warten und sie anzufeuern. |
1842 |
Und immer mehr Gestalten drängten nach, die Fackeln flackerten häufiger und häufiger. Ein Bild fing Feuer und die Flamme leckte hoch auf wie eine züngelnde Schlange. Irgend einer hatte die Orgel gepackt; die irren Töne ihrer zerschmetterten Pfeifen schrieen gell und hilfesuchend durch das Dunkel. |
1843 |
Ein toller Geselle mit einem blutigen Gesicht schmierte sich unter dem tierischen Jubel der andern die Stiefel mit dem heiligen Öle, zerlumpte Schelme stolzierten in reichbestickten Bischofstogen, eine kreischende Dirne trug in ihrem wirren schmutzigen Haar einer Statue goldenen Heiligenreif. |
1844 |
Dolche blitzten wie feurige Schlangen im zuckenden Fackellicht und zerbissen zornig Schränke und Bilder, die mit zerschmetterten Rahmen zu Boden sausten. Näher und näher taumelte die Schar mit ihren qualmenden, zuckenden Leuchten. Esther blieb atemlos und preßte sich tiefer ins Dunkel. |
1845 |
Keiner war, der nicht ins tiefste erschauert wäre. Überwältigend war die wundersame Täuschung. Denn für sie gab es keinen Zweifel, daß sich hier ein oft beglaubigtes und erzähltes Wunder ereignet hatte, daß die Madonna, die offenbarlich des Bildes Züge trug, ihr Bild beschützt hatte. |
1846 |
Ein flüchtiger Schein zuckte vom Zündsteine auf und hellte ihm einen Anblick, der ihn taumelnd zurückfahren ließ. Auf dem Boden zwischen Trümmern lag des italienischen Meisters traurig-süßes Madonnenbild, die Madonna mit dem blutenden Herzen, vom Schwertstoß durchdrungen. |
1847 |
Es war dies ein Wunder, ein offenbares Wunder. Aber der alte Mann wollte an keine Wunder mehr glauben. In dieser Stunde, da er sie, seiner letzten Lebenstage mildleuchtende Blüte tot sah, neben seinem zerschmetterten Bilde war die gläubig klingende Saite seiner Seele zerbrochen. |
1848 |
Und dieses innerste Gesetz, diese Charakterformation in ihrer verborgenen Einheit darzustellen ist der wesentliche Versuch meines Buches, dessen ungeschriebener Untertitel lauten könnte: Psychologie des Romanciers. Jeder dieser drei Romanschriftsteller hat seine eigene Sphäre. |
1849 |
Den Trieb, immer nur das Ganze zu wollen, nie ein Einzelnes, die ganze Weltfülle gierig zu erstreben, diesen fieberhaften Ehrgeiz hat vorerst das Beispiel Napoleons an ihm verschuldet. Dieser ungeheure Weltwille weiß noch nicht sofort seinen Weg. Balzac entscheidet sich zunächst für keinen Beruf. |
1850 |
So blieb die Kunst. Balzac beginnt zu schreiben. Aber nicht wie die anderen, um Geld zu raffen, zu amüsieren, ein Bücherregal zu füllen, ein Boulevardgespräch zu sein: ihn lüstet nicht nach einem Marschallstab in der Literatur, sondern nach der Kaiserkrone. In einer Mansarde fängt er an. |
1851 |
Unzufrieden mit dem Erfolg, unbefriedigt vom Gelingen, wirft er dann das Handwerk hin, dient drei, vier Jahre lang anderen Berufen, sitzt als Schreiber in der Stube eines Notars, beobachtet, sieht, genießt, dringt mit seinem Blick in die Welt, und dann fängt er noch einmal an. |
1852 |
Jetzt aber mit jenem ungeheuren Willen auf das Ganze hinzielend, mit jener gigantischen fanatischen Gier, die das Einzelne, die Erscheinung, das Phänomen, das Losgerissene mißachtet, um nur das in großen Schwingungen Kreisende zu umfassen, das geheimnisvolle Räderwerk der Urtriebe zu belauschen. |
1853 |
Dort ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine Armee, strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige, unklare Energie, und hier, im engen Raume prallen sie aufeinander wie Geschosse, vernichten sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund. |
1854 |
Alles fließt ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei. Ein so unbegrenzter Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer an den Ereignissen sich formen lassen, sich modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals. |
1855 |
Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des bewußten Lebenswillens nicht in ihrer Wirkung, sondern in ihrem Wesen zu schildern, ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. |
1856 |
Ihm ist bewußt, daß die Eugenie Grandet, das sentimentale Provinzmädel, in dem Augenblicke, wo sie, erzitternd vor dem geizigen Vater, ihrem Vetter die Geldbörse schenkt, nicht minder tapfer ist als die Jeanne d'Arc, deren Marmorbild auf jedem Marktplatze Frankreichs leuchtet. |
1857 |
Ein Traumbild der Welt, ein jedes Symbol ist eifersüchtig wie Jehova und duldet keine anderen Leidenschaften neben sich. Und von diesen Leidenschaften ist keine größer und keine geringer, sie haben ebensowenig eine Rangordnung wie Landschaften oder Träume. Keine ist zu gering. |
1858 |
Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen, wie er sie in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht, in allen seinen Träumen zurückgestoßen von einer rücksichtslosen Welt, die den Anfänger nicht mag und den Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich selbst ein Symbol der Welt. |
1859 |
Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als ein Mittel zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil er sie ersetzte. |
1860 |
Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte. Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den Genüssen seiner Kreaturen. |
1861 |
Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer, mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen, um sich Geld auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner Angel, deren Schmerz, Lust und Qual er nur prüfend mitansah als das mehr oder minder talentvolle Sichgebärden von Schauspielern. |
1862 |
Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu können. |
1863 |
Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. |
1864 |
Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand. Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist das Genie Balzacs. |
1865 |
Denn wirklich, hier ist eine Kraft, so grandios und so groß, daß sie wie die freiesten Tiere des Urwaldes der Zähmung widerstrebt, sie ist schön wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein Gewitter, wie alle jene Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der Intensität ihres Ausdrucks besteht. |
1866 |
Daß alles Relativitäten sind, daß, was in Paris Tugend genannt wird, hinter den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte vorhanden seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt so werten müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt: daß sie immer wert sei, was sie ihn koste. |
1867 |
Für ihn gab es zweierlei Begehrende (und wie gesagt, nur die Begehrenden, die Ambitiösen haben ihn interessiert): die Erotiker im eigentlichen Sinne, ein paar Männer also und fast alle Frauen, deren Sternbild einzig die Liebe ist, die unter ihm geboren werden und zugrunde gehen. |
1868 |
Sie kennen die Katastrophen, verachtet zu werden um einer unmodischen Weste willen, sie haben bald heraus, daß nur Geld oder der Schein des Geldes die Türen sprengt, und aus diesen kleinen unablässigen Demütigungen wachsen dann die großen Leidenschaften und die zähe Ambition. |
1869 |
Da Geld der materielle Niederschlag des universellen Ehrgeizes war, da es eindrang in alle Gefühle, so mußte er, der Pathologe des sozialen Lebens, um die Krisen des kranken Leibes zu erkennen, die Mikroskopie des Blutes unternehmen, den Geldgehalt desselben gewissermaßen feststellen. |
1870 |
Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. |
1871 |
Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. |
1872 |
Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. |
1873 |
Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. |
1874 |
Die gefährlichste, weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. |
1875 |
Dickens hat sichs behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder ästhetische Grenze Englands überschritten. |
1876 |
Auch Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. |
1877 |
Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. |
1878 |
Shakespeare war die Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. |
1879 |
Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. |
1880 |
Er war nach einer langen trüben Kindheit Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal versucht, kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um sein Einkommen zu vermehren als aus impulsivem dichterischen Bedürfnis. Der erste Versuch gelang, die Zeitung verpflichtete ihn. |
1881 |
Und diese hunderttausend Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste gewoben, hielten ihn nun fest an der englischen Erde, bis er kapitulierte, innerlich gelobte, die ästhetischen und moralischen Gesetze seiner Heimat nie zu übertreten. |
1882 |
Beide wollten sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben, der Urwille des großen Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach seinem eigenen Dünken zu erschaffen. |
1883 |
Er war einmal ein ganz armer, vom Schicksal vergessener, von der Welt verschüchterter Knabe gewesen, dem erbärmliche Berufe die Jugend verzettelt hatten. Damals hatte er bunte farbige Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen in eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung. |
1884 |
Später hatte ihm das Leben dann alles gewährt, und er wußte es nicht mehr anzuklagen: aber die Kindheit rief in ihm um Rache. Und die einzige moralische Absicht, der innere Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu helfen: hier wollte er die zeitgenössische Lebensordnung verbessern. |
1885 |
Ein Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt vor ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts ist ihm genug, unersättlich sind sie alle, jeder ein Welteroberer, ein Umstürzler, ein Anarchist und ein Tyrann zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament. |
1886 |
Tausenden und Millionen hat er gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut. Helfen wollte er den Armen und den Kindern. |
1887 |
Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. |
1888 |
Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. |
1889 |
Seine Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert durch Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten und feinsten, die eben nur einem dichterisch scharfen Auge sichtbar sind. Wie die englischen Philosophen, beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen. |
1890 |
Die unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des Seelischen fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig karikaturistische Optik den ganzen Charakter augenfällig. Aus Merkmalen läßt er die Spezies erkennen. Dem Schullehrer Creakle gibt er eine leise Stimme, die mühsam das Wort gewinnt. |
1891 |
Seine Menschen sind immer eindeutig, entweder vortrefflich als Helden oder niederträchtig als Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein über der Stirne oder dem Brandmal. Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen pendelt seine Welt. |
1892 |
Noch heute duldet der Engländer kein Drama, das ihn nicht am Ende mit der Beruhigung entläßt, alles in dieser Welt sei in schönster Ordnung. Und diese echt englische Hypertrophie des moralischen Sinnes hat Dickens' grandioseste Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert. |
1893 |
Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller der Libertin. |
1894 |
Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können, wie sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft, dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren hinrettend bis ins Verscheiden. |
1895 |
Wollte man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich sein. |
1896 |
In allen seinen Romanen ist einer dieser sanften Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz unverständliches, aber schönes Spiel. |
1897 |
Wenn ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren, nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen, die reine Wahrheit mit der englischen Lüge. |
1898 |
Sie war ihm zu lieb für die wirkliche Welt. Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon, eine bürgerlich bescheidene, ein müdes, sattes England, ein enger Ausschnitt der ungeheuren Möglichkeiten des Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur reich werden durch ein großes Gefühl. |
1899 |
Er hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes, nichts von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und Hände. |
1900 |
Er ist. Seine Existenz ist absichtslos und selbstverständlich; der Schalk steckt schon in jener merkwürdigen Augenstellung Dickens', verschnörkelt und übertreibt dort die Gestalten, gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen wurden. |
1901 |
Unerschütterlich ist dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er ließ sich nicht verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not und Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben. |
1902 |
Und so wird auch Dickens immer wieder aus seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn Menschen der Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den tragischen Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leisern Dingen die geisterhafte Musik des Dichterischen werden vernehmen wollen. |
1903 |
Mutlos wird der Sinn, diese Welt jemals restlos zu durchdringen: zu fremd ist erster Erkenntnis ihre Magie, zu weit ins Unendliche verwölkt ihr Gedanke, zu fremd ihre Botschaft, als daß die Seele unvermittelt aufschauen könnte in diesen neuen wie in heimatlichen Himmel. |
1904 |
Aber wie weit und wie labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten Herzen des Gewaltigen; machtvoll in seiner Weite, schreckhaft durch seine Ferne, wird dies einzige Werk in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir von seiner unendlichen Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen suchen. |
1905 |
Denn je tiefer wir uns in ihn versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah. Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm, der oder keiner das letzte Maß aller Menschlichkeit gewesen. |
1906 |
Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom Reigen der Gefühle auf, dem sich zögernd Scheu und dann leidenschaftlich, in wachsender Bezauberung, Bewunderung gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die fleischliche, seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen naturhaften Trauer. |
1907 |
Alles Licht strömt in diesem Antlitz nach oben, und blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige, königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in Krankheit vergrämt und vergeht. |
1908 |
Denn nichts mißt es dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends ähnelt sein Lebensgang dem gut gepflasterten breiten Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finstern Schicksalsgottes Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen. |
1909 |
Ewig muß er mit dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen Gott empören und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn sicher werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren, der ihn straft, weil er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er rasten im Glück, damit sein Weg bis ins Unendliche gehe. |
1910 |
Niemals hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern. |
1911 |
Zwei Tage vergehen ohne Antwort. Einsam grüblerisch sitzt er nachts zu Hause, arbeitet, bis die Lampe verqualmt. Plötzlich um vier Uhr morgens wird heftig an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem erstaunt Öffnenden, stürzt Nekrasoff in die Arme, umhalst, küßt ihn und jubelt ihm zu. |
1912 |
Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und schon plant er einen neuen Roman. Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen lerne in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, der ihn liebt, seine Prüfung. |
1913 |
Nur seine Lebenslust bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers die heiße Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß er in Sibirien verbleiben, halbfrei und ohne die Verstattung, eine Zeile zu veröffentlichen. |
1914 |
Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert. Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet: Es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter des Exils und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. |
1915 |
Noch wehrt er sich verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert, druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist stärker als er. Wie ein Verbrecher flüchtet er vor seinen Gläubigern eines Nachts hinaus in die Welt. |
1916 |
Aber immer in Dresden, wenn ich durch die Straßen gehe, vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus, so faßt michs an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen kleinen sächsischen Krämern und Handlangern, oben im vierten Stock, einsam, unendlich einsam in dieser fremden Geschäftigkeit. |
1917 |
Nur im Bankhaus kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den Schalter kommt und mit vor Erregung zitternder Stimme fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach in Worten vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt. |
1918 |
Das Herz krampft sich zusammen, liest man die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe dieses Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen fünfmal den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die keuchen, heulen und winseln für eine erbärmliche Handvoll Geld. |
1919 |
Der Polizeipräsident will das öffentliche Leichenbegängnis verbieten, bei dem die Studenten die Ketten des Sträflings hinter seinem Sarge zu tragen planen, aber er wagt es schließlich nicht gegen eine Begeisterung, die sonst mit Waffen sich die Teilnahme erzwungen hätte. |
1920 |
Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu, alle Kontraste dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander; es tut ihm weh, das Leben, weil es ihn liebt, und er liebt es, weil es ihn so stark faßt, denn im Leiden erkennt dieser Wissendste die stärkste Möglichkeit des Gefühls. |
1921 |
Wilde wird gezüchtigt wie ein Knecht, weil er sich wehrt, Dostojewski triumphiert über sein Schicksal durch Liebe zu seinem Schicksal. Solch ein Umwandler seiner Heimsuchungen ist Dostojewski, solch ein Umwerter aller Erniedrigungen, daß nur ein härtestes Schicksal ihm gemäß war. |
1922 |
Ohne Beispiel vor allem der Triumph geistiger Lebenskraft über einen siechen, gebrestigen Körper. Vergessen wir nicht, daß Dostojewski ein Kranker war, daß dieses eherne unvergängliche Werk aus geborstenen hinfälligen Gliedern, aus zuckenden und glühend flackernden Nerven gewonnen ist. |
1923 |
Das ist aber nicht wahr, er lügt nicht. Sicher war er im Paradies während eines epileptischen Anfalls, einer Krankheit, an der er wie ich selber litt. Ich weiß nie, ob diese Wonnesekunde Stunden dauert, aber glaubt mir, alle Freude des Lebens möchte ich nicht dafür eintauschen. |
1924 |
Auf der Kippe zwischen Tod und Wahnsinn, nachtwandlerisch sicher, steigt sein Schaffen noch gewaltig empor, und aus diesem ständigen Sterben erwächst dem ewig Auferstandenen jene dämonische Kraft, das Leben gierig zu umklammern, um ihm sein Höchstes an Gewalt und Leidenschaft zu entpressen. |
1925 |
Dostojewski aber, leidenschaftlich in seinem Dualismus wie in allem, was ihm vom Leben zugefallen, will nicht empor zur Harmonie, die für ihn Starre ist, er bindet nicht seine Gegensätze ins Göttlich-Harmonische, sondern spannt sie auseinander zu Gott und Teufel und hat dazwischen die Welt. |
1926 |
Was Keim in ihm war, das Gute und das Schlechte, das Gefährliche und das Fördernde, muß empor, alles wird an seiner tropischen Leidenschaft Blüte und Frucht. Wild läßt er sein Laster aufwuchern, ungehemmt seine Instinkte, selbst die verbrecherischen, hinein ins Leben jagen. |
1927 |
Tolstois Leben ist darum didaktisch, ein Lehrbuch, ein Pamphlet, das Dostojewskis ein Kunstwerk, eine Tragödie, ein Schicksal. Er handelt nicht zweckmäßig, nicht bewußt, er prüft sich nicht, er verstärkt sich nur. Tolstoi klagt sich aller Todsünden an, laut und vor allem Volke. |
1928 |
Denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit. Nie wollte er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags, einzig sich selbst noch konzentrierter, intensiver, und darum biegt er nie inneren und äußeren Gefahren aus, sind sie doch Möglichkeiten der Sensation, Entzündungen des Nervs. |
1929 |
Er will nicht wie Goethe zum Kristall erstarren, kalt mit hundert Flächen das bewegte Chaos spiegelnd, sondern Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz. |
1930 |
Ihre Formen sind noch nicht ausgekühlt, ihr Gestein nicht geschichtet, ihre Physiognomien nicht geglättet. Ewig unvollendet sind sie und darum doppelt lebendig. Denn der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der abgeschlossene, und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche hinaus. |
1931 |
Sie sind charakterologisch klassifizierbar, diese Helden, denn eine einzige Feder des Antriebs ist ihrer Seele eingebaut, die sie mit einem bestimmten Maß von Energie durch die menschliche Gesellschaft treibt: wie ein Geschoß schleudert sie jeden dieser Jünglinge mitten ins Leben hinein. |
1932 |
Das Leben versöhnt sich dem Ideal; nicht mehr verschwenderisch wirr, sondern zu höchstem Ziel gespart wirken die nun geordneten Kräfte. Die Helden Goethes und aller Deutschen verwirklichen sich zu ihrer höchsten Form, sie werden werktätig und tüchtig: sie erlernen an Erfahrungen das Leben. |
1933 |
Das Untüchtige ihres Wesens läßt sie zuerst als müßige und phantastische Träumer erscheinen, aber ihr Blick scheint nur leer, weil er nicht nach außen starrt, er zielt mit Glut und Feuer immer nur zurück in sich selbst, in die eigene Existenz. Der russische Mensch geht auf das Ganze. |
1934 |
Von der alten Kultur, vom Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch nicht vertraut, stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und die Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes. Wir Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in einem warmen Haus. |
1935 |
Daß sie nicht wissen, ob sie viel sind oder wenig. Ewig stehen sie auf der Kippe von Stolz oder Zerknirschung, von Selbstüberschätzung und Selbstverachtung, ewig blicken sie sich um nach den anderen, und alle sind sie verzehrt von der rasenden Angst, lächerlich zu sein. |
1936 |
Daß, wo wir träge wurden in unserer Bildung, andere noch glühend sind. Jeder einzelne revidiert bei Dostojewski noch einmal alle Probleme, rückt sich selbst mit blutenden Händen die Grenzsteine von Gut und Böse, jeder einzelne schafft sich sein Chaos wieder um zur Welt. |
1937 |
Irgendeiner, ein schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein kleiner Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In seinem Stolz gekränkt durch ein Wort, eine Nichtigkeit vielleicht. Diese erste Kränkung ist der Primäraffekt, der den ganzen Organismus in Aufruhr bringt. |
1938 |
Nur scheinbar, sagte ich, ist darum die Summe des Leidens größer bei Dostojewski als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es eine Welt gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund noch ein Weg führt, aus jedem Unglück noch Ekstase, aus jeder Verzweiflung noch Hoffnung, so ist es die seine. |
1939 |
Und ich möchte versuchen, die Geschichte aller Naturen Dostojewskis in einer zu erzählen, als seinen Mythos; denn alle diese verschiedenartigen, hundertfach variierten Menschen haben im letzten nur ein einheitliches Schicksal. Alle leben sie Varianten eines einzigen Erlebnisses: der Menschwerdung. |
1940 |
In den Jahren der Pubertät, des sinnlichen und geistigen Erwachens, verdüstert sich ihnen der heitere und freie Sinn. Dumpf fühlen sie in sich eine Kraft gären, ein geheimnisvolles Drängen; irgend etwas Eingesperrtes, Wachsendes und Quellendes will aus ihrem noch unmündigen Kleid. |
1941 |
Jahrelang brüten sie oft dahin in dieser seltsamen Ataraxie, sie verharren in einem fast buddhistischen Zustand der Seelenstarre, sie beugen sich tief über den eigenen Leib, um wie die Frauen in den frühen Monaten das Klopfen dieses zweiten Herzens in sich zu erlauschen. |
1942 |
Andere wieder suchen dieses geheimnisvolle Keimen, diesen drängenden gärenden Lebensschmerz mit aufgepeitschten Sinnen zu überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen die Frucht abzutreiben, wie Frauen von Treppen springen oder durch Tanz und Gifte sich vom Unerwünschten zu befreien trachten. |
1943 |
Sie wollen wissen, wer sie sind; darum suchen sie die Grenze. Den äußersten Rand ihres Ich wollen sie in Überhitzung und Abkaltung kennen und vor allem die eigene Tiefe. Sie glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie sinken bis zum Tier hinab, aber immer, um den Menschen in sich zu fixieren. |
1944 |
Aber je weiter hinein sie in der Übertreibung der Sinnlichkeit und des Denkens rasen, um so näher sind sie schon sich selbst, und je mehr sie sich vernichten wollen, um so eher sind sie zurückgewonnen. Ihre traurigen Bacchanale sind nur Zuckungen, ihre Verbrechen die Krämpfe der Selbstgeburt. |
1945 |
Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale um den innern Menschen und ist Selbstrettung im höchsten Sinn. Je mehr sie sich anspannen, je mehr sie sich krümmen und winden, um so mehr befördern sie unbewußt die Geburt. Denn nur im brennendsten Schmerz kann das neue Wesen zur Welt kommen. |
1946 |
Dies also ist der menschliche Mythos Dostojewskis, daß das gemischte, dumpfe, vielfältige Ich jedes einzelnen befruchtet ist mit dem Keim des wahren Menschen (jenes Urmenschen der mittelalterlichen Weltanschauung, der frei ist von der Erbsünde), des elementaren, rein göttlichen Wesens. |
1947 |
Die Umkrustung der seelischen Hemmung zerbricht, die Seele, die Allmenschenseele strömt aus, strömt ins Unendliche zurück. Alles Persönliche, alles Individuelle ist in ihnen abgetan, daher auch die absolute Ähnlichkeit all dieser Gestalten im Augenblick ihrer Vollendung. |
1948 |
Die Gemeinschaft, die der Held Dostojewskis anstrebt, ist keine soziale mehr, sondern schon eine religiöse, er sucht nicht Gesellschaft, sondern Weltbruderschaft. Und dies Hingelangen zur eigenen Innerlichkeit und damit zur mystischen Gemeinsamkeit ist die einzige Hierarchie in seinem Werk. |
1949 |
Nur das entscheidet bei Dostojewski: wie weit einer wahr wird und zum wirklichen Menschentum gelangt. Wie diese Entsühnung, diese Selbstgewinnung zustande kam, ist gleichgültig. Keine Ausschweifung beschmutzt, kein Verbrechen verdirbt, es gibt kein Tribunal vor Gott als das Gewissen. |
1950 |
Seine wahren Menschen haben gelitten, haben darum Ehrfurcht vor dem Leiden und damit das letzte Geheimnis der Erde. Wer leidet, ist durch Mitleid schon Bruder, und allen seinen Menschen ist, weil sie nur auf den innern Menschen, auf den Bruder blicken, das Grauen fremd. |
1951 |
Noch hadern sie oft mitsammen, noch quälen sie sich, weil sie sich ihrer eigenen Liebe schämen, weil sie die eigene Demut für eine Schwäche halten und noch nicht ahnen, daß sie die furchtbarste Kraft der Menschheit ist. Aber ihre innere Stimme weiß immer schon um die Wahrheit. |
1952 |
Als heißer Halluzinant starrt er nieder in die Tiefe des Lebens wie in einen dämonischen Angsttraum. Aber doch, seine sprunghafte Vision ist vollkommener als jener geordnete Betrachtung. Er sammelt nicht, und hat doch alles. Er berechnet nicht, und doch ist sein Maß unfehlbar. |
1953 |
Zola nimmt, ehe er zu arbeiten anfängt, ein ganzes Bordereau von seinen Figuren auf, er verfaßt (man kann sie heute noch nachsehen, diese merkwürdigen Dokumente) einen regelrechten Steckbrief, einen Passierschein für jeden Menschen, der die Schwelle des Romanes übertritt. |
1954 |
Erst wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das Werk, sie zu formen. Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung. In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. |
1955 |
Man sieht nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. |
1956 |
Nicht die feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort, wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. |
1957 |
Er muß seine Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski in seiner genialen Analyse der beiden russischen Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen, bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. |
1958 |
In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu fassen. |
1959 |
Die Weltliteratur kennt keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig, jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton die Notwendigkeit selbst. |
1960 |
Und dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles, in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. |
1961 |
Diese kleinen realistischen Details bei Dostojewski, die sich wie spitze Angelhaken ins Gefühl einbohren und widerstandslos mit ins fremde Erleben reißen, sie sind sein erlesenstes Kunstmittel und gleichzeitig der höchste Triumph des intuitiven Realismus über den programmatischen Naturalismus. |
1962 |
Er setzt ein einziges ein, wo andere Hunderte applizieren, aber er spart sich diese kleinen grausamen Einzelheiten der letzten Wahrheit mit einem wollüstigen Raffinement auf, er überrascht mit ihnen gerade im Augenblick der höchsten Ekstase, wo man sie am wenigsten erwartet. |
1963 |
Man spürt, diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen, wie sie einander gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie entzweite. Und dann kommt das Gespräch – und alle Himmel sind zerschlagen von der nackten, brutalen, brennend irdischen, teuflisch geistigen Sachlichkeit. |
1964 |
Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen, die satanischen nenne, weil hier der Realismus mehr ist als ein bloßer Kunstgriff der Technik, weil er eine metaphysische Rache ist, Ausbruch geheimnisvoller Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung. |
1965 |
Nie gerät man darum bei den Romanen Dostojewskis zur Rast, nie in die sanfte, musikalische Rhythmik des Lesens, nie läßt er einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man wie unter elektrischen Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender, unruhiger, neugieriger von Seite zu Seite. |
1966 |
Für mich ist die Tragödie der Karamasoffs nicht geringer als die Verstrickungen der Orestie, die Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes Werk. Sie alle, diese Werke, sind sogar einfältiger, schlichter, weniger erkenntnisreich, weniger zukunftsträchtig als die Dostojewskis. |
1967 |
Seine, Dostojewskis, Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem Sturz der Jahreszeiten. |
1968 |
Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen. |
1969 |
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. |
1970 |
Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. |
1971 |
Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. |
1972 |
Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. |
1973 |
Alle Kunst braucht die Unruhe als Antrieb der Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte Ruhe der Auswägung zu einer Vollendung. Dostojewskis mächtiger, die Wirklichkeit diamanten durchdringender Geist weiß nun wohl um die marmorne, eherne Kühle, die das große Kunstwerk umwittert. |
1974 |
Vergebens sucht Dostojewski als Künstler objektiv zu schaffen, außen zu bleiben, bloß zu erzählen und zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von Geschehnissen, Analytiker der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine Leidenschaft in Leiden und Mitleiden immer wieder in die eigene Welt. |
1975 |
Und erst, wenn unsere Pulse jagen wie die seinen, wir selbst der dämonischen Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört sein Werk ganz uns, gehören wir ihm ganz. Dostojewski will eben nur angespannte, gesteigerte Menschen als Mitempfinder seiner Epik, so wie er sie als seine Helden wählt. |
1976 |
Die Leihbibliothekskonsumenten, die behaglichen Flaneure des Lesens, die Spaziergänger auf den Bürgersteigen ausgetretener Probleme, müssen auf ihn und er auf sie verzichten. Nur der brennende Mensch, der leidenschaftlich entzündete, der glühende im Gefühl, findet hinab in seine wahre Sphäre. |
1977 |
Dickens oder Gottfried Keller, seine Zeitgenossen, führen mit sanfter Überredung, mit musikalischer Lockung den Leser in ihre Welt, sie plaudern ihn freundlich ins Geschehnis hinein, sie reizen nur die Neugier, die Phantasie, nicht aber wie Dostojewski das ganze aufschäumende Herz. |
1978 |
Erst wenn die Spannung unerträglich geworden ist, zerreißt Dostojewski das epische Geheimnis und löst das zerspannte Gefühl in weiche, flutende, tränenfeuchte Empfindung. So feindlich, so wollüstig, so raffiniert leidenschaftlich umstellt, umfaßt Dostojewski seine Leser. |
1979 |
Nicht im Ringkampf zwingt er sie nieder, sondern wie ein Mörder, der stundenlang und stundenlang sein Opfer umkreist, durchstößt er einem dann plötzlich mit einer spitzen Sekunde das Herz. So leidenschaftlich ist er im eigenen Aufruhr, daß man zweifelt, ihn noch einen Epiker nennen zu dürfen. |
1980 |
Wer aber den Kontakt zündet (zum Beispiel, wer von den vielen, die alle innerlich von den Gedanken vergiftet sind, den Fedor Karamasoff tötet), das ist mit einer unerhörten Kunst verborgen bis zum letzten Augenblick, denn Dostojewski, der alles ahnen läßt, verrät nichts von seinem Geheimnis. |
1981 |
Man fühlt nur immer das Schicksal wie einen Maulwurf unter der Fläche des Lebens wühlen, fühlt, wie sich bis hart unter unser Herz die Mine vorschiebt, und vergeht, verzehrt sich in unendlicher Spannung bis zu den kleinen Sekunden, die wie ein Blitz die Schwüle der Atmosphäre zerschneiden. |
1982 |
Etwas Stromhaftes ist ihnen allen zu eigen, langsam wogend rollen sie ungeheuere Mengen des Lebens heran. Auf ihren Tausenden und Tausenden Seiten schwemmen sie, gelegentlich die Ufer des künstlerischen Gestaltens übertretend, viel politisches Geröll und polemisches Gestein mit sich fort. |
1983 |
Schon scheinen sie zu versiegen. In stockendem Lauf winden sich mühsam durch Krümmungen und Wirrungen die Geschehnisse weiter, die Flut stagniert an den Sandbänken der Gespräche für Stunden, bis sie wieder dann die eigene Tiefe und den Schwung ihrer Leidenschaft findet. |
1984 |
Aber dann, in der Nähe des Meeres, der Unendlichkeit, kommen plötzlich jene unerhörten Stellen der Stromschnelle, wo sich die breite Erzählung zum Wirbel zusammenballt, die Seiten gleichsam fliegen, das Tempo beängstigend wird, die Seele mitgerissen in den Abgrund des Gefühls hinpfeilt. |
1985 |
Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken der Niederstürze verliert plötzlich der Roman Dostojewskis auch seinen erzählerischen Charakter. Die dünne epische Umschalung schmilzt ab in der Hitze des Gefühls und verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende Dialog. |
1986 |
Die großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte dramatische Dialoge. Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen oder fortzulassen, auf die Bühne pflanzen, so festgezimmert ist jede einzelne Figur, so zur dramatischen Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende Gehalt der großen Romane. |
1987 |
Aber hier hat sich erwiesen, wie kläglich solche Versuche scheitern, Figuren Dostojewskis von außen, von ihrer Körperlichkeit und ihrem Schicksal zu fassen, sie aus ihrer Sphäre, der Seelenwelt, zu heben und von der gewitternden Atmosphäre der rhythmischen Reizbarkeit abzulösen. |
1988 |
Denn die kleinen, flüchtigen, gelegentlichen Andeutungen, die ganz zufällig und überflüssig scheinen, sie haben Erwiderung hundert und hundert Seiten später. Unter der Oberfläche der Erzählung laufen solche Leitungen verborgener Kontakte, die Meldungen weitertragen, geheimnisvolle Reflexe tauschen. |
1989 |
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß diese Romane an sich alle vollendete Kunstwerke wären, ja sie sind es viel weniger als manche ärmere Werke, die engere Kreise ziehen und sich mit Schlichterem bescheiden. Der Maßlose kann das Ewige erreichen, aber nicht nachbilden. |
1990 |
Dostojewski hat bis zur letzten Stunde die Feder nicht gelassen, aber was er gestaltet, ist längst nicht mehr ein Kunstwerk im irdischen engen Sinne, sondern das Evangelium des Dritten Reiches, irgendein Mythus der neuen russischen Welt, eine apokalyptische Verkündung, dunkel und rätselhaft. |
1991 |
Tradition ist steinerne Grenze von Vergangenheiten um die Gegenwart: wer ins Zukünftige will, muß sie überschreiten. Denn die Natur will kein Innehalten im Erkennen. Zwar scheint sie Ordnung zu fordern und liebt doch nur den, der sie zerstört um einer neuen Ordnung willen. |
1992 |
Ohne diese kühnen Überschreiter wäre die Menschheit in sich gefangen, ihre Entwicklung ein Kreisgang. Ohne diese großen Boten, in denen sie sich gleichsam selbst vorauseilt, wäre jede Generation unkund ihres Weges. Ohne diese großen Träumer wüßte die Menschheit nicht um ihren tiefsten Sinn. |
1993 |
Und unmöglich ist es fast, alle seine Taten aufzuzählen, die Wanderungen über die eisigen Grate des Gedankens, die Niederstiege zu den verborgensten Quellen des Unbewußten, die Aufstiege, die gleichsam traumwandlerischen Aufstiege zu den schwindelnden Gipfeln des Selbsterkennens. |
1994 |
Ohne ihn, den großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein. Die erste Grenze, die Dostojewski durchstieß, die erste Ferne, die er uns auftat, war Rußland. |
1995 |
Puschkin (der uns ja schlecht zugänglich ist, weil sein poetisches Medium in jeder Übertragung die elektrische Kraft verliert) hat uns nur die russische Aristokratie gezeigt, Tolstoi wiederum den einfachen, patriarchalischen bäurischen Menschen, die Wesen der alten, abgeteilten, abgelebten Welt. |
1996 |
Erst er entzündet uns die Seele mit der Verkündung neuer Möglichkeiten, erst er entflammt den Genius dieser neuen Nation und läßt uns fast sehnsüchtig werden, daß dieser glühende Tropfen Weltkindheit und Seelenanfang seines Russenvolkes in die müde, stagnierende Welt des alten Europa einglühe. |
1997 |
Hier ist zum ersten Male im Sinne der neuen Psychologie der Wille durch Hemmungen gebrochen, der Spiegel der Selbstbetrachtung in die Seele selbst gestellt, der um sich selbst wissende Mensch gestaltet, der zwiefach lebt, außen und innen zugleich, im Handeln denkend, im Denken sich verwirklichend. |
1998 |
Die kühnsten Seelenanalysen aller Dichter vor ihm scheinen irgendwie oberflächenhaft neben seinen Differenzierungen, sie wirken, wie etwa ein Lehrbuch der Elektrotechnik wirken mag, das 30 Jahre alt ist, in dem eben nur die Anfangsgründe angedeutet und das Wesentliche noch nicht einmal geahnt ist. |
1999 |
Ich will nur erinnern an Katerina Iwanowna. Sie sieht Dimitri auf einem Ball, er läßt sich ihr vorstellen, er beleidigt sie, und sie haßt ihn. Er nimmt Rache, er erniedrigt sie, – und sie liebt ihn, oder eigentlich sie liebt nicht ihn, sondern die Erniedrigung, die er ihr zugefügt. |
2000 |
Und dieser Haß fährt los auf sein Leben und zerstört es, und in dem Augenblick, wo sie es zerstört hat, wo gleichsam ihre Aufopferung sich als Lüge offenbart, ihre Erniedrigung gerächt ist, – liebt sie ihn wieder! So kompliziert ist bei Dostojewski ein Liebesverhältnis. |
2001 |
Aber doch: irgend etwas bleibt auch dann noch wach in ihm und schmilzt nicht hin im Seelenbrand. Während er schon ganz aufgelöst scheint, ganz überirdische Trunkenheit, bleibt jener grausame Geist der Analyse mißtrauisch auf der Lauer und mißt das Meer aus, in das er versinken will. |
2002 |
Wie von den alten rauchgeschwärzten Ikonen starren fremde stechende Augen uns an, Inbrunst, unendliche Inbrunst in sich, aber auch Haß und Härte. Und furchtbar ist Dostojewski selbst, wenn er diese russische Erlösungsbotschaft uns Europäern wie verlorenen Heiden kündet. |
2003 |
Ein Bilderstürmer, ein rasender Ikonoklast, fällt er her über die Heiligtümer der europäischen Kultur. Alles stampft er nieder, der große Tobsüchtige, von unseren Idealen, um seinem neuen, dem russischen Christus, den Weg zu bereiten. Bis zum Irrwitz schäumt seine moskowitische Unduldsamkeit. |
2004 |
Wie immer bei Dostojewski: beides zugleich. Vergeblich, von einem Leidenschaftlichen Logik zu verlangen und von einem Dogma seine Begründung. In den messianischen Schriften Dostojewskis, den politischen, den literarischen Werken, taumeln die Begriffe wie rasend durcheinander. |
2005 |
Ein unorganischer Auswuchs der großen Gestalt scheint dieser Fanatiker seiner Rasse zuerst, dieser mitleidlose ekstatische russische Mönch, dieser hochmütige Pamphletist, dieser unwahrhaftige Bekenner. Aber gerade er ist notwendig für die Einheit von Dostojewskis Persönlichkeit. |
2006 |
Aus dem Nein zu sich selbst schafft er das Ja, das leidenschaftliche zur neuen Menschheit. Bis ins Körperliche hinein setzt sich diese beispiellose moralische Verurteilung seines Selbst zugunsten des zukünftigen Wesens fort, die Vernichtung des Ichmenschen um des Allmenschen willen. |
2007 |
Und bis ins Kleinste wird hier jede Linie Gegensatz sagen und Kontrast zu ihm selbst. Dostojewskis Gesicht ist düster, erfüllt von Geheimnissen und Dunkelheit, jener Antlitz ist heiter und von friedlicher Offenheit, seine Stimme heiser und abrupt, die jener Menschen sanft und leise. |
2008 |
Seit Genua war keine Nacht an Bord so still; seit Stunden kein Geräusch als das leise Rollen eines Eisenbahnzuges von Kairo, der auf dem langen öden Damm auftauchte, in gespenstischer Nachbarschaft vorüberschnob und wunderlich im Röhricht der weiten kahlen Landschaft verschwand. |
2009 |
Er kann das ganze Shi-King auswendig, er hat alle chinesischen Examina gemacht und jetzt auch noch einige englische, er spricht über das Mondlicht über dem Wasser zart und nett in geläufigem Englisch und macht mir Komplimente über die schönen Landschaften Deutschlands und der Schweiz. |
2010 |
Wir wissen alle, daß in China gerade in diesen Tagen die große Revolution neu beginnt, die vielleicht dem Kaiser den Kopf kosten wird, und unser kleiner feiner Mann aus Schanghai weiß sicher weit mehr als wir und ist vielleicht gar nicht zufällig gerade jetzt unterwegs. |
2011 |
Aber er ist still und arglos wie ein Berggipfel in der Sonne und strahlt in seiner höflich verschanzten Heiterkeit alle irgend unbequemen Fragen mit einer gewinnenden Sonnigkeit zurück, die uns alle verwirrt und mich entzückt. Am Ufer erscheint ein lichter kleiner Fleck. |
2012 |
Es ist ein weißer Hund, er läuft eine kleine Strecke weit den Strand entlang, streckt den mageren Hals lang aus und schaut zu uns herüber. Aber er bellt nicht. Er schaut eine Weile scheu und still herüber, riecht am trüben Wasser und trabt lautlos davon, immer der schnurgeraden Uferlinie nach. |
2013 |
Ein englischer Beamter aus Ceylon tritt zu uns. Wir stehen lange und sehen ins tote Wasser, der Mond beginnt schon wieder zu sinken. Ich habe das Gefühl, ich sei seit Jahren von der Heimat fort. Nichts spricht zu mir, nichts ist mir nah und lieb, nichts tröstet mich als unser gutes Schiff. |
2014 |
Die rotbraunen und gelben Segel vieler Dschunken, gebaut wie starksehnige Drachenflügel, leuchteten im letzten Tageslicht, dahinter der weiße Sandstreifen des Penangstrandes, die blauen siamesischen Berge und alle die winzigen, dick bewaldeten Koralleninselchen der wundervollen Bucht. |
2015 |
Inzwischen war eine tiefe, schwarze Nacht ohne Sterne heraufgekommen, die großen unbekannten Bäume rauschten wohlig im lauen, schweren Winde, und große unbekannte Käfer, Zikaden und Hummeln sangen, schwirrten und schrien überall heftig mit den scharfen eigenwilligen Stimmen junger Vögel. |
2016 |
Ohne Hut und in leichten Schlafschuhen trat ich auf die breite Straße hinaus, rief einen Rikschamann heran, stieg mit frohem Abenteuergefühl in den leichten Wagen und sprach mit Kaltblütigkeit meine ersten malayischen Worte, welche der flinke, starke Kuli so wenig verstand wie ich die seinen. |
2017 |
Was uns dabei stört, ist der allzu reichliche Gebrauch von Pauke und Gong; im übrigen ist diese Musik so fein und klingt abends von der Veranda eines festlichen Hauses so lebensfroh und oft so leidenschaftlich, lustbegierig, wie nur irgendeine gute Musik bei uns daheim es tun kann. |
2018 |
Im ganzen Theater war außer der primitiven elektrischen Beleuchtung nichts Europäisches und Fremdes; eine alte, durch und durch stilisierte Kunst schwang ihre alten, heiligen Kreise weiter. Leider ließ ich mich verführen, danach auch noch ein malayisches Theater zu besuchen. |
2019 |
Hier wie später überall sah ich die armen Malayen, liebe, schwache Kinder, rettungslos an die bösesten europäischen Einflüsse verloren. Sie spielten und sangen mit oberflächlicher Geschicklichkeit, neapolitanerhaft heftig und manchmal improvisierend, und dazu spielte eine moderne Harmoniummaschine. |
2020 |
Am Abend aber ist das schräg einfallende Licht voll Gold und Wärme, vom Meer weht frisch der duftende Wind, aufatmende Menschen fahren vergnügt in weißen Kleidern spazieren und spielen Ballspiele auf grünen, flachen Plätzen, deren Rasen im Abendlicht edelsteingrün leuchtet. |
2021 |
Das heftige Straßenleben erinnert wohlig an italienische Städte, entbehrt aber völlig des wahnsinnigen Gebrülls, mit dem in Italien jeder Streichhölzerbub seine Bagatelle ausschreit. Wieder kommen niedere Häuser, Bäume dazwischen, halbländliche Vorstadtluft, und plötzlich ist man unter Kokospalmen. |
2022 |
Leider hat sie noch sehr wenig Kapital und noch keine Marktübersicht, aber das wird kommen, und vielleicht ist es auch reine Klugheit von ihr, daß sie gerade mit Kinderspielsachen handelt, so lange ihr leichtes Kinderfigürchen und ihr glattes Kindergesicht diesen Handel suggestiv unterstützen. |
2023 |
Hier dringt der europäische Operettenstil nur bis in die Mitte des Ladens, weiter hinten gibt es wohl noch Imitationen und Fälschungen, aber die Formen sind echt, und sie drücken alles aus, was ein Chinese fühlen kann, von der eisigsten Würde bis zum tollen Vergnügen an wildester Groteskerie. |
2024 |
Hier würden wir einen eisernen Elefanten mit erhobenem Rüssel kaufen, zwei oder drei alte Porzellanteller mit grün und blauen Drachen oder Pfauen und ein altes Teeservice, rotbraun und golden, mit Familien- und Kriegerszenen der alten Zeit. Dann würden wir in einen von den japanischen Läden gehen. |
2025 |
Die sehr sensible, überintelligente, allen andern unendlich überlegene Frau stak in einem schwarzen Sack, trug über ihrem schwarzen Haar eine fahlblonde scheußliche Wergperücke und hatte das Gesicht mit Kalk beschmiert, auf der rechten Wange einen großen schwarzen Klecks. |
2026 |
Die buddhistischen und Hindutempel sind ohne viel Variationen von Vorderindien übernommen, die Moscheen sind ohne Originalität, von der meist ganz stillosen modernen Prachtmoschee bis zur kleinen, idyllischen mohammedanischen Dorfkirche, deren Turm aus vier unbehauenen Baumstämmen besteht. |
2027 |
Und nun wütet falscher Marmor, Wellblech und Gewerbeschulrenaissance weiter und verseucht auch die Modernen und Wohlhabenden unter den einheimischen Bauherren. Japanische Zahnärzte und chinesische Wucherer bauen sich Häuser, die in die geschmacklosesten Straßen deutscher Mittelstädte passen würden. |
2028 |
Ich senkte den Kopf in die aufgestützten Hände und war alsbald allen Launen meines denkmüden und mit Bildern gesättigten Gehirns preisgegeben. Es umgab mich zunächst eine schwach murmelnde Dämmerung, in der ich mich wohl fühlte und über welche nachzusinnen ich kein Verlangen trug. |
2029 |
Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. Sein Gesicht war mir bekannt, ohne daß ich seinen Namen wußte. Er bewegte sich, stützte die Ellbogen auf, nahm eine goldene Brille ohne Ränder von den Augen und begann sie mit einem weichen, flanellenen Tüchlein sorgfältig zu reinigen. |
2030 |
Es war Tag, und alle Schläfer hatten sich erhoben. Bestürzt raffte auch ich mich empor und irrte auf dem ungeheuren Schiff umher, zwischen fremden Menschen, und sah auf dem schwarz-blauen Meere Inseln mit wilden, gleißenden Kalkfelsen und Inseln mit wehenden hohen Palmen und tiefblauen Vulkanbergen. |
2031 |
Verzweifelt schloß ich die Augen. Ich hatte das Gefühl, unser Schiff fahre sehr rasch abwärts in einen glühenden Höllenrachen. Da hörte ich, dem Herzen tröstlich wie Glockengeläut einem im Nebel verlaufenen Wanderer, vielstimmig ein feierliches Lied ertönen, das ich alsbald mitsang. |
2032 |
Wir schlossen die Augen, und wir beugten uns tief und schlugen unsere Häupter an die Erde, einmal, und wieder, und nochmals, in atemloser, rhythmischer Andacht. Hart schlug meine Stirn auf und schmerzte, Lichtfunken drangen in meine Augen, und mein Körper arbeitete sich mühsam aus tiefer Erstarrung. |
2033 |
Es war jedoch wider alle Wahrscheinlichkeit Gerechtigkeit geschehen und der Angreifer war der Geschädigte; mit einem großen Loch im Bug mußte er abziehen. Auf dem Brouwer waren wir zu dreien die einzigen Passagiere der ersten Klasse und hatten das Schiff für uns wie eine Privatjacht. |
2034 |
Die gesamte Bedienung war malayisch, und alsbald wurde uns von drei aufmerksamen, geschickten, hübschen Javanen eine erste Mahlzeit aufgetragen, ein überaus reichhaltiges, solides Reisessen, das ich nach den schlimmen Schaubroten der indischen Gasthöfe mit Dankbarkeit begrüßte. |
2035 |
Die Kinder hatten es gut, sahen wohlgehalten aus und trugen Halsketten und silberne Fußspangen. Beim Sonnenuntergang suchte sich der Großvater einen freien Raum, verneigte sich, kniete nieder, erhob sich wieder und vollzog mit langsamer Würde die Übungen des abendlichen Gebets. |
2036 |
Sterne kamen herauf, das Meer dunkelte tiefschwarz und die zackigen Silhouetten der kleinen Berginseln waren kaum mehr zu erfühlen. Wir waren still geworden und wären gerne zu Bett gegangen, doch war es allzu heiß, wir saßen alle ruhig und waren naß vom unablässig rieselnden Schweiß. |
2037 |
Wir sprachen hin und wieder ein Wort, über das Schiff oder über Sumatra, über Krokodile und Malaria, aber es war keinem wichtig, und manchmal stand einer auf, trat an die Reling, ließ die Asche seiner Zigarre ins Wasser fallen und suchte, ob in der Finsternis etwas zu sehen wäre. |
2038 |
Pelaiang Der Europäer, der mit anderen als geschäftlichen Absichten nach den malayischen Inseln fährt, hat stets, und auch wenn er gar nicht auf Erfüllung hofft, als Hintergrund seiner Vorstellungen und Wünsche die Landschaft und die primitive Paradiesunschuld einer van Zantenschen Insel. |
2039 |
Die beiden Kaufleute taxierten die im Walde ruhenden Kapitalien an Eisenholz, der Kunstmaler stieg mit dem Aquarellkasten am Ufer herum und ärgerte sich über die Malayenweiber, von denen gerade die hübschen sich durchaus nicht abzeichnen und nicht einmal gern aus der Nähe anschauen ließen. |
2040 |
Dann ging ich an den sechs oder sieben Hütten vorbei in den Wald, vor den Blutegeln und Schlangen geschützt durch dieselben Lodengamaschen, die ich im Winter in Graubünden trage, und alsbald nahm das zähe Dickicht mich auf und lag zwischen mir und der Welt fremder und trennender als alle Meere. |
2041 |
Gearbeitet wird meist von den Frauen, und dann von den Chinesen, die auch hier sich am kleinsten aufblühenden Örtchen alsbald einfinden und die genügsamste Pionierarbeit tun; sie halten Kaufläden, sie treiben Schiffahrt, sie kaufen Gummi und verkaufen Reis, Fische und deutsches Bier. |
2042 |
Der Rest der Gesellschaft saß in der Mitte des Raumes um einen großen runden Tisch und spielte Karten. Zu ihnen setzte ich mich und wurde mit Munterkeit begrüßt, und nachdem man mit Enttäuschung vernommen, daß ich nicht Karten spielen könne, lud man mich zu einem Würfelspiele ein. |
2043 |
Er wurde mächtig ausgelacht, wie überhaupt alle diese langen Stunden hindurch Gelächter und laute Freudigkeit nie aufgehört hatten, und ich erhob mich zum Abschiednehmen. Wir schüttelten einander die Hände und man bedauerte sehr, daß ich schon weggehe, eben jetzt wo es fidel zu werden anfange. |
2044 |
Er packte seine Maschine ein und seine Matratze aus, nahm langsam und gründlich alle Übungen seines mohammedanischen Abendgebetes vor und legte sich nieder. Er zog ein arabisch gedrucktes Erbauungsbüchlein aus dem Gürtel, las darin, sang halblaut ein paar Seiten daraus vor sich hin und schlief ein. |
2045 |
Eins von den Kindern lag im schwachen, roten Licht, ein sehr schönes, langhaariges Mädchen von neun oder zehn Jahren, sie trug noch keinen Ohrschmuck, aber dicke, silberne Spangen an den Gelenken der zierlichen Hände und Füße, und an der zweiten Zehe beider Füße je einen goldenen Ring. |
2046 |
Wieder legte ich mich nieder. Es war sehr heiß und auf meiner Schiffsseite ging kein Luftzug; immer wieder warf ich die Reisedecke ab, unter der ich die bloßen Füße geschützt gehalten hatte, und immer wieder nötigten mich die Bisse der Moskitos, sie von neuem zu bedecken. |
2047 |
Es war aber erst halb zwei Uhr. Da und dort richteten erschrockene Schläfer sich taumelnd auf, die meisten sanken alsbald wieder zurück und blieben ruhig, andre standen auf und zogen das Tuch von der Laterne, deren Licht ringsum einen ganzen Knäuel von Schlafenden enthüllte. |
2048 |
Ich lag wieder still und dämmerte ein, während die Maschine von neuem zu arbeiten begann. Es regnete jetzt und manchmal sprühte ein Dutzend lauer Tropfen zu mir herein; ich wollte mir noch die Decke über die Kniee ziehen, doch war ich schon zu müde, und nun schlief ich ein. |
2049 |
Ich hatte dabei genau dasselbe Gefühl, wie wenn man auf einer Bergreise im Heu erwacht und die schönen, neugierigen Augen einer Gais oder eines Kalbes auf sich gerichtet findet. Das Mädchen blickte mir noch eine Weile fest in die Augen; als ich mich aufrichtete, ging sie davon und zur Mutter. |
2050 |
Ehe die Nacht und die Krokodile kamen, war es eben noch Zeit, sich am Ufer ein paar Eimer voll Flußwasser über den Kopf zu gießen, ein frisches Hemd anzuziehen und sich auf unsere große Veranda zu begeben, wo der dicke wohlwollende Chinese schon das Abendessen bereit hielt. |
2051 |
Ich blickte hinauf; es war schon dunkel geworden, und unsere Hütte stand mit der schwach erleuchteten Veranda schön und breit zwischen dem Urwald und dem steilen Flußufer, kaum hob sich noch das weiche Palmblätterdach vom schwarzen Himmel ab. Was Nacht ist, weiß man nur in den Tropen. |
2052 |
Die Flinten lehnten am Eingang, das Schmetterlingsnetz daneben. Einer legte sich in den Liegestuhl unter der Hängelampe und versuchte in einem Tauchnitzband zu lesen, der andere begann die Flinten abzureiben und ich faltete kleine Düten aus Zeitungspapier für die Schmetterlinge. |
2053 |
Da draußen war es kaum um einen Schatten heller als zwischen meinen Bambuswänden und Bastmatten, aber man spürte die wilde Natur draußen gären und kochen in ihrem nie unterbrochenen geilen Treiben und Zeugen, man hörte hundert Tiere und atmete den krautigen Geruch von üppigem Wachstum. |
2054 |
Aber wir Weißen sind schon dahinter her, wir haben unsere Bambushütte und haben schon einen kleinen Kampong mit fast hundert Malayen, die uns helfen müssen, den ewigen Urwald anzuzapfen, und seit kurzem klingt hier, zum erstenmal seit die Welt steht, Axtschlag und Arbeitsgetöse durch das Dickicht. |
2055 |
Die Seelen der Gemordeten schweben nachts überm Fluß, aber sie werden nur von ihren Brüdern gefürchtet, und wir Weißen schreiten ruhig und herrisch durch die Wildnis, erteilen in unserem verdorbenen Malayisch kalte Befehle und sehen die dunkeln uralten Eisenholzbäume ohne Rührung fallen. |
2056 |
Ja, hier war ich am Herzen der Natur; hier war die Welt nicht anders als vor hunderttausend Jahren. Man konnte Drahtseile an den Gaurisankar nageln und den Eskimos ihre Fischjagd mit Motorbooten verderben, aber gegen den Urwald würden wir noch eine gute Weile nicht aufkommen. |
2057 |
Da schaute, auf zwei Schritt Entfernung, der Wald mich an, ein umgerührtes Meer von Formen, von Astgeschlinge, Laubmengen und Fasern, wogend und in Verzweiflung sich wehrend, von den Blitzen überflogen und jäh bis ins zuckende dunkle Herz hinein verwundet, krachend und empört. |
2058 |
Das Volk hat hier jene furchtsam kriechende Unterwürfigkeit, die der europäische Beamte und Kaufmann schätzt, die unsereinem aber gelegentlich störend auffällt. Indessen ist der geknechtete Malaye äußerst flink im Übernehmen europäischer Bequemlichkeiten, Genüsse und Herrenmanieren. |
2059 |
Wir hielten uns behutsam still und hüteten uns, auch nur an einen Ast zu streifen, denn in Busch und Sumpf eine Stunde von Palembang von einem Affenvolk erwürgt zu werden, hätte jedem von uns ein vielleicht nicht schändliches, doch aber ein unfeines und unrühmliches Ende geschienen. |
2060 |
Zehn Meter davon, im dichten Busch, ist man in vollkommener Urwildnis, von Eichhörnchen und Vögeln in Menge umschwärmt, von Affen beknurrt und gelegentlich durch ungeheure, zum Teile giftige Tausendfüßler und Skorpione erschreckt. Wer sich auskennt, kann hier auch häufig Tigerspuren finden. |
2061 |
Nirgends aber kann man hundert Meter gehen, ohne auf Gräber zu stoßen. Überwachsen und vergessen liegen überall die Malayen- und Arabergräber, den unseren ganz ähnlich, die neueren mit welken Grasbüscheln geschmückt, die von den Mohammedanern am Freitag dort niedergelegt werden. |
2062 |
Aber nun war ein Schiff in Aussicht, noch einen Tag oder zwei, dann würde ich abfahren können, und bald würde, wie tröstliche Erfahrungen uns lehren, alles Widerwärtige dieser Tage in der Erinnerung einschrumpfen und vergehen und nur das viele Schöne, Bunte, freudig Erlebte bleiben. |
2063 |
Am Sonntag war ich von früh bis abends auf dem Flusse unterwegs. Ich hatte mich einer Krokodiljagd angeschlossen und saß mit einem schweren alten holländischen Militärgewehr auf den Knien, die Augen von der Hitze und dem Sonnenreflex des Stromes brennend, im kleinen Boot auf der Lauer. |
2064 |
Aber an solchen Tagen hat man kein Glück; wir kamen nie zum Schuß und mußten bei dem viel zu hohen Wasserstande froh sein, daß wir wenigstens einige Krokodile zu sehen bekommen hatten. Einerlei, morgen ging mein Schiff, und dann konnten mir alle Krokodile von Sumatra –. |
2065 |
Früh um sechs Uhr hatte ich noch niemals in meinem Leben Bordeaux getrunken und starke indische Zigarren geraucht. Heute tat ich es, und nun kann ich schon wieder fast ohne Schmerzen und Anstrengung die Augen offen halten. Jetzt, wo ich diese Notizen aufschreibe, fährt das Schiff. |
2066 |
Wir fahren langsam flußabwärts und werden abends die See erreichen und vielleicht in etwa 32 Stunden in Singapur sein. Nachtrag am Abend ... Ich nehme alles zurück. Als ich zu schreiben aufhörte, ward ich von niemand belästigt, vielmehr zu einem recht guten Mittagessen aufgefordert. |
2067 |
Da sah alles gleich wieder besser aus. Der chinesische Hund ist, glaube ich, nicht räudig; er hat nur, wie ja fast alle Hunde in den Tropen, den Haarschwund, wird von hinten her kahl, was schade ist, denn er muß früher, den Resten nach zu schätzen, ein ganz hübscher rotblonder Kerl gewesen sein. |
2068 |
Es ist abends fünf Uhr und schon dämmerig, wir sind in der weiten Flußmündung angekommen, vor uns liegt hellgelb das seichte Meer, der Pilot arbeitet am Steuer und kann uns nun bald verlassen. Gegenüber steht mit langen hohen Bergketten schön und ganz tiefblau die Insel Banca. |
2069 |
Alle Europäer in den Tropen haben Grammophone, und so bin ich denn schon vor der Rückkehr nach Singapur wieder von der operettenhaften Atmosphäre umgeben, die mir seit dem Betreten des Lloydschiffes in Genua als das Charakteristikum des Europäerlebens im Osten erscheint. |
2070 |
Die Mädchen und ganz jungen Frauen sind oft wunderschön, und schöne Augen haben sie alle ohne Ausnahme. Ein steil ins dicke wirre Grün verschwindender Seitenweg zog mich an, ich stieg hinab durch eine betäubend pflanzenreiche Schlucht, die wie ein Treibhaus gärend duftete. |
2071 |
Es war genau derselbe Geist, nur war hier alles klein und zierlich, und in der Zeichnung der Bildchen war wohl Kultur und Leben, aber keine Persönlichkeit. Aber nun schloß der alte Mann die innerste Tür auf. Hier war es völlig finster, im Hintergrunde schloß sich die Felsenhöhle. |
2072 |
Dort war etwas Ungeheuerliches zu ahnen, und da wir mit den Kerzen näher kamen, entstand aus Glanzlichtern und Schatten schwankend eine riesige Form, größer als der Kreis unserer schlechten Lichter, und allmählich erkannte ich mit einem Schauder das liegende Haupt eines kolossalen Buddha. |
2073 |
Der liegende Buddha, den ich erblickte, ist zweiundvierzig Fuß lang, er füllt die Höhlenwand mit seinem Riesenleib, auf seiner linken Schulter ruht der Fels, und wenn er aufstünde, fiele der Berg über uns zusammen. Und auch hier fiel mir ungesucht ein ähnliches Erlebnis ein. |
2074 |
Wir sind weit gekommen, und es ist schön, daß wir, ein kleiner, winziger Teil der Menschheit, diese beiden nicht unbedingt mehr brauchen, den blutigen Kruzifixus nicht und nicht den glatten lächelnden Buddha. Wir wollen sie und andere Götter auch weiter überwinden und entbehren lernen. |
2075 |
Eine traumhaft dumpfe Musik scholl mir entgegen; hier und da knieten dunkle Beter tiefgebückt und murmelnd; ein süßer heftiger Blumenduft überfiel mich betäubend; durchs Tempeltor sah ich in düster-nächtliche Räume, in denen viele einzelne dünne Kerzen irrlichthaft und verwirrend brannten. |
2076 |
Der Buddhismus von Ceylon ist hübsch, um ihn zu photographieren und Feuilletons darüber zu schreiben; darüber hinaus ist er nichts als eine von den vielen rührenden, qualvoll grotesken Formen, in denen hilfloses Menschenleid seine Not und seinen Mangel an Geist und Stärke ausdrückt. |
2077 |
Man zog und schob mich, der ich in der Dunkelheit mich blind fühlte und willenlos mitlief, in Eile über einige Treppenstufen und über nasses Gras hinweg ins Freie, wo plötzlich als rotes Viereck in der Nacht die erleuchtete Türöffnung eines zweiten, kleineren Tempels vor uns stand. |
2078 |
Hier stehen die Alpenrosen üppiger als daheim, in dreimal mannshohen starken Bäumen, und ein silbriges, pelzig weiß blühendes Kraut erinnerte sehr an Edelweiß; ich fand viele von unsern heimatlichen Waldblumen, aber alle seltsam vergrößert und gesteigert und alle von alpinem Charakter. |
2079 |
Die Palmen und die Paradiesvögel, die Reisfelder und die Tempel der reichen Küstenstädte, die von Fruchtbarkeit dampfenden Täler der tropischen Niederungen, das alles, und selbst der Urwald, war schön und zauberhaft, aber es war mir immer fremd und merkwürdig, niemals ganz nah und ganz zu eigen. |
2080 |
Aber wir selbst sind anders, wir sind hier fremd und ohne Bürgerrecht, wir haben längst das Paradies verloren, und das neue, das wir haben und bauen wollen, ist nicht am Äquator und an den warmen Meeren des Ostens zu finden, das liegt in uns und in unsrer eignen nordländischen Zukunft. |
2081 |
Ich fühlte, nach einem wochenlangen Leben in neuen, fremden, oberflächlicheren Eindrücken, mich von dieser Blume im Innersten berührt und erinnert, und als ich suchte, fand ich bald, daß es dieselbe weiße großkelchige Kalla war, die zu meinen Knabenzeiten im Zimmer meiner Mutter blühte. |
2082 |
Und wie schön war es, in Chinesenstädten am Abend junge Freundespaare spazieren gehen zu sehen. Feine schlanke Jünglinge mit schönen braunen Augen und lichten, heiteren, geistigen Gesichtern, ganz weiß oder ganz schwarz gekleidet, mit unendlich nobeln, schmalen, vergeistigten Händen. |
2083 |
Ihre Religion ist minderwertig, verdorben, veräußerlicht, verroht, aber sie ist mächtig und allgegenwärtig wie Sonne und Luft, sie ist Lebensstrom und magische Atmosphäre und sie ist das einzige, um was wir diese armen und unterworfenen Völker ernstlich beneiden dürfen. |
2084 |
Die Engländer, die in ihrem Nationalitätsgefühl und in ihrer strengen Pflege der eigenen Rasse eine Art von Ersatzreligion besitzen, sind denn auch die einzigen Westländer, die es da draußen zu einer wirklichen Macht und Kulturbedeutung gebracht haben. Mein Schiff fährt und fährt. |
2085 |
Ein Mitglied der mächtigen ostindischen Kompagnie, sowie mehrere Geistliche wurden als Ratgeber herbeigezogen und ein Plan ausgearbeitet, nach welchem zunächst drei oder vier junge Männer, mit einer hinlänglichen Ausrüstung und gutem Reisegeld versehen, als Missionare ausgesandt werden sollten. |
2086 |
Unter der Hand suchte man vor allem junge Theologen zu gewinnen, doch war die englische Geistlichkeit durchweg keineswegs der Heimat müde oder auf anstrengende, ja gefährliche Unternehmungen erpicht; die Suche zog sich in die Länge, und der Stifter begann schon ungeduldig zu werden. |
2087 |
Als ein armer Jüngling, der nach aller Voraussicht nicht vor dem mittleren Mannesalter auf ein eigenes Amt und Einkommen zu rechnen hatte, war er für junge Mädchen kein begehrenswerter Mann, wenigstens nicht für ehrbare, und mit anderen als solchen war er nie zusammengetroffen. |
2088 |
Es empfing ihn ein großer, ernster, schön rasierter Herr mit eisblauen scharfen Augen und strengen alten Mienen, dem der schüchterne Bewerber jedoch nach wenigen Reden recht wohl gefiel, so daß er ihn zum Sitzen einlud und sein Examen mit Vertrauen und Wohlwollen zu Ende führte. |
2089 |
War ihm auch die Vorstellung der lebendigen Boa, die er durch das Zusammenbiegen der glänzend silbrigen Haut zu einem Rohre zu unterstützen versuchte, einigermaßen grauenvoll und zuwider, so ward doch seine Neugierde auf die geheimnisvolle, an Wundern reiche Ferne durch ihren Anblick noch geschürt. |
2090 |
In jenen Zeiten konnte ein Indienfahrer noch nicht so grün und unerprobt sein Ziel erreichen wie heute, wo man in Europa seinen bequemen Dampfer besteigt, sich auf dem Suezkanal um Afrika drückt und nach kurzer Zeit, verwundert und träg vom vielen Schlafen und Essen, die indische Küste erblickt. |
2091 |
Im Eintreten streifte sein Blick den kleinen Vorgarten und fand, obwohl jetzt eben Wichtigeres zu tun und zu betrachten war, gerade noch Zeit, einen dunkelbelaubten Strauch mit großen goldgelben Blüten zu bemerken, der von einer zierlichen Schar weißer Falter auf das fröhlichste umgaukelt wurde. |
2092 |
Er ließ ihm eine Reismahlzeit mit Hammelfleisch und brennendem Currypfeffer bringen, er wies ihm ein Zimmer an, zeigte ihm das Haus, nahm ihm seine Briefe und Aufträge ab, beantwortete seine ersten neugierigen Fragen und gab ihm die ersten, notwendigsten indischen Lebensregeln. |
2093 |
Es war ein kleines, grünes Chamäleon mit einem dreieckigen Kopf und boshaften kleinen Augen. Er beugte sich darüber und fühlte sich wie ein Knabe beglückt, daß er solche Dinge sehen und die unerschöpflich reiche Natur nun am eigentlichen Quell ihres Reichtums betrachten durfte. |
2094 |
Mit Neugierde sah er die Leute an und tat den ersten Blick in das dörflich bescheidene Leben des fremden Naturvolkes, und vom ersten Augenblick an gewann er die braunen Menschen lieb, deren schöne kindliche Augen wie in einer unbewußten und unerlösten tierischen Traurigkeit blickten. |
2095 |
Er fragte begierig, welcherlei Religion jener Tempel angehöre und welcherlei Götter- oder Götzendienst darin getrieben werde, was die vielen Figuren bedeuteten und was die seltsame Musik, ob die schönen stolzen Männer in weißen Kleidern Priester seien und wie denn ihre Götter hießen. |
2096 |
Er wollte sich auch durchaus niemals auf einen Stuhl setzen, den vor ihm ein Fremder benutzt hatte, sondern brachte jeden Tag zusammengerollt unterm Arm seine eigene hübsche Bastmatte mit, die er auf dem Ziegelboden ausbreitete und auf welcher er mit gekreuzten Beinen edel und aufrecht saß. |
2097 |
Sein Schüler, mit dessen Eifer er wohl zufrieden sein konnte, suchte auch diese Kunst von ihm zu lernen und kauerte während seiner Lektionen stets auf einer ähnlichen Matte am Boden, obwohl ihm dabei in der ersten Zeit alle Glieder weh taten, bis er daran gewöhnt wurde. |
2098 |
Unter anderem kam es zuweilen vor, daß Bradley am Feierabend mit jenem Schreiber zusammen bis zur Trunkenheit eine Mischung von Wasser, Rum und Limonadensaft genoß; dazu hatte er in der ersten Zeit den jungen Geistlichen mehrmals eingeladen, aber stets von ihm eine sanfte Absage erhalten. |
2099 |
Seltsame Eidechsen und Skorpione, riesengroße dicke Tausendfüßler und anderes Koboldzeug erschreckte ihn selten mehr, und seit er eine dicke Schlange in der Badekammer mutig mit dem hölzernen Eimer erschlagen hatte, fühlte er seine Bangnis vor unheimlicher Tiergefahr immer mehr dahinschwinden. |
2100 |
Er gewöhnte sich daran, in seinem luftigen Schlafzimmer frühmorgens vom rasenden Affengebrüll aus dem nahen Walde geweckt zu werden und bei Nacht das heulende Schreien der Schakale zu hören. Seine Augen glänzten hell und wachsam aus dem gemagerten, braun und männlich gewordenen Gesicht. |
2101 |
Schön und heilig schien ihm auch das von den Hindus streng gehaltene Gebot, kein Tier zu töten, und er schämte sich zuweilen und suchte Rechtfertigung vor sich selbst, wenn er ohne Erbarmen einige schöne Schmetterlinge und Käfer umgebracht und auf Nadeln gespießt hatte. |
2102 |
Andererseits waren unter diesen selben Völkern, denen jeder Wurm als Geschöpf Gottes heilig galt und die sich innig in Gebeten und Tempeldienst hingaben, Diebstahl und Lüge, falsches Zeugnis und Vertrauensbruch ganz alltägliche Dinge, über die keine Seele sich empörte oder nur wunderte. |
2103 |
Schließlich meinte er entdeckt zu haben, daß Kinder und einfache Leute vom Lande ihm fast immer zugänglich seien, ja daß alle Schwierigkeiten, alles Mißtrauen und alle Verderbnis der Städter nur von der Berührung mit den europäischen Schiffs- und Handelsleuten herkomme. |
2104 |
Außerdem fühlte er kein Recht, sich zum Lehrer dieser Leute aufzuwerfen und sie zu wichtigen Änderungen in ihrem Leben aufzufordern, ehe er dieses Leben genau kannte und fähig war, mit den Hindus einigermaßen auf gleichem Fuße zu leben und zu reden. Dadurch dehnten seine Studien sich weiter aus. |
2105 |
Die Hausmutter hatte ihr graues Haar mit Henna feurigrot gefärbt und zeigte, da sie zum Empfang aufs freundlichste lächelte, einen Mund voll ebenso roter Zähne, die ihre Leidenschaft für das Betelkauen verrieten. Ihr Mann war ein großer, ernsthaft blickender Mensch mit langen, noch dunkeln Haaren. |
2106 |
Wieder, wie schon oft, wollte es dem bescheidenen Aghion als eine ungeheuerliche Frechheit und Überhebung erscheinen, daß er als Abgesandter eines fernen Volkes hierher gekommen sei mit der Absicht, diesen Menschen ihren Gott und Glauben zu nehmen und einen anderen dafür aufzunötigen. |
2107 |
Robert Aghion sah sie mit Entzücken an und suchte tief in ihre stillen sanften Augen zu blicken, wurde aber schnell verlegen; der feuchte Duft ihrer Haare und der Anblick ihrer nackten Schultern und Brüste verwirrte ihn, so daß er bald vor ihrem unschuldigen Blick die Augen niederschlug. |
2108 |
Seine Wohnung aber, das öde Junggesellenhaus mit den herumlungernden Dienern und dem kühlen mürrischen Herrn Bradley war ihm noch nie so unheimlich und trostlos erschienen wie in dieser Abendstunde, da er bei seiner kleinen Öllampe am wackligen Tischlein saß und in der Bibel zu lesen versuchte. |
2109 |
In dieser Nacht, als er nach langer Gedankenunruhe und trotz den singenden Moskiten endlich den Schlaf gefunden hatte, wurde der Missionar von sonderbaren Träumen heimgesucht. Er wandelte in einem dämmernden Palmenhain, wo gelbe Sonnenflecke auf dem rotbraunen Boden spielten. |
2110 |
Einzelne Vögel schrien plötzlich grell und angstvoll auf, unruhige Windstöße erbrausten in den hohen Wipfeln, das frohe warme Sonnenlicht wurde fahl und siech, die Vögel huschten nach allen Seiten davon, und die schönen großen Falter ließen sich in wehrlosem Schrecken vom Winde davonführen. |
2111 |
Hier flutete eine bunte Menschenmenge aus und ein, nackte Kulis und weißgekleidete stolze Brahmanen, dem Tempel gegenüber aber war eine christliche Kirche errichtet, und über ihrem Portal war Gottvater in Stein gebildet, in Wolken schwebend mit ernstem Vaterauge und fließendem Bart. |
2112 |
Mitten im festlichen Gedränge aber schritt mit den glatten, glänzend schwarzen Haaren und den großen kindlichen Augen die schöne Naissa. Sie kam zwischen vielen anderen Gläubigen vom Tempel herübergegangen, stieg die Stufen zur Kirche empor und blieb vor dem Missionare stehen. |
2113 |
Es war so, es war alles wahr und nicht zu ändern. Eine Weile lag er traurig und bis zu Tränen erregt im Dunkeln. Er versuchte zu beten und vermochte es nicht, er versuchte sich die Naissa als Teufelin vorzustellen und seine Neigung als verworfen zu erkennen und konnte auch das nicht. |
2114 |
Eben wollte er des Schläfers Namen rufen, da sah er mit heftigem Erschrecken, daß Bradley nicht allein sei. Er lag, vom dünnen, seidenen Nachtkleide bedeckt, auf dem Rücken, und sein Gesicht mit dem emporgereckten Kinn sah um nichts zarter oder freundlicher aus als am Tage. |
2115 |
Er zündete seine Lampe an und las, von den singenden Mücken umschwärmt und gepeinigt, stundenlang im Neuen Testament, ohne doch Sicherheit und Trost zu gewinnen. Beinahe hätte er ganz Indien fluchen mögen oder doch seiner Neugierde und Wanderlust, die ihn hieher und in diese Sackgasse geführt hatte. |
2116 |
Dieser grüßte kurz und kühl wie sonst, setzte den Boy und den Wasserträger durch laute Befehle in Trab, suchte sich mit langwieriger Umsicht die goldigste Frucht aus dem Bananenbüschel und aß dann rasch und herrisch, während im sonnigen Hof der Diener sein Pferd vorführte. |
2117 |
Aber je ernstlicher er seine Angelegenheiten bedachte und je deutlicher es ihm wurde, daß der Streit mit Bradley eine Nebensache, die Lösung seines ganzen verworrenen Zustandes aber nun eine unerbittliche Notwendigkeit geworden sei, desto klarer und wohler wurde ihm in den Gedanken. |
2118 |
Als ein Mückenstich ihn erweckte, sah er mit Beschämung, daß er fast den ganzen Vormittag verschlafen hatte. Aber er fühlte sich nun frisch und ungetrübt und ging jetzt ungesäumt daran, seine Gedanken und Wünsche zu ordnen und die Wirrnis seines Lebens sachte auseinander zu falten. |
2119 |
Er war bescheiden genug, darin eine Niederlage und einen betrübenden Mangel zu sehen; aber zur Verzweiflung war kein Grund vorhanden. Vielmehr schien ihm jetzt, da er entschlossen war, sich eine angemessenere Arbeit zu suchen, das reiche Indien erst recht eine gute Zuflucht und Heimat zu sein. |
2120 |
Natürlich kann sich unsereiner in ein indisches Mädel verlieben, sie sind oft hübsch genug. Sie sollen auch treu sein und zahme Frauen abgeben. Aber ich kann sie doch immer nur wie eine Art Tierchen ansehen, wie lustige Ziegen oder schöne Rehe, nicht wie meinesgleichen. |
2121 |
Er war über soviel Sprödigkeit erstaunt und enttäuscht, und nun suchte er aus seiner Tasche das Geschenk hervor, das er für sie mitgebracht hatte, und es tat ihm nun doch ein wenig weh, zu sehen, wie sie alsbald die Abwehr vergaß und nach dem Dinge griff, das er ihr anbot. |
2122 |
Mittlerweile hatte sie langsam den Rückweg angetreten, und er ging neben ihr her, der Hütte entgegen. Der Knabe war mit der Ziege in einem atemlosen Jagdspiel begriffen; sein schwarzbrauner Rücken glänzte metallisch in der Sonne, und sein geblähter Reisbauch ließ die Beine zu dünn erscheinen. |
2123 |
Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen — nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. |
2124 |
Darum ist jedes Menschen Geschichte wichtig, ewig, göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig. In jedem ist der Geist Gestalt geworden, in jedem leidet die Kreatur, in jedem wird ein Erlöser gekreuzigt. |
2125 |
Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Uns allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst. |
2126 |
Gewiß, ich gehörte zur hellen und richtigen Welt, ich war meiner Eltern Kind, aber wohin ich Auge und Ohr richtete, überall war das andere da, und ich lebte auch im andern, obwohl es mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort regelmäßig ein schlechtes Gewissen und Angst bekam. |
2127 |
Es war nur irgendwie vorhanden, als eine Ahnung oder Möglichkeit, ganz unten im Gefühl. Wenn ich mir den Teufel vorstellte, so konnte ich ihn mir ganz gut auf der Straße unten denken, verkleidet oder offen, oder auf dem Jahrmarkt, oder in einem Wirtshaus, aber niemals bei uns daheim. |
2128 |
Die Schwestern waren, gleich den Eltern, zu schonen und zu achten, und wenn man mit ihnen Streit gehabt hatte, war man nachher vor dem eigenen Gewissen immer der Schlechte, der Anstifter, der, der um Verzeihung bitten mußte. Denn in den Schwestern beleidigte man die Eltern, das Gute und Gebietende. |
2129 |
Sein Vater war ein Trinker und die ganze Familie stand in schlechtem Ruf. Franz Kromer war mir wohl bekannt, ich hatte Furcht vor ihm, und es gefiel mir nicht, als er jetzt zu uns stieß. Er hatte schon männliche Manieren und ahmte den Gang und die Redensarten der jungen Fabrikburschen nach. |
2130 |
Schließlich setzten wir uns an den Boden. Franz spuckte ins Wasser und sah aus wie ein Mann; er spuckte durch eine Zahnlücke und traf, wohin er wollte. Es begann ein Gespräch, und die Knaben kamen ins Rühmen und Großtun mit allerlei Schülerheldentaten und bösen Streichen. |
2131 |
Ich erfand eine große Räubergeschichte, zu deren Helden ich mich machte. In einem Garten bei der Eckmühle, erzählte ich, hätte ich mit einem Kameraden bei Nacht einen ganzen Sack voll Äpfel gestohlen, und nicht etwa gewöhnliche, sondern lauter feinste Reinetten und Goldparmänen, die besten Sorten. |
2132 |
Langsam schlenderte er weiter, und ich wagte nicht auszureißen, aber er ging wirklich den Weg gegen unser Haus. Als wir dort waren, als ich unsre Haustür sah und den dicken messingenen Drücker, die Sonne in den Fenstern und die Vorhänge im Zimmer meiner Mutter, da atmete ich tief auf. |
2133 |
Sein Griff um meinen Arm war fest wie Eisen. Ich überlegte, was er im Sinn haben könnte, und ob er mich etwa mißhandeln wolle. Wenn ich jetzt schreien würde, dachte ich, laut und heftig schreien, ob dann wohl schnell genug jemand von droben dasein würde, um mich zu retten? Aber ich gab es auf. |
2134 |
Er würde mich anzeigen, ich war ein Verbrecher, man würde es dem Vater sagen, vielleicht würde sogar die Polizei kommen. Alle Schrecken des Chaos drohten mir, alles Häßliche und Gefährliche war gegen mich aufgeboten. Daß ich gar nicht gestohlen hatte, war ganz ohne Belang. |
2135 |
Das war für mich so viel und unerreichbar wie zehn, wie hundert, wie tausend Mark. Ich hatte kein Geld. Es gab ein Sparkästlein, das bei meiner Mutter stand, da waren von Onkelbesuchen und solchen Anlässen her ein paar Zehn- und Fünfpfennigstücke drin. Sonst hatte ich nichts. |
2136 |
Mein Leben war zerstört. Ich dachte daran, fortzulaufen und nie mehr wiederzukommen, oder mich zu ertränken. Doch waren das keine deutlichen Bilder. Ich setzte mich im Dunkel auf die unterste Stufe unsrer Haustreppe, kroch eng in mich zusammen und gab mich dem Unglück hin. |
2137 |
Der Hut und Sonnenschirm, der gute alte Sandsteinboden, das große Bild überm Flurschrank, und drinnen aus dem Wohnzimmer her die Stimme meiner älteren Schwester, das alles war lieber, zarter und köstlicher als je, aber es war nicht Trost mehr und sicheres Gut, es war lauter Vorwurf. |
2138 |
Schicksal lief mir nach, Hände waren nach mir ausgestreckt, vor denen auch die Mutter mich nicht schützen konnte, von denen sie nicht wissen durfte. Ob nun mein Verbrechen ein Diebstahl war oder eine Lüge (hatte ich nicht einen falschen Eid bei Gott und Seligkeit geschworen?) — das war einerlei. |
2139 |
Dabei funkelte ein sonderbar neues Gefühl in mir auf, ein böses und schneidendes Gefühl voll Widerhaken: ich fühlte mich meinem Vater überlegen! Ich fühlte, einen Augenblick lang, eine gewisse Verachtung für seine Unwissenheit, sein Schelten über die nassen Stiefel schien mir kleinlich. |
2140 |
Die Gnade Gottes war mit ihnen allen, aber nicht mehr mit mir. Kalt und tief ermüdet ging ich weg. Im Bett, als ich eine Weile gelegen war, als Wärme und Geborgenheit mich liebevoll umgab, irrte mein Herz in der Angst noch einmal zurück, flatterte bang um das Vergangene. |
2141 |
Dann kehrte ich zu den Dingen zurück und sah meinem Feind ins Auge. Ich sah ihn deutlich, das eine Auge hatte er eingekniffen, sein Mund lachte roh, und indem ich ihn ansah und das Unentrinnbare in mich fraß, wurde er größer und häßlicher, und sein böses Auge blitzte teufelhaft. |
2142 |
Aber ich war nur so ein wenig unwohl, wie schon oft, und damit war nichts getan. Das schützte mich vor der Schule, aber es schützte mich keineswegs vor Kromer, der um elf Uhr am Markt auf mich wartete. Und die Freundlichkeit der Mutter war diesmal ohne Trost; sie war lästig und tat weh. |
2143 |
Darum stand ich um zehn Uhr leise auf und sagte, daß mir wieder wohl geworden sei. Es hieß, wie gewöhnlich in solchen Fällen, daß ich entweder wieder zu Bette gehen oder am Nachmittag in die Schule gehen müsse. Ich sagte, daß ich gern zur Schule gehe. Ich hatte mir einen Plan gemacht. |
2144 |
Oben rief jemand nach mir, wie mir schien; ich ging schnell davon. Es war noch viel Zeit, ich drückte mich auf Umwegen durch die Gassen einer veränderten Stadt, unter niegesehenen Wolken hin, an Häusern vorbei, die mich ansahen, und an Menschen, die Verdacht auf mich hatten. |
2145 |
Ich könnte ja mein Geld noch vor Mittag haben, siehst du, und ich bin arm. Du hast schöne Kleider an, und du kriegst was Besseres zu Mittag zu essen als ich. Aber ich will nichts sagen. Ich will meinetwegen ein wenig warten. Übermorgen pfeife ich dir, am Nachmittag, dann bringst du es in Ordnung. |
2146 |
Nicht oft im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, selten habe ich größere Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt. Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich hereinbrechen. |
2147 |
Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat — kam sie nicht, um mich nach der Büchse zu fragen? Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. |
2148 |
Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte. Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. |
2149 |
In unsere Lateinschule war vor kurzem ein neuer Schüler eingetreten. Er war der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, und er trug einen Trauerflor um den Ärmel. Er ging in eine höhere Klasse als ich und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen. |
2150 |
Zwischen uns kindischen Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein Herr. Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an Raufereien teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die Lehrer gefiel den andern. Er hieß Max Demian. |
2151 |
Mit diesem Kain zum Beispiel und mit dem Zeichen auf seiner Stirn kann man doch nicht recht zufrieden sein, so wie er uns erklärt wird. Findest du nicht auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschlägt, kann ja gewiß passieren, und daß er nachher Angst kriegt und klein beigibt, ist auch möglich. |
2152 |
Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht ihn anzurühren, er imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob geht es im Leben selten zu. |
2153 |
Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen. Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann man ja zweifeln. Es ist nicht wichtig, schließlich sind alle Menschen Brüder. Also ein Starker hat einen Schwachen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch nicht. |
2154 |
Und hatte seit langem noch niemals den Franz Kromer so völlig vergessen, stundenlang, einen ganzen Abend lang. Ich las zu Hause die Geschichte noch einmal durch, wie sie in der Bibel stand, sie war kurz und deutlich, und es war ganz verrückt, da nach einer besonderen, geheimen Deutung zu suchen. |
2155 |
Die, die dabei waren, sagten, Demian habe ihn bloß mit einer Hand am Genick genommen und fest gedrückt, dann sei der Knabe bleich geworden, und nachher sei er weggeschlichen und habe tagelang seinen Arm nicht mehr brauchen können. Einen Abend lang hieß es sogar, er sei tot. |
2156 |
Kromer schliff ein Messer und gab es mir in die Hand, wir standen hinter den Bäumen einer Allee und lauerten auf jemand, ich wußte nicht auf wen; aber als jemand daherkam und Kromer mir durch einen Druck auf meinen Arm sagte, der sei es, den ich erstechen müsse, da war es mein Vater. |
2157 |
Indessen, und so elend ich war, bereute ich doch nicht alles, wenigstens nicht immer, und glaubte zuweilen zu fühlen, daß alles so sein müsse. Ein Verhängnis war über mir, und es war unnütz, es durchbrechen zu wollen. Vermutlich litten meine Eltern unter diesem Zustande nicht wenig. |
2158 |
Diesen erzähle ich meine Angelegenheit nicht. Ich erzähle sie denen, welche den Menschen besser kennen. Der Erwachsene, der gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu verwandeln, vermißt diese Gedanken beim Kinde, und meint nun, auch die Erlebnisse seien nicht da. |
2159 |
So machte er es oft, verlangte irgend etwas Unmögliches, setzte mich in Schrecken, demütigte mich, und ließ dann allmählich mit sich handeln. Ich mußte mich dann mit etwas Geld oder anderen Gaben loskaufen. Diesmal war er ganz anders. Er wurde auf meine Weigerung hin fast gar nicht böse. |
2160 |
Und nun sollte ich also — es wurde mir ganz plötzlich klar, wie ungeheuerlich es war! Mein Entschluß, das nie zu tun, stand sofort fest. Aber was dann geschehen und wie Kromer sich an mir rächen würde, daran wagte ich kaum zu denken. Es begann eine neue Marter für mich, es war noch nicht genug. |
2161 |
Aber sieh: wenn du vor jemand, der dir nichts getan hat, so zusammenfährst, dann fängt der Jemand an nachzudenken. Es wundert ihn, es macht ihn neugierig. Der Jemand denkt sich, du seiest doch merkwürdig schreckhaft, und er denkt weiter: so ist man bloß, wenn man Angst hat. |
2162 |
Also ich habe dich gern, oder ich interessiere mich für dich, und möchte nun herausbringen, wie es in dir drinnen aussieht. Dazu habe ich den ersten Schritt schon getan. Ich habe dich erschreckt — du bist also schreckhaft. Es gibt also Sachen und Menschen, vor denen du Angst hast. |
2163 |
Ich war nicht mehr allein! Und erst jetzt sah ich, wie schrecklich allein ich wochen- und wochenlang mit meinem Geheimnis gewesen war. Und sofort fiel mir ein, was ich mehrmals durchgedacht hatte: daß eine Beichte vor meinen Eltern mich erleichtern und mich doch nicht ganz erlösen würde. |
2164 |
Diese Befreiung fühlte ich auch damals schon als das größte Erlebnis meines jungen Lebens — aber den Befreier selbst ließ ich links liegen, sobald er das Wunder vollführt hatte. Merkwürdig ist die Undankbarkeit, wie gesagt, mir nicht. Sonderbar ist mir einzig der Mangel an Neugierde, den ich bewies. |
2165 |
Ich sah mich plötzlich aus dämonischen Netzen entwirrt, sah wieder die Welt hell und freudig vor mir liegen, unterlag nicht mehr Angstanfällen und würgendem Herzklopfen. Der Bann war gebrochen, ich war nicht mehr ein gepeinigter Verdammter, ich war wieder ein Schulknabe wie immer. |
2166 |
Wunderbar schnell entglitt die ganze lange Geschichte meiner Schuld und Verängstigung meinem Gedächtnis, ohne scheinbar irgendwelche Narben und Eindrücke hinterlassen zu haben. Daß ich hingegen meinen Helfer und Retter ebenso rasch zu vergessen suchte, begreife ich heute auch. |
2167 |
Sie begriff nicht alles, aber sie sah die Büchse, sie sah meinen veränderten Blick, hörte meine veränderte Stimme, fühlte, daß ich genesen, daß ich ihr wiedergegeben war. Und nun beging ich mit hohen Gefühlen das Fest meiner Wiederaufnahme, die Heimkehr des verlorenen Sohnes. |
2168 |
Die Mutter brachte mich zum Vater, die Geschichte wurde wiederholt, Fragen und Ausrufe der Verwunderung drängten sich, beide Eltern streichelten mir den Kopf und atmeten aus langer Bedrückung auf. Alles war herrlich, alles war wie in den Erzählungen, alles löste sich in wunderbare Harmonie auf. |
2169 |
Die Beichte wäre weniger dekorativ und rührend, aber für mich fruchtbarer ausgefallen. Nun klammerte ich mich mit allen Wurzeln an meine ehemalige, paradiesische Welt, war heimgekehrt und in Gnaden aufgenommen. Demian aber gehörte zu dieser Welt keineswegs, paßte nicht in sie. |
2170 |
Wirklich hätten die Kainiten auch Ähnliches gelehrt und gepredigt; doch sei diese Ketzerei seit langem aus der Menschheit verschwunden und er wundere sich nur, daß ein Schulkamerad von mir etwas davon erfahren habe können. Immerhin ermahne er mich ernstlich, diese Gedanken zu unterlassen. |
2171 |
Mich interessieren nur die Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die hübschen Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht sie nochmals zu betreten. |
2172 |
Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. |
2173 |
Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. |
2174 |
Franz Kromer war längst aus meinem Leben verschwunden, kaum daß ich es achtete, wenn er mir je einmal begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Tragödie aber, Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umkreis. Doch stand er lange Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht wirksam. |
2175 |
Erst allmählich trat er wieder näher, strahlte wieder Kräfte und Einflüsse aus. Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß. Es mag sein, daß ich ein Jahr oder länger kein einziges Mal mit ihm gesprochen habe. Ich mied ihn, und er drängte sich keineswegs auf. |
2176 |
Mir schien es dann zuweilen, es sei in seiner Freundlichkeit ein feiner Klang von Hohn oder ironischem Vorwurf, doch mag das Einbildung gewesen sein. Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt hatte, und der seltsame Einfluß, den er damals auf mich geübt, waren wie vergessen, von ihm wie von mir. |
2177 |
Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und namentlich schien dies Gesicht mir, für einen Augenblick, nicht männlich oder kindlich, nicht alt oder jung, sondern irgendwie tausendjährig, irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläuften gestempelt als wir sie leben. |
2178 |
Tiere konnten so aussehen, oder Bäume, oder Sterne — ich wußte das nicht, ich empfand nicht genau das, was ich jetzt als Erwachsener darüber sage, aber etwas Ähnliches. Vielleicht war er schön, vielleicht gefiel er mir, vielleicht war er mir auch zuwider, auch das war nicht zu entscheiden. |
2179 |
Ich sah nur: er war anders als wir, er war wie ein Tier, oder wie ein Geist, oder wie ein Bild, ich weiß nicht, wie er war, aber er war anders, unausdenkbar anders als wir alle. Mehr sagt die Erinnerung mir nicht, und vielleicht ist auch dies zum Teil schon aus späteren Eindrücken geschöpft. |
2180 |
Im Zusammenhang damit meine ich auch den Verdacht vernommen zu haben, er lebe mit seiner Mutter wie mit einer Geliebten. Vermutlich war es so, daß er bisher ohne Konfession erzogen worden war, daß dies nun aber für seine Zukunft irgendwelche Unzuträglichkeiten fürchten ließ. |
2181 |
Und gerade damals hatte ich genug mit meinen eigenen Geheimnissen zu tun. Für mich fiel der Konfirmationsunterricht zusammen mit der Zeit der entscheidenden Aufklärungen in den geschlechtlichen Dingen, und trotz gutem Willen war mein Interesse für die fromme Belehrung dadurch sehr beeinträchtigt. |
2182 |
Irgend etwas schien uns zu verbinden. Ich muß diesem Faden möglichst genau nachgehen. Soviel ich mich besinnen kann, begann es in einer Stunde früh am Morgen, als noch Licht in der Schulstube brannte. Unser geistlicher Lehrer war auf die Geschichte Kains und Abels zu sprechen gekommen. |
2183 |
Erst allmählich merkte ich, während diese Scherze mich sehr belustigten, daß mein Freund mit mir häufig dasselbe Spiel treibe. Es kam vor, daß ich auf dem Schulweg plötzlich das Gefühl hatte, Demian gehe eine Strecke hinter mir, und wenn ich mich umwandte, war er richtig da. |
2184 |
Weder kann der andere denken, was er will, noch kann ich ihn denken machen, was ich will. Wohl aber kann man jemand gut beobachten, und dann kann man oft ziemlich genau sagen, was er denkt oder fühlt, und dann kann man meistens auch voraussehen, was er im nächsten Augenblick tun wird. |
2185 |
Man versucht das zu erklären, aber es geht schwer. Es muß eine Art Geruchssinn oder so etwas sein, etwa so wie gute Jagdhunde eine unmerkliche Spur finden und verfolgen können. Du begreifst? Das sind solche Sachen, die Natur ist voll davon, und niemand kann sie erklären. |
2186 |
Wenn ein Tier oder Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch. Das ist alles. Und genau so ist es mit dem, was du meinst. Sieh dir einen Menschen genau genug an, so weißt du mehr von ihm als er selber. |
2187 |
Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalter zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonstwohin richten wollte, so könnte er das nicht. Nur — er versucht das überhaupt nicht. Er sucht nur das, was Sinn und Wert für ihn hat, was er braucht, was er unbedingt haben muß. |
2188 |
Wenn ich zum Beispiel mir jetzt vornähme, ich wolle bewirken, daß unser Herr Pfarrer künftig keine Brille mehr trägt, so geht das nicht. Das ist bloß eine Spielerei. Aber als ich, damals im Herbst, den festen Willen bekam, aus meiner Bank da vorne versetzt zu werden, da ging es ganz gut. |
2189 |
Aber das dringt nicht bis in sein Bewußtsein, weil mein Wille dagegen ist, und weil ich ihn immer wieder daran hindere. Er merkt es immer wieder einmal, daß da etwas nicht stimmt, und sieht mich an und fängt an zu studieren, der gute Herr. Ich habe da aber ein einfaches Mittel. |
2190 |
Wenn du von jemand etwas erreichen willst, und siehst ihm unerwartet ganz fest in die Augen, und er wird gar nicht unruhig, dann gib es auf! Du erreichst nichts bei ihm, nie! Aber das ist sehr selten. Ich weiß eigentlich bloß einen einzigen Menschen, bei dem es mir nicht hilft. |
2191 |
Dann blickte er weg und gab keine Antwort, und ich konnte, trotz heftiger Neugierde, die Frage nicht wiederholen. Ich glaube aber, daß er damals von seiner Mutter sprach. — Mit ihr schien er sehr innig zu leben, sprach mir aber nie von ihr, nahm mich nie mit sich nach Hause. |
2192 |
Manchmal machte ich damals Versuche, es ihm gleichzutun und meinen Willen auf etwas so zusammenzuziehen, daß ich es erreichen müsse. Es waren Wünsche da, die mir dringend genug schienen. Aber es war nichts und ging nicht. Mit Demian davon zu sprechen, brachte ich nicht über mich. |
2193 |
Und er fragte auch nicht. Meine Gläubigkeit in den Fragen der Religion hatte inzwischen manche Lücken bekommen. Doch unterschied ich mich, in meinem durchaus von Demian beeinflußten Denken, sehr von denen meiner Mitschüler, welche einen völligen Unglauben aufzuweisen hatten. |
2194 |
Auch wo ich Zweifel hatte, wußte ich doch aus der ganzen Erfahrung meiner Kindheit genug von der Wirklichkeit eines frommen Lebens, wie es etwa meine Eltern führten, und daß dies weder etwas Unwürdiges noch geheuchelt sei. Vielmehr hatte ich vor dem Religiösen nach wie vor die tiefste Ehrfurcht. |
2195 |
Aber ich will dir etwas sagen —: hier ist einer von den Punkten, wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann. Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. |
2196 |
Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen Alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. |
2197 |
Doch war es nicht seine Art, so etwas auszunützen. Er hörte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er sie mir je geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen abwenden mußte. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame, tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter. |
2198 |
Man kann niemals etwas Verbotnes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. — Eigentlich ist es bloß eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. |
2199 |
Doch ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir allmählich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders zu begehen als die andern, sie sollte für mich die Aufnahme in eine Gedankenwelt bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte. |
2200 |
Die Stunde begann, ich gab mir Mühe, aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. |
2201 |
Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sondern wie feste, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben. Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. |
2202 |
Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. |
2203 |
Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre. Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. |
2204 |
Ich wurde jedoch bloß müde und bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern. Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind. Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. |
2205 |
Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir die Mutter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht, mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. |
2206 |
Der Abschied von der Heimat gelang sonderbar leicht, ich schämte mich eigentlich, daß ich nicht wehmütiger war, die Schwestern weinten grundlos, ich konnte es nicht. Ich war über mich selbst erstaunt. Immer war ich ein gefühlvolles Kind gewesen, und im Grunde ein ziemlich gutes Kind. |
2207 |
Ich war sehr rasch gewachsen, erst im letzten halben Jahre, und sah aufgeschossen, mager und unfertig in die Welt. Die Liebenswürdigkeit des Knaben war ganz von mir geschwunden, ich fühlte selbst, daß man mich so nicht lieben könne, und liebte mich selber auch keineswegs. |
2208 |
Er klopfte mir auf die Schulter, er nannte mich einen Teufelskerl und ein geniales Luder, und mir schwoll das Herz hoch auf vor Wonne, angestaute Bedürfnisse der Rede und Mitteilung schwelgerisch hinströmen zu lassen, anerkannt zu sein und bei einem Älteren etwas zu gelten. |
2209 |
Wir sprachen über Lehrer und Kameraden, und mir schien, wir verstünden einander herrlich. Wir sprachen von den Griechen und vom Heidentum, und Beck wollte mich durchaus zu Geständnissen über Liebesabenteuer bringen. Da konnte ich nun nicht mitreden. Erlebt hatte ich nichts, nichts zum Erzählen. |
2210 |
Von den Mädchen wußte Beck viel mehr, und ich hörte diesen Märchen glühend zu. Unglaubliches erfuhr ich da, nie für möglich Gehaltenes trat in die platte Wirklichkeit, schien selbstverständlich. Alfons Beck hatte mit seinen vielleicht achtzehn Jahren schon Erfahrungen gesammelt. |
2211 |
Ein falscher Klang war ja dabei, und es schmeckte alles geringer und alltäglicher als nach meiner Meinung die Liebe schmecken durfte, — aber immerhin, es war Wirklichkeit, es war Leben und Abenteuer, es saß einer neben mir, der es erlebt hatte, dem es selbstverständlich schien. |
2212 |
Als wir beide, spät an trüb brennenden Gaslaternen vorbei, in der kühlen nassen Nacht unsern Heimweg nahmen, war ich zum erstenmal betrunken. Es war nicht schön, es war äußerst qualvoll, und doch hatte auch das noch etwas, einen Reiz, eine Süßigkeit, war Aufstand und Orgie, war Leben und Geist. |
2213 |
Das war Ich! Trotz allem aber war es beinahe ein Genuß, diese Qualen zu leiden. So lange war ich blind und stumpf dahingekrochen, so lange hatte mein Herz geschwiegen und verarmt im Winkel gesessen, daß auch diese Selbstanklagen, dieses Grauen, dies ganze scheußliche Gefühl der Seele willkommen war. |
2214 |
Der erste Rausch war bald nicht mehr der erste. Es wurde an unsrer Schule viel gekneipt und Allotria getrieben, ich war einer der Allerjüngsten unter denen, die mittaten, und bald war ich kein Geduldeter und Kleiner mehr, sondern ein Anführer und Stern, ein berühmter wagehalsiger Kneipenbesucher. |
2215 |
Dabei war mir jammervoll zumute. Ich lebte in einem selbstzerstörerischen Orgiasmus dahin, und während ich bei den Kameraden für einen Führer und Teufelskerl, für einen verflucht schneidigen und witzigen Burschen galt, hatte ich tief in mir eine angstvolle Seele voller Bangnis flattern. |
2216 |
Ich tat, was ich mußte, weil ich sonst durchaus nicht wußte, was mit mir beginnen. Ich hatte Furcht vor langem Alleinsein, hatte Angst vor den vielen zarten, schamhaften, innigen Anwandlungen, zu denen ich mich stets geneigt fühlte, hatte Angst vor den zarten Liebesgedanken, die mir so oft kamen. |
2217 |
Eines fehlte mir am meisten — ein Freund. Es gab zwei oder drei Mitschüler, die ich sehr gerne sah. Aber sie gehörten zu den Braven, und meine Laster waren längst niemandem mehr ein Geheimnis. Sie mieden mich. Ich galt bei allen für einen hoffnungslosen Spieler, dem der Boden unter den Füßen wankte. |
2218 |
Ich selbst wußte das, ich war auch schon lange kein guter Schüler mehr, sondern drückte und schwindelte mich mühsam durch, mit dem Gefühl, daß das nicht mehr lange dauern könne. Es gibt viele Wege, auf denen der Gott uns einsam machen und zu uns selber führen kann. Diesen Weg ging er damals mit mir. |
2219 |
Ich machte mich dabei kaputt, und zuweilen sah für mich die Sache etwa so aus: Wenn die Welt Leute wie mich nicht brauchen konnte, wenn sie für sie keinen besseren Platz, keine höhern Aufgaben hatte, nun so gingen Leute wie ich eben kaputt. Mochte die Welt den Schaden haben. |
2220 |
Meine Mutter erschrak, als sie mich wiedersah. Ich war noch mehr gewachsen, und mein hageres Gesicht sah grau und verwüstet aus, mit schlaffen Zügen und entzündeten Augenrändern. Der erste Anflug des Schnurrbartes und die Brille, die ich seit kurzem trug, machten mich ihr noch fremder. |
2221 |
Der Tannenbaum duftete und erzählte von Dingen, die nicht mehr waren. Ich sehnte das Ende des Abends und der Feiertage herbei. Es ging den ganzen Winter so weiter. Erst vor kurzem war ich eindringlich vom Lehrersenat verwarnt und mit dem Ausschluß bedroht worden. Es würde nicht lang mehr dauern. |
2222 |
Nun, meinetwegen. Einen besonderen Groll hatte ich gegen Max Demian. Den hatte ich nun die ganze Zeit nicht mehr gesehen. Ich hatte ihm, am Beginn meiner Schülerzeit in St., zweimal geschrieben, aber keine Antwort bekommen; darum hatte ich ihn auch in den Ferien nicht besucht. |
2223 |
An jenem Frühlingstag im Park begegnete mir eine junge Dame, die mich sehr anzog. Sie war groß und schlank, elegant gekleidet, und hatte ein kluges Knabengesicht. Sie gefiel mir sofort, sie gehörte dem Typ an, den ich liebte, und sie begann meine Phantasien zu beschäftigen. |
2224 |
Sie stellte ihr Bild vor mir auf, sie öffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem Tempel. Von einem Tag auf den andern blieb ich von den Kneipereien und nächtlichen Streifzügen weg. Ich konnte wieder allein sein, ich las wieder gern, ich ging wieder gern spazieren. |
2225 |
Aber ich hatte nun etwas zu lieben und anzubeten, ich hatte wieder ein Ideal, das Leben war wieder voll von Ahnung und bunt geheimnisvoller Dämmerung — das machte mich unempfindlich. Ich war wieder bei mir selbst zu Hause, obwohl nur als Sklave und Dienender eines verehrten Bildes. |
2226 |
Ich tat nicht nur das üble Leben ab, an das ich mich gewöhnt hatte, ich suchte alles zu ändern, suchte Reinheit, Adel und Würde in alles zu bringen, dachte hieran in Essen und Trinken, Sprache und Kleidung. Ich begann den Morgen mit kalten Waschungen, zu denen ich mich anfangs schwer zwingen mußte. |
2227 |
Ich benahm mich ernst und würdig, trug mich aufrecht und machte meinen Gang langsamer und würdiger. Für Zuschauer mag es komisch ausgesehen haben — bei mir innen war es lauter Gottesdienst. Von all den neuen Übungen, in denen ich Ausdruck für meine neue Gesinnung suchte, wurde eine mir wichtig. |
2228 |
Schließlich tat ich darauf Verzicht und begann einfach ein Gesicht zu malen, der Phantasie und den Führungen folgend, die sich aus dem Begonnenen, aus Farbe und Pinsel von selber ergaben. Es war ein geträumtes Gesicht, das dabei herauskam, und ich war nicht unzufrieden damit. |
2229 |
Mehr und mehr gewöhnte ich mich daran, mit träumerischem Pinsel Linien zu ziehen und Flächen zu füllen, die ohne Vorbild waren, die sich aus spielendem Tasten, aus dem Unbewußten ergaben. Endlich machte ich eines Tages, fast bewußtlos, ein Gesicht fertig, das stärker als die früheren zu mir sprach. |
2230 |
Es schien mir eine Art von Götterbild oder heiliger Maske zu sein, halb männlich, halb weiblich, ohne Alter, ebenso willensstark wie träumerisch, ebenso starr wie heimlich lebendig. Dies Gesicht hatte mir etwas zu sagen, es gehörte zu mir, es stellte Forderungen an mich. |
2231 |
Das Bildnis begleitete nun eine Weile alle meine Gedanken und teilte mein Leben. Ich hielt es in einer Schieblade verborgen, niemand sollte es erwischen und mich damit verhöhnen können. Aber sobald ich allein in meinem Stübchen war, zog ich das Bild heraus und hatte Umgang mit ihm. |
2232 |
Später verglich ich das Blatt oft und oft mit Demians wirklichen Zügen, wie ich sie in meinem Gedächtnis fand. Sie waren gar nicht dieselben, obwohl ähnlich. Aber es war doch Demian. Einst an einem Frühsommerabend schien die Sonne schräg und rot durch mein Fenster, das nach Westen blickte. |
2233 |
So würde mein Leben und so mein Tod sein, dies war der Klang und Rhythmus meines Schicksals. In jenen Wochen hatte ich eine Lektüre begonnen, die mir tieferen Eindruck machte als alles, was ich früher gelesen. Auch später habe ich selten mehr Bücher so erlebt, vielleicht nur noch Nietzsche. |
2234 |
Meine Sehnsucht nach Max Demian wurde wieder mächtig. Ich wußte nichts von ihm, seit Jahren nichts. Ein einzigesmal hatte ich ihn in den Ferien angetroffen. Ich sehe jetzt, daß ich diese kurze Begegnung in meinen Aufzeichnungen unterschlagen habe, und sehe, daß es aus Scham und Eitelkeit geschah. |
2235 |
Also einmal in den Ferien, als ich mit dem blasierten und stets etwas müden Gesicht meiner Wirtshauszeit durch meine Vaterstadt schlenderte, meinen Spazierstock schwang und den Philistern in die alten, gleichgebliebenen, verachteten Gesichter sah, da kam mir mein ehemaliger Freund entgegen. |
2236 |
Es fiel mir ein, daß ich ihm einst mehrmals geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Ach, möchte er doch auch das vergessen haben, diese dummen, dummen Briefe! Er sagte nichts davon. Es gab damals noch keine Beatrice und kein Bildnis, ich war noch mitten in meiner wüsten Zeit. |
2237 |
Oder es war der, der in mir drinnen war. Der, der alles weiß. Wie hatte ich Sehnsucht nach Demian! Ich wußte nichts von ihm, er war mir nicht erreichbar. Ich wußte nur, daß er vermutlich irgendwo studiere und daß nach dem Abschluß seiner Gymnasiastenzeit seine Mutter unsere Stadt verlassen habe. |
2238 |
Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst gesagt hatte, und alles hatte heut noch Sinn, war aktuell, ging mich an! Auch das, was er bei unsrem letzten, so wenig erfreulichen Zusammentreffen über den Wüstling und den Heiligen gesagt hatte, stand mir plötzlich hell vor der Seele. |
2239 |
So ging ich weiter den Erinnerungen nach, es war längst Nacht geworden und draußen regnete es. Auch in meinen Erinnerungen hörte ich es regnen, es war die Stunde unter den Kastanienbäumen, wo er mich einst wegen Franz Kromer ausgefragt und meine ersten Geheimnisse erraten hatte. |
2240 |
Eines ums andre kam hervor, Gespräche auf dem Schulweg, die Konfirmationsstunden. Und zuletzt fiel mein allererstes Zusammentreffen mit Max Demian mir ein. Um was hatte es sich doch da gehandelt? Ich kam nicht gleich darauf, aber ich ließ mir Zeit, ich war ganz darein versunken. |
2241 |
Und nun kam es wieder, auch das. Wir waren vor unserem Hause gestanden, nachdem er mir seine Meinung über Kain mitgeteilt hatte. Da hatte er von dem alten verwischten Wappen gesprochen, das über unsrem Haustor saß, in dem von unten nach oben breiter werdenden Schlußstein. |
2242 |
In der Nacht träumte ich von Demian und von dem Wappen. Es verwandelte sich beständig, Demian hielt es in Händen, oft war es klein und grau, oft mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, daß es doch immer ein und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. |
2243 |
Als ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Erschrecken, daß der verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen zu verzehren beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte. Ich wurde munter, es war mitten in der Nacht, und hörte es ins Zimmer regnen. |
2244 |
Es lag in der Nässe am Boden und hatte sich in Wülste geworfen. Ich spannte es zum Trocknen zwischen Fließblätter in ein schweres Buch. Als ich am nächsten Tage wieder danach sah, war es getrocknet. Es hatte sich aber verändert. Der rote Mund war verblaßt und etwas schmäler geworden. |
2245 |
Ich kümmerte mich nicht darum und fing mit dem an, wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bedürfnis begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding in einigen Tagen fertig. |
2246 |
Er stak mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das Blatt länger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das farbige Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war. |
2247 |
Ich schrieb nichts darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die Ränder sorgfältig, kaufte einen großen Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse darauf. Dann schickte ich es fort. Ein Examen kam näher, und ich mußte mehr als sonst für die Schule arbeiten. |
2248 |
Ein guter Schüler war ich auch jetzt wohl nicht, aber weder ich noch sonst jemand dachte noch daran, daß vor einem halben Jahr meine strafweise Entlassung aus der Schule allen wahrscheinlich gewesen war. Mein Vater schrieb mir jetzt wieder mehr in dem Ton wie früher, ohne Vorwürfe und Drohungen. |
2249 |
Ich wußte es selber ja nicht, ich stand ja mitten drin. Mit Beatrice hatte es angefangen, aber seit einiger Zeit lebte ich mit meinen gemalten Blättern und meinen Gedanken an Demian in einer so ganz unwirklichen Welt, daß ich auch sie völlig aus den Augen und Gedanken verlor. |
2250 |
In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buch stecken. Er war genau so gefaltet, wie es bei uns üblich war, wenn Klassengenossen zuweilen während einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. |
2251 |
Mich wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschicke, denn ich stand mit keinem Mitschüler je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die Aufforderung zu irgendeinem Schülerspaß sein, an dem ich doch nicht teilnehmen würde, und legte den Zettel ungelesen vorn in mein Buch. |
2252 |
Die nächste begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem ganz jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde anmaßte. Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. |
2253 |
Aber diesmal war ich nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Übersetzen nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich schon mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. |
2254 |
Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ. Ja, wenn man zerstreut war oder schläfrig, dann stand er plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. |
2255 |
Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte. |
2256 |
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schreck erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. |
2257 |
Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab es eine Beschäftigung mit philosophisch-mystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. |
2258 |
So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anführte. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet. |
2259 |
Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel und innig beschäftigt gewesen war, sank nun allmählich unter, oder vielmehr sie trat langsam von mir hinweg, näherte sich mehr und mehr dem Horizont und wurde schattenhafter, ferner, blasser. Sie genügte der Seele nicht mehr. |
2260 |
Oft erwachte ich aus diesem Traume mit tiefem Glücksgefühl, oft mit Todesangst und gequältestem Gewissen wie aus furchtbarer Sünde. Nur allmählich und unbewußt kam zwischen diesem ganz innerlichen Bilde und dem mir von außen zugekommenen Wink über den zu suchenden Gott eine Verbindung zustande. |
2261 |
Im nächsten Frühjahr sollte ich das Gymnasium verlassen und studieren gehen, ich wußte noch nicht wo und was. Auf meinen Lippen wuchs ein kleiner Bart, ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. |
2262 |
Vielleicht war ich verrückt, dachte ich nicht selten, vielleicht war ich nicht wie andere Menschen? Aber ich konnte das, was andre leisteten, alles auch tun, mit ein wenig Fleiß und Bemühung konnte ich Plato lesen, konnte trigonometrische Aufgaben lösen oder einer chemischen Analyse folgen. |
2263 |
Nur eines konnte ich nicht: das in mir dunkel verborgene Ziel herausreißen und irgendwo vor mich hinmalen, wie andere es taten, welche genau wußten, daß sie Professor oder Richter, Arzt oder Künstler werden wollten, wie lang das dauern und was für Vorteile es haben würde. |
2264 |
Das konnte ich nicht. Vielleicht wurde ich auch einmal so etwas, aber wie sollte ich das wissen. Vielleicht mußte ich auch suchen und weitersuchen, jahrelang, und wurde nichts, und kam an kein Ziel. Vielleicht kam ich auch an ein Ziel, aber es war ein böses, gefährliches, furchtbares. |
2265 |
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer? Oft machte ich den Versuch, die mächtige Liebesgestalt meines Traumes zu malen. Es gelang aber nie. Wäre es mir gelungen, so hätte ich das Blatt an Demian gesandt. |
2266 |
Aber so war es immer — kaum war ein Zustand mir lieb geworden, kaum hatte ein Traum mir wohlgetan, so wurde er auch schon welk und blind. Vergebens, ihm nachzuklagen! Ich lebte jetzt in einem Feuer von ungestilltem Verlangen, von gespanntem Erwarten, das mich oft völlig wild und toll machte. |
2267 |
Jenen ganzen Winter verlebte ich in einem inneren Sturm, den ich schwer beschreiben kann. An die Einsamkeit war ich lang gewöhnt, sie drückte mich nicht, ich lebte mit Demian, mit dem Sperber, mit dem Bild der großen Traumgestalt, die mein Schicksal und meine Geliebte war. |
2268 |
Sie kamen und nahmen mich, ich wurde von ihnen regiert, wurde von ihnen gelebt. Wohl war ich nach außen gesichert. Vor Menschen hatte ich keine Furcht, das hatten auch meine Mitschüler gelernt und brachten mir eine heimliche Achtung entgegen, die mich oft lächeln machte. |
2269 |
Als ich das nächstemal vorüberkam, hörte ich es wieder, und erkannte, daß Bach gespielt wurde. Ich ging zum Tor, das ich geschlossen fand, und da die Gasse fast ohne Menschen war, setzte ich mich neben der Kirche auf einen Prellstein, schlug den Mantelkragen um mich und hörte zu. |
2270 |
Ich verstehe, im Sinn der Technik, nicht sehr viel von Musik, aber ich habe gerade diesen Ausdruck der Seele von Kind auf instinktiv verstanden und das Musikalische als etwas Selbstverständliches in mir gefühlt. Der Musiker spielte darauf auch etwas Modernes, es konnte von Reger sein. |
2271 |
Ich wartete, bis die Musik zu Ende war, und strich dann auf und ab, bis ich den Organisten herauskommen sah. Es war ein noch junger Mensch, doch älter als ich, vierschrötig und untersetzt von Gestalt, und er lief rasch mit kräftigen und gleichsam unwilligen Schritten davon. |
2272 |
Er saß am Wirtstisch in einer Ecke der kleinen Stube, den schwarzen Filzhut auf dem Kopf, einen Schoppen Wein vor sich, und sein Gesicht war so, wie ich es erwartet hatte. Es war häßlich und etwas wild, suchend und verbohrt, eigensinnig und willensvoll, dabei um den Mund weich und kindlich. |
2273 |
Ich höre gern Musik, aber bloß solche, wie Sie sie spielen, ganz unbedingte Musik, solche, bei der man spürt, daß da ein Mensch an Himmel und Hölle rüttelt. Die Musik ist mir sehr lieb, ich glaube, weil sie so wenig moralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. |
2274 |
Er führte mich in einer alten Gasse durch ein altes, stattliches Haus empor und in ein großes, etwas düsteres und verwahrlostes Zimmer, wo außer einem Klavier nichts auf Musik deutete, während ein großer Bücherschrank und Schreibtisch dem Raum etwas Gelehrtenhaftes gaben. |
2275 |
Ich war Theologe und habe kurz vor dem Staatsexamen diese biedere Fakultät verlassen. Obgleich ich eigentlich noch immer beim Fach bin, was meine Privatstudien betrifft. Was für Götter die Leute sich jeweils ausgedacht haben, das ist mir noch immer höchst wichtig und interessant. |
2276 |
Er starrte ins Feuer, das auch mich anzog, und wir lagen schweigend wohl eine Stunde lang auf dem Bauch vor dem flackernden Holzfeuer, sahen es flammen und brausen, einsinken und sich krümmen, verflackern und zucken und endlich in stiller, versunkener Glut am Boden brüten. |
2277 |
Er stand nicht auf, und da die Lampe gelöscht war, mußte ich mich mit Mühe durchs finstere Zimmer und die finsteren Gänge und Treppen aus dem verwunschenen alten Hause tasten. Auf der Straße machte ich halt und sah an dem alten Hause hinauf. In keinem Fenster brannte Licht. |
2278 |
Erst zu Hause, als ich nach dem Abendessen allein in meinem kleinen Zimmer saß, fiel mir ein, daß ich weder über Abraxas noch sonst etwas von Pistorius erfahren habe, daß wir überhaupt kaum zehn Worte gewechselt hatten. Aber ich war mit meinem Besuch bei ihm sehr zufrieden. |
2279 |
In den Tagen nach meinem ersten Besuch bei Pistorius begann dies mir wieder einzufallen. Denn ich merkte, daß ich eine gewisse Stärkung und Freude, eine Steigerung meines Gefühls von mir selbst, die ich seither spürte, lediglich dem langen Starren ins offene Feuer verdankte. |
2280 |
Sie sehen doch, wie viele von ihnen Fische oder Schafe, Würmer oder Egel sind, wie viele Ameisen, wie viele Bienen! Nun, in jedem von ihnen sind die Möglichkeiten zum Menschen da, aber erst, indem er sie ahnt, indem er sie teilweise sogar bewußt machen lernt, gehören diese Möglichkeiten ihm. |
2281 |
Ich hatte einen Traum, in dem ich fliegen konnte, jedoch so, daß ich gewissermaßen von einem großen Schwung durch die Luft geschleudert wurde, dessen ich nicht Herr war. Das Gefühl dieses Fluges war erhebend, ward aber bald zur Angst, als ich mich willenlos in bedenkliche Höhen gerissen sah. |
2282 |
Es ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. |
2283 |
Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungewöhnlicher junger Mensch, in hundert Dingen frühreif, in hundert andern Dingen sehr zurück und hilflos. Wenn ich mich je und je mit anderen verglich, war ich oft stolz und eingebildet gewesen, ebenso oft aber niedergedrückt und gedemütigt. |
2284 |
Oft hatte ich mich für ein Genie angesehen, oft für halb verrückt. Es gelang mir nicht, Freuden und Leben der Altersgenossen mitzumachen, und oft hatte ich mich in Vorwürfen und Sorgen verzehrt, als sei ich hoffnungslos von ihnen getrennt, als sei mir das Leben verschlossen. |
2285 |
Pistorius, welcher selbst ein ausgewachsener Sonderling war, lehrte mich den Mut und die Achtung vor mir selbst bewahren. Indem er in meinen Worten, in meinen Träumen, in meinen Phantasien und Gedanken stets Wertvolles fand, sie stets ernst nahm und ernsthaft besprach, gab er mir das Beispiel. |
2286 |
Sie dürfen sich nicht mit andern vergleichen, und wenn die Natur Sie zur Fledermaus geschaffen hat, dürfen Sie sich nicht zum Vogel Strauß machen wollen. Sie halten sich manchmal für sonderbar, Sie werfen sich vor, daß Sie andere Wege gehen als die meisten. Das müssen Sie verlernen. |
2287 |
Und diesen Traum konnte ich meinem Freunde nie erzählen. Ihn behielt ich zurück, wenn ich ihm alles andre erschlossen hatte. Er war mein Winkel, mein Geheimnis, meine Zuflucht. Wenn ich bedrückt war, dann bat ich Pistorius, er möge mir die Passacaglia des alten Buxtehude spielen. |
2288 |
Priester sein, ist mein Beruf und mein Ziel. Nur war ich zu früh zufrieden und stellte mich dem Jehova zur Verfügung, noch ehe ich den Abraxas kannte. Ach, jede Religion ist schön. Religion ist Seele, einerlei, ob man ein christliches Abendmahl nimmt oder ob man nach Mekka wallfahrt. |
2289 |
Sie können mir glauben. Ich habe damit viel verloren, daß ich in Ihren Jahren meine Liebesträume vergewaltigt habe. Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht. |
2290 |
Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht. Nein, aber Sie sollen diese Einfälle, die ihren guten Sinn haben, nicht dadurch schädlich machen, daß Sie sie vertreiben und an ihnen herummoralisieren. |
2291 |
Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wein trinken und dabei das Mysterium des Opfers denken. Man kann, auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. |
2292 |
Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. |
2293 |
Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit glühenden und vereinsamten Augen, als folge er einem dunklen Ruf aus dem Unbekannten. Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb wie an unsichtbarem Draht gezogen dahin, mit fanatischem und doch aufgelöstem Gang, wie ein Gespenst. |
2294 |
In den Pausen zwischen den Schulstunden war mir zuweilen aufgefallen, daß ein Mitschüler meine Nähe suchte, den ich nie beachtet hatte. Es war ein kleiner, schwach aussehender, schmächtiger Jüngling mit rötlich blondem, dünnem Haar, der in Blick und Benehmen etwas Eigenes hatte. |
2295 |
Die denke ich dann in mich hinein, so stark ich kann, ich suche sie mir innen in meinem Kopf vorzustellen, bis ich fühle, daß sie darin ist. Dann denke ich sie in den Hals, und so weiter, bis ich ganz davon ausgefüllt bin. Dann bin ich ganz fest, und nichts mehr kann mich aus der Ruhe bringen. |
2296 |
Man kann einander da nicht helfen. Mir hat auch niemand geholfen. Du mußt dich auf dich selber besinnen, und dann mußt du das tun, was wirklich aus deinem Wesen kommt. Es gibt nichts anderes. Wenn du dich selber nicht finden kannst, dann wirst du auch keine Geister finden, glaube ich. |
2297 |
Als diese Zeichnung nach einigen Tagen fertig war, in traumhaften Viertelstunden wie bewußtlos hingestrichen, hängte ich sie am Abend an meiner Wand auf, rückte die Studierlampe davor und stand vor ihr wie vor einem Geist, mit dem ich kämpfen mußte bis zur Entscheidung. |
2298 |
Am Ende schloß ich, einem starken inneren Rufe folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir, stärker und mächtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr in mir innen, daß ich es nicht mehr von mir trennen konnte, als wäre es zu lauter Ich geworden. |
2299 |
Ich suchte das Bild, es hing nicht mehr an der Wand, lag auch nicht auf dem Tische. Da meinte ich mich dunkel zu besinnen, daß ich es verbrannt hätte. Oder war es ein Traum gewesen, daß ich es in meinen Händen verbrannt und die Asche gegessen hätte? Eine große, zuckende Unruhe trieb mich. |
2300 |
Erst jetzt kam mir die Erinnerung an unser Gespräch. War das vor vier, fünf Tagen gewesen? Mir schien seither ein Leben vergangen. Aber jetzt wußte ich plötzlich alles. Nicht nur, was zwischen uns geschehen war, sondern auch, warum ich hergekommen war und was Knauer hier draußen hatte tun wollen. |
2301 |
Indessen waren es nicht diese Gelehrsamkeiten, die mich im Innern förderten, sondern eher das Gegenteil. Was mir wohltat, war das Vorwärtsfinden in mir selber, das zunehmende Vertrauen in meine eigenen Träume, Gedanken und Ahnungen, und das zunehmende Wissen von der Macht, die ich in mir trug. |
2302 |
Ich brauchte nur stark an ihn zu denken, so war ich sicher, daß er oder ein Gruß von ihm zu mir kam. Ich konnte ihn, ebenso wie Demian, irgend etwas fragen, ohne daß er selbst da war: ich brauchte ihn mir nur fest vorzustellen und meine Fragen als intensive Gedanken an ihn zu richten. |
2303 |
Dann kehrte alle in die Frage gegebene Seelenkraft als Antwort in mich zurück. Nur war es nicht die Person des Pistorius, die ich mir vorstellte, und nicht die des Max Demian, sondern es war das von mir geträumte und gemalte Bild, das mannweibliche Traumbild meines Dämons, das ich anrufen mußte. |
2304 |
Es lebte jetzt nicht mehr nur in meinen Träumen, und nicht mehr gemalt auf Papier, sondern in mir, als ein Wunschbild und eine Steigerung meiner selbst. Eigentümlich und zuweilen komisch war das Verhältnis, in welches der mißglückte Selbstmörder Knauer zu mir getreten war. |
2305 |
Er traute mir jede Macht zu. Aber seltsam war, daß er oft mit seinen wunderlichen und dummen Fragen gerade dann zu mir kam, wenn irgendein Knoten in mir zu lösen war, und daß seine launischen Einfälle und Anliegen mir oft das Stichwort und den Anstoß zur Lösung brachten. |
2306 |
Langsam hatte ein Gefühl in mir sich mit der Zeit dagegen gewendet, meinen Freund Pistorius so unbedingt als Führer anzuerkennen. Was ich in den wichtigsten Monaten meiner Jünglingszeit erlebt hatte, war die Freundschaft mit ihm, war sein Rat, sein Trost, seine Nähe gewesen. |
2307 |
Aus seinem Munde waren meine Träume mir zurückgekehrt, geklärt und gedeutet. Er hatte mir den Mut zu mir selber geschenkt. — Ach, und nun spürte ich langsam anwachsend Widerstände gegen ihn. Ich hörte zu viel Belehrendes in seinen Worten, ich empfand, daß er nur einen Teil von mir ganz verstehe. |
2308 |
Ich sagte ihm nur ein einziges, eigentlich harmloses Wort — aber es war doch eben der Augenblick, in dem zwischen uns eine Illusion in farbige Scherben zerfiel. Gedrückt hatte die Vorausahnung mich schon eine Weile, zum deutlichen Gefühl wurde sie eines Sonntags in seiner alten Gelehrtenstube. |
2309 |
Was hatte ich getan! Die Tränen waren mir nah, ich wollte mich ihm herzlich zuwenden, wollte ihn um Verzeihung bitten, ihn meiner Liebe, meiner zärtlichen Dankbarkeit versichern. Rührende Worte fielen mir ein — aber ich konnte sie nicht sagen. Ich blieb liegen, sah ins Feuer und schwieg. |
2310 |
Ich hatte eine kleine achtlose Roheit begangen, und für ihn war sie ein Gericht geworden. O wie sehr habe ich mir damals gewünscht, er möchte böse geworden sein, er möchte sich verteidigt, möchte mich angeschrien haben! Er tat nichts davon, alles das mußte ich, in mir drinnen, selber tun. |
2311 |
Und indem Pistorius den Schlag von mir, von seinem vorlauten und undankbaren Schüler, so lautlos hinnahm, indem er schwieg und mir Recht ließ, indem er mein Wort als Schicksal anerkannte, machte er mich mir selbst verhaßt, machte er meine Unbesonnenheit tausendmal größer. |
2312 |
Lange Zeit blieben wir vor dem verglimmenden Feuer liegen, in dem jede glühende Figur, jeder sich krümmende Aschenstab mir glückliche, schöne, reiche Stunden ins Gedächtnis rief und die Schuld meiner Verpflichtung gegen Pistorius größer und größer anhäufte. Zuletzt ertrug ich es nicht mehr. |
2313 |
Ich stand auf und ging. Lange stand ich vor seiner Tür, lange auf der finstern Treppe, lange noch draußen vor dem Hause, wartend, ob er vielleicht käme und mir nachginge. Dann ging ich weiter und lief Stunden um Stunden durch Stadt und Vorstädte, Park und Wald, bis zum Abend. |
2314 |
Es war falsch, neue Götter zu wollen, es war völlig falsch, der Welt irgend etwas geben zu wollen! Es gab keine, keine, keine Pflicht für erwachte Menschen als die eine: sich selber zu suchen, in sich fest zu werden, den eigenen Weg vorwärts zu tasten, einerlei wohin er führte. |
2315 |
Viel Einsamkeit hatte ich schon gekostet. Nun ahnte ich, daß es tiefere gab, und daß sie unentrinnbar sei. Ich machte keinen Versuch, Pistorius zu versöhnen. Wir blieben Freunde, aber das Verhältnis war geändert. Nur ein einzigesmal sprachen wir darüber, oder eigentlich nur er war es, der es tat. |
2316 |
Ich werde eben andre Priesterdienste tun, vielleicht auf der Orgel, vielleicht sonstwie. Aber ich muß immer von etwas umgeben sein, was ich als schön und heilig empfinde, Orgelmusik und Mysterium, Symbol und Mythus, ich brauche das und will nicht davon lassen. — Das ist meine Schwäche. |
2317 |
Es wäre größer, es wäre richtiger, wenn ich ganz einfach dem Schicksal zur Verfügung stünde, ohne Ansprüche. Aber ich kann das nicht; es ist das einzige, was ich nicht kann. Vielleicht können Sie es einmal. Es ist schwer, es ist das einzige wirklich Schwere, was es gibt, mein Junge. |
2318 |
Wissen Sie, das ist Jesus im Garten Gethsemane. Es hat Märtyrer gegeben, die sich gern ans Kreuz schlagen ließen, aber auch sie waren keine Helden, waren nicht befreit, auch sie wollten etwas, was ihnen liebgewohnt und heimatlich war, sie hatten Vorbilder, sie hatten Ideale. |
2319 |
Und diesen Weg müßte man eigentlich gehen. Leute wie ich und Sie sind ja recht einsam, aber wir haben doch noch einander, wir haben die heimliche Genugtuung, anders zu sein, uns aufzulehnen, das Ungewöhnliche zu wollen. Auch das muß wegfallen, wenn einer den Weg ganz gehen will. |
2320 |
Einigemal fühlte ich etwas davon, wenn ich eine ganz stille Stunde fand. Dann blickte ich in mich und sah meinem Schicksalsbild in die offenstarren Augen. Sie konnten voll Weisheit sein, sie konnten voll Wahnsinn sein, sie konnten Liebe strahlen oder tiefe Bosheit, es war einerlei. |
2321 |
Meine Schulzeit war zu Ende. Ich sollte eine Ferienreise machen, mein Vater hatte sich das ausgedacht, und dann sollte ich zur Universität gehen. Zu welcher Fakultät, das wußte ich nicht. Es war mir ein Semester Philosophie bewilligt. Ich wäre mit allem andern ebenso zufrieden gewesen. |
2322 |
Ich fragte nach der Familie Demian. Sie erinnerte sich ihrer gut. Doch wußte sie nicht, wo sie jetzt wohnten. Da sie mein Interesse spürte, nahm sie mich mit ins Haus, suchte ein ledernes Album hervor und zeigte mir eine Photographie von Demians Mutter. Ich konnte mich ihrer kaum mehr erinnern. |
2323 |
Es gab andere Tage, da sah ich ein, wie unnütz mein Suchen sei; dann saß ich untätig irgendwo in einem Park, in einem Hotelgarten, in einem Wartesaal, und schaute in mich hinein und versuchte das Bild in mir lebendig zu machen. Aber es war jetzt scheu und flüchtig geworden. |
2324 |
Und plötzlich erschien die Gestalt mir wieder nachts in einem Traume, ich erwachte mit einem beschämten und öden Gefühl von der Sinnlosigkeit meiner Jagd, und fuhr geraden Weges nach Hause zurück. Ein paar Wochen später ließ ich mich auf der Universität H. einschreiben. |
2325 |
Spät am Abend schlenderte ich einst durch die Stadt, im wehenden Herbstwind, und hörte aus den Wirtshäusern die Studentenvereine singen. Aus geöffneten Fenstern drang Tabakrauch in Wolken hervor, und in dickem Schwall der Gesang, laut und straff, doch unbeschwingt und leblos uniform. |
2326 |
Wir plauderten bald wie früher. Wir gedachten der Schulzeit, des Konfirmationsunterrichtes, auch jenes unglücklichen Beisammenseins damals in den Ferien — nur von dem frühesten und engsten Bande zwischen uns, von der Geschichte mit Franz Kromer, war auch jetzt nicht die Rede. |
2327 |
Wir hatten, an jene Unterhaltung Demians mit dem Japaner anklingend, vom Studentenleben gesprochen und waren von da auf anderes gekommen, das weitab zu liegen schien; doch verband es sich in Demians Worten zu einem innigen Zusammenhang. Er sprach vom Geist Europas und von der Signatur dieser Zeit. |
2328 |
Eine Gemeinschaft von lauter Menschen, die vor dem Unbekannten in sich selber Angst haben! Sie fühlen alle, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben, weder ihre Religionen noch ihre Sittlichkeit, nichts von allem ist dem angemessen, was wir brauchen. |
2329 |
Hundert und mehr Jahre lang hat Europa bloß noch studiert und Fabriken gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet, sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergnügt sein kann. |
2330 |
Hoffnungslos! — Lieber Sinclair, aus alledem kann nichts Heiteres kommen. Diese Menschen, die sich so ängstlich zusammentun, sind voll von Angst und voll von Bosheit, keiner traut dem andern. Sie hängen an Idealen, die keine mehr sind, und steinigen jeden, der ein neues aufstellt. |
2331 |
Ob die Arbeiter ihre Fabrikanten totschlagen, oder ob Rußland oder Deutschland aufeinander schießen, es werden nur Besitzer getauscht. Aber umsonst wird es doch nicht sein. Es wird die Wertlosigkeit der heutigen Ideale dartun, es wird ein Aufräumen mit steinzeitlichen Göttern geben. |
2332 |
Nur daß wir damit nicht erledigt sind. Um das, was von uns bleibt, oder um die von uns, die es überleben, wird der Wille der Zukunft sich sammeln. Der Wille der Menschheit wird sich zeigen, den unser Europa eine Zeitlang mit seinem Jahrmarkt von Technik und Wissenschaft überschrien hat. |
2333 |
Und dann wird sich zeigen, daß der Wille der Menschheit nie und nirgends gleich ist mit dem der heutigen Gemeinschaften, der Staaten und Völker, der Vereine und Kirchen. Sondern das, was die Natur mit dem Menschen will, steht in den einzelnen geschrieben, in dir und mir. |
2334 |
Als ich jedoch in meiner entlegenen Wohnung angekommen war und mein Bett suchte, waren alle diese Gedanken verflogen, und mein ganzer Sinn hing wartend an dem großen Versprechen, das mir dieser Tag gegeben hatte. Sobald ich wollte, morgen schon, sollte ich Demians Mutter sehen. |
2335 |
Mochten die Studenten ihre Kneipen abhalten und sich die Gesichter tätowieren, mochte die Welt faul sein und auf ihren Untergang warten — was ging es mich an! Ich wartete einzig darauf, daß mein Schicksal mir in einem neuen Bilde entgegentrete. Ich schlief fest bis spät am Morgen. |
2336 |
Ich war voll innerster Unruhe, doch ohne jede Angst. Ich fühlte, daß ein wichtiger Tag für mich angebrochen sei, ich sah und empfand die Welt um mich her verwandelt, wartend, beziehungsvoll und feierlich, auch der leise fließende Herbstregen war schön, still und festtäglich voll ernstfroher Musik. |
2337 |
Sie ließ mich in der Halle allein. Ich sah mich um, und sogleich war ich mitten in meinem Traume. Oben an der dunkeln Holzwand, über einer Tür, hing unter Glas in einem schwarzen Rahmen ein wohlbekanntes Bild, mein Vogel mit dem goldgelben Sperberkopf, der sich aus der Weltschale schwang. |
2338 |
Aber ebenso wie Max vor Zeiten auf niemand den Eindruck eines Knaben gemacht hatte, so sah seine Mutter gar nicht wie die Mutter eines erwachsenen Sohnes aus, so jung und süß war der Hauch über ihrem Gesicht und Haar, so straff und faltenlos war ihre goldige Haut, so blühend der Mund. |
2339 |
Ich faßte keine Entschlüsse, tat keine Gelübde — ich war an ein Ziel gekommen, an eine hohe Wegstelle, von wo aus der weitere Weg sich weit und herrlich zeigte, Ländern der Verheißung entgegenstrebend, überschattet von Baumwipfeln nahen Glückes, gekühlt von nahen Gärten jeder Lust. |
2340 |
Dann fand ich Beatrice, und dann kam endlich wieder ein Führer zu mir. Er hieß Pistorius. Erst da wurde mir klar, warum meine Knabenzeit so sehr an Max gebunden war, warum ich nicht von ihm loskommen konnte. Liebe Frau — liebe Mutter, ich habe damals oft geglaubt, ich müsse mir das Leben nehmen. |
2341 |
Sachte tropfte der Regen aus den Zweigen. Ich ging langsam in den Garten hinein, der sich weit das Flußufer entlang zog. Endlich fand ich Demian. Er stand in einem offenen Gartenhäuschen, mit nacktem Oberkörper, und machte vor einem aufgehängten Sandsäckchen Boxübungen. |
2342 |
Unsre Aufgabe war, in der Welt eine Insel darzustellen, vielleicht ein Vorbild, jedenfalls aber die Ankündigung einer anderen Möglichkeit zu leben. Ich lernte, ich lang Vereinsamter, die Gemeinschaft kennen, die zwischen Menschen möglich ist, welche das völlige Alleinsein gekostet haben. |
2343 |
Die Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt, die man seit so langem immer und immer wieder weglügt und betäubt. |
2344 |
Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. |
2345 |
Ob es dieselben Exemplare waren, welche vorher in ihrer Art als Konservative und Erhaltende hervorragten, oder eher die Sonderlinge und Revolutionäre, das wissen wir nicht. Sie waren bereit, und darum konnten sie ihre Art in neue Entwicklungen hinüber retten. Das wissen wir. |
2346 |
Ich weiß, was Sie wünschen. Sie müssen diese Wünsche aufgeben können, oder sie ganz und richtig wünschen. Wenn Sie einmal so zu bitten vermögen, daß Sie der Erfüllung in sich ganz gewiß sind, dann ist auch die Erfüllung da. Sie wünschen aber, und bereuen es wieder, und haben Angst dabei. |
2347 |
Er zog sich ganz in seine Seele zurück und meinte vor Liebe zu verbrennen. Die Welt ging ihm verloren, er sah den blauen Himmel und den grünen Wald nicht mehr, der Bach rauschte ihm nicht, die Harfe klang ihm nicht, alles war versunken, und er war arm und elend geworden. |
2348 |
Ich hatte beim Lesen eines Buches eine neue Erkenntnis, und es war dasselbe Gefühl wie ein Kuß von Frau Eva. Sie streichelte mir das Haar und lächelte mir ihre reife duftende Wärme zu, und ich hatte dasselbe Gefühl, wie wenn ich in mir selbst einen Fortschritt gemacht hatte. |
2349 |
Er schien nicht zu atmen. Erinnerung überschauerte mich — so, genau so hatte ich ihn schon einmal gesehen, vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war. So hatten die Augen nach innen gestarrt, so waren die Hände leblos nebeneinander gelegen, eine Fliege war ihm übers Gesicht gewandert. |
2350 |
Natürlich. Niemand träumt, was ihn nicht angeht. Aber es geht mich nicht allein an, da hast du recht. Ich unterscheide ziemlich genau die Träume, die mir Bewegungen in der eigenen Seele anzeigen, und die anderen, sehr seltenen, in denen das ganze Menschenschicksal sich andeutet. |
2351 |
Die Deutungen sind zu ungewiß. Aber das weiß ich bestimmt, ich habe etwas geträumt, was nicht mich allein angeht. Der Traum gehört nämlich zu anderen, früheren, die ich hatte und die er fortsetzt. Diese Träume sind es, Sinclair, aus denen ich die Ahnungen habe, von denen ich dir schon sprach. |
2352 |
Aber ich habe seit mehreren Jahren Träume gehabt, aus denen ich schließe, oder fühle, oder wie du willst — aus denen ich also fühle, daß der Zusammenbruch einer alten Welt näher rückt. Es waren zuerst ganz schwache, entfernte Ahnungen, aber sie sind immer deutlicher und stärker geworden. |
2353 |
Ich ahnte, daß dies der Vorklang jener neuen, höheren Gemeinschaft sei, an die wir dachten. Und je und je ergriff mich über dies Glück eine tiefe Trauer, denn ich wußte wohl, es konnte nicht von Dauer sein. Mir war nicht beschieden, in Fülle und Behagen zu atmen, ich brauchte Qual und Hetze. |
2354 |
Als ich aus der furchtbaren Anspannung erwachte, fühlte ich, daß etwas käme. Ich war zu Tode erschöpft, aber ich war bereit, Eva ins Zimmer treten zu sehen, brennend und entzückt. Hufgetrappel hämmerte jetzt die lange Straße heran, klang nah und hart, hielt plötzlich an. |
2355 |
Erst jetzt besann ich mich wieder auf das, was vor einer Viertelstunde gewesen war. Wie hatte sich die Welt verwandelt! Alle Kraft hatte ich zusammengerissen, um das süßeste Bild zu beschwören, und nun sah mich das Schicksal plötzlich neu aus einer drohend grauenhaften Maske an. |
2356 |
Wie seltsam, daß jetzt der Strom der Welt nicht mehr irgendwo an uns vorbei laufen sollte —, daß er jetzt plötzlich mitten durch unsere Herzen ging, daß Abenteuer und wilde Schicksale uns riefen, und daß jetzt oder bald der Augenblick da war, wo die Welt uns brauchte, wo sie sich verwandeln wollte. |
2357 |
Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher von ihnen starb an meiner Seite — denen war gefühlhaft die Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele, waren ganz zufällig. |
2358 |
Jetzt, auf meinem dunklen Posten, dachte ich mit Innigkeit an die Bilder meines bisherigen Lebens, an Frau Eva, an Demian. Ich stand an eine Pappel gelehnt und starrte in den bewegten Himmel, dessen heimlich zuckende Helligkeiten bald zu großen, quellenden Bilderfolgen wurden. |
2359 |
Ein Traum schien Gewalt über sie zu haben, sie schloß die Augen und ihr großes Antlitz verzog sich in Weh. Plötzlich schrie sie hell auf, und aus ihrer Stirn sprangen Sterne, viele tausend leuchtende Sterne, die schwangen sich in herrlichen Bogen und Halbkreisen über den schwarzen Himmel. |
2360 |
Ich lag in einem Keller, Geschütze brummten über mir. Ich lag in einem Wagen und holperte über leere Felder. Meistens schlief ich oder war ohne Bewußtsein. Aber je tiefer ich schlief, desto heftiger empfand ich, daß etwas mich zog, daß ich einer Kraft folgte, die über mich Herr war. |
2361 |
Nun lag ich in einem Saal, am Boden gebettet, und fühlte, daß ich dort sei, wohin ich gerufen war. Ich blickte um mich, dicht neben meiner Matratze lag eine andre, und jemand auf ihr, der neigte sich vor und sah mich an. Er hatte das Zeichen auf der Stirn. Es war Max Demian. |
2362 |
Ich werde fortgehen müssen. Du wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. Wenn du mich dann rufst, dann komme ich nicht mehr so grob auf einem Pferd geritten oder mit der Eisenbahn. Du mußt dann in dich hinein hören, dann merkst du, daß ich in dir drinnen bin. |
2363 |
Am Morgen wurde ich geweckt, ich sollte verbunden werden. Als ich endlich richtig wach war, wendete ich mich schnell nach der Nachbarmatratze hin. Es lag ein fremder Mensch darauf, den ich nie gesehen hatte. Das Verbinden tat weh. Alles, was seither mit mir geschah, tat weh. |
2364 |
Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen, und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer. |
2365 |
Ich wußte nicht, ob es kurz oder lang war, daß ich im Fenster saß und in die bleiche verwandelte Welt hinüberschaute; da fing in der Nähe ein Tier zu klagen an, ängstlich und weinerlich. Es konnte ein Hund oder auch ein Schaf oder Kalb sein, das erwacht war und im Dunkeln Angst verspürte. |
2366 |
Der Brosi, von dem die Eltern gesprochen hatten, war fast aus meinem Gesichtskreis verloren gewesen, höchstens war er noch eine matte, beinahe schon verglühte Erinnerung. Nun rang er sich, dessen Namen ich kaum mehr gewußt hatte, langsam kämpfend empor und wurde wieder zu einem lebendigen Bilde. |
2367 |
Ich sah ihn wieder deutlich: er trug eine gestrickte blaue Wollenkappe mit zwei merkwürdigen Hörnern, und er hatte immer Äpfel oder Schnitzbrot im Sack, und er hatte gewöhnlich einen Einfall und ein Spiel und einen Vorschlag parat, wenn es anfangen wollte langweilig zu werden. |
2368 |
Der beschnittene Flügel war ihm gewachsen, das messingene Fußkettlein hatte er durchgerieben und den engen finsteren Schuppen verlassen. Jetzt saß er dem Haus gegenüber ruhig auf einem Apfelbaum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf der Straße davor, schaute hinauf und redete und machte Vorschläge. |
2369 |
Was sich dort hinten regte, Blättergeräusch oder Vogelschlag, das kam aus verzauberten Märchengründen her, klang mit geheimnisvoll fremdem Ton und konnte viel bedeuten. Weil es dem Brosi zu warm vom Laufen war, zog er seine Jacke aus und dann auch noch die Weste, und legte sich ganz ins Moos hin. |
2370 |
Wir blieben stehen und paßten auf; im ganzen Wald war eine Todesstille und auf dem braunen Boden fackelten helle Sonnenflecken, in der Ferne gingen die senkrechten Stämme wie eine hohe rote Säulenwand zusammen, in der Höhe stand hinter den dichten schwarzen Kronen der blaue Himmel schön und ernst. |
2371 |
Es ging schon gegen den Winter hin, da hieß es, der Brosi sei krank und ob ich nicht zu ihm gehen wollte. Ich ging auch ein- oder zweimal, da lag er im Bett und sagte fast gar nichts, und es war mir bang und langweilig, obgleich seine Mutter mir eine halbe Orange schenkte. |
2372 |
Der Brosi nickte ganz erfreut und heiter und streckte mir eine Hand hin, die heiß und trocken und abgezehrt war. Seine Mutter streichelte ihn, nickte mir zu und ging wieder aus der Stube; so stand ich allein an seinem kleinen hohen Bett und sah ihn an, und eine Zeitlang sagten wir beide kein Wort. |
2373 |
Ich wartete noch eine Weile, dann ging ich hinaus, die Stiege hinunter und wieder heim, wo ich sehr froh war, daß die Mutter mich nicht ausfragte. Sie hatte wohl gesehen, daß ich verändert war und etwas erlebt hatte, und sie strich mir nur übers Haar und nickte, ohne etwas zu sagen. |
2374 |
Etwas Derartiges ist jedenfalls gewesen, denn ich weiß noch gut, daß am selben Abend meine Mutter mich sehr zärtlich und ernst ansah — mag sein, daß sie mich gern ohne Worte an heute morgen erinnert hätte. Ich verstand sie auch wohl und fühlte Reue, und als sie das merkte, tat sie etwas Besonderes. |
2375 |
Meine Lustigkeit war im Augenblick erloschen, statt ihrer befiel mich Verwirrung und Bangigkeit, denn ich empfand wohl, daß zwischen uns beiden jetzt etwas Neues fremd und störend aufgewachsen sei. Es surrte eine große Winterfliege durchs Zimmer und ich fragte, ob ich sie fangen solle. |
2376 |
Auch das kam mir vor wie von einem Erwachsenen gesprochen. Befangen ging ich fort. Auf dem Heimweg empfand ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas von der ahnungsvollen verschleierten Schönheit des Vorfrühlings, das ich erst um Jahre später, ganz am Ende der Knabenzeiten, wieder gespürt habe. |
2377 |
Es rann ein vollgeregneter Graben über und sandte einen schmalen trüben Bach über die Straße, auf dem schwammen alte Birnenblätter und braune Holzstückchen, und jedes von ihnen war ein Schiff, jagte dahin und strandete, erlebte Lust und Pein und wechselnde Schicksale, und ich erlebte sie mit. |
2378 |
Ein leerer Lastwagen mit einem ledigen Beipferd kam gefahren, knarrte und rollte fort und fesselte noch bis zur nächsten Krümme meinen Blick, mit seinen starken Rossen aus einer unbekannten Welt gekommen und in sie verschwindend, flüchtige schöne Ahnungen aufregend und mit sich nehmend. |
2379 |
Tags darauf regnete es was herunter mochte, ich mußte daheim bleiben und durfte mit sauber gewaschenen Händen in der Bilderbibel schwelgen, wo ich schon viele Lieblinge hatte, am liebsten aber waren mir doch der Paradieslöwe, die Kamele des Elieser und das Mosesknäblein im Schilf. |
2380 |
Als ich wieder, vermutlich am folgenden Morgen, in des Brosi Krankenstube stand, hatte seine Mutter beständig den Finger am Mund und sah mich warnend an, der Brosi aber lag mit geschlossenen Augen leise stöhnend da. Ich schaute bang in sein Gesicht, es war bleich und vom Schmerz verzogen. |
2381 |
Am Nachmittag aber, während ihm auf seine Bitte die Mutter eine schöne Geschichte erzählte, sank er in einen müden Schlummer, der bis an den Abend dauerte und während dessen sein schwacher Herzschlag langsam einträumte und erlosch. Als ich ins Bett ging, wußte es meine Mutter schon. |
2382 |
Darauf ging ich den ganzen Tag traumwandelnd umher und stellte mir vor, daß der Brosi zu den Engeln gekommen und selber einer geworden sei. Daß sein kleiner magerer Leib mit der Narbe auf der Schulter noch drüben im Hause lag, wußte ich nicht, auch vom Begräbnis sah und hörte ich nichts. |
2383 |
Der kleine Blumengarten vor meines Vetters Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die Georginen, die den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch und hatten feiste runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot und lila die jungen Blütenblätter strebten. |
2384 |
Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen, Strohblumen und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von früh bis spät im Feld und fielen am Abend müde und schwer wie umgeworfene Bleisoldaten in die Betten. |
2385 |
Und doch wird in jedem Herbst und in jedem Frühjahr der Garten wieder treulich besorgt und hergerichtet, der nichts einbringt und den sie in seiner schönsten Zeit kaum ansehen. Ich fragte einmal einen Hofbauern, warum und für wen er sich eigentlich immer wieder diese Mühe mache. |
2386 |
Vetter Kilian war auch gar nicht so, daß er mir meine Lust nicht gegönnt hätte. Vor meiner Gelehrtheit hatte er tiefen Respekt, sie umgab mich für sein Auge mit einem geheiligten Faltenwurf, und ich warf natürlich die Falten so, daß die mancherlei Löcher nicht gerade obenhin kamen. |
2387 |
Ich war vierundzwanzig Jahre alt, fand die Welt und mich selber sehr wohlbeschaffen und betrieb das Leben noch als eine ergötzliche Liebhaberkunst, vorwiegend nach ästhetischen Gesichtspunkten. Nur das Verliebtsein kam und verlief ganz ohne meine Wahl nach den althergebrachten Regeln. |
2388 |
Und man tut wohl daran, sich dieser Erkenntnis zu freuen, denn auf ihr beruht das Glück der Märchenprinzen ebenso wie das Glück der Spatzen auf dem Mist, und es dauert ja nie zu lange. Von den zwei schönen Ferienmonaten waren mir erst ein paar Tage durch die Finger geglitten. |
2389 |
Es war schön, über mein Leben hinwegzublicken, das bisher so ziellos ausgesehen hatte und so reichlich mit Dummheiten durchsetzt war, und das doch nun so simpel dalag — jetzt, wo ich auf der Höhe stand und den krummen Herweg wie den geraden Weiterweg so deutlich übersehen konnte. |
2390 |
In der kühlen Waldschlucht des Sattelbachs, der alle paar hundert Schritt eine Mühle treiben muß, lag stattlich und sauber ein Marmorsägewerk: Schuppen, Sägeraum, Stellfalle, Hof, Wohnhaus und Gärtchen, alles einfach, solid und erfreulich aussehend, weder verwittert noch allzu neu. |
2391 |
Ich war noch ein Anfänger in solchen Künsten und wußte nicht, daß man so etwas nicht ungestraft treiben kann, sondern auf solchen Entdeckungsfahrten meistens in die Strömungen eines fremden Lebens hineingezogen wird und ihnen selten ohne Beulen und Wunden wieder entrinnt. |
2392 |
Oft trat ich nur im Vorüberbummeln für eine Viertelstunde in den Hof und in die kühle dämmerige Schleiferei, wo blanke Stahlbänder taktmäßig auf und nieder stiegen, Sandkörner knirschten und rieselten, schweigsame Männer am Werk standen und unter dem Boden das Wasser plätscherte. |
2393 |
Ein zweites wurde nicht angeboten, darum bitten mochte ich nicht, vor dem leeren Glase da zu sitzen war mir ein wenig peinlich, also stand ich auf, gab die Hand und setzte den Hut auf. Was die Tochter betrifft, so war mir im Anfang nichts aufgefallen, als daß sie dem Vater so merkwürdig ähnlich war. |
2394 |
Aber schließlich ist ein dreiundzwanzigjähriges schönes Mädchen doch ein ander Ding als ein noch so rüstiger Geschäftsmann, und auch bei der auffallendsten Verwandtschaftsähnlichkeit kann man ein Weib nicht lange mit denselben Augen und Interessen ansehen wie einen Mann. |
2395 |
Oft genug besann ich mich darüber, wie wohl das eigentliche Wesen des schönen und strengen Mädchens aussehen möge. Sie konnte im Grunde leidenschaftlich sein, oder auch melancholisch, oder auch wirklich gleichmütig. Jedenfalls war das, was man an ihr zu sehen bekam, nicht ganz ihre wahre Natur. |
2396 |
Über sie, die so frei zu urteilen und so selbständig zu leben schien, hatte ihr Vater eine unbeschränkte Macht, und ich fühlte, daß ihre wahre innere Natur nicht ungestraft durch den väterlichen Einfluß, wenn auch in Liebe, von früh auf unterdrückt und in andere Formen gezwungen worden war. |
2397 |
Wir hatten sogar vor kurzem, nach stundenlangen Gesprächen, Brüderschaft getrunken, und ich war nicht wenig stolz darauf, trotz der entschiedenen Mißbilligung meines Vetters. Becker war ein studierter Mann, vielleicht zweiunddreißig alt, und ein gewiegter, schlauer Patron. |
2398 |
Freilich brachte er mich oft zur Verzweiflung. Meine Sätze über das Leben und die Menschen machte er häufig ohne Worte, bloß durch ein grausam ausdrucksvolles Grinsen, mir selber zweifelhaft, und manchmal wagte er es direkt, jede Art von Weltweisheit für etwas Lächerliches zu erklären. |
2399 |
Himmel, Ackerland, Wald und Dorf samt den vielerlei Wiesendüften und dem vereinzelt noch hörbaren Grillengeläut floß alles ineinander und umgab mich lau und sprach zu mir wie eine schöne, froh und traurig machende Melodie. Nur die Sterne ruhten klar und unbewegt in halbdunkeln Höhen. |
2400 |
Auch schien die Sache ihm nimmer wichtig zu sein. Höchstens fragte er hier und da, ob ich auch fleißig ins Marmorwerk laufe, neckte mich ein wenig und ließ es wieder gut sein, wie es in seinem Wesen lag. Einmal traf ich ihn zu meinem Erstaunen in der Lampartschen Einsiedelei. |
2401 |
Scheu war sie eigentlich nicht, aber sie schien einen Weg in das frühere Fremdsein zurück zu suchen, bat nicht mehr um Bücher und bemühte sich, unsere Unterhaltung an äußere und allgemeine Dinge zu fesseln und den angefangenen herzlichen Verkehr mit mir nicht weiter gedeihen zu lassen. |
2402 |
Meine scheu gewordene Weltklugheit kehrte siegreich zurück, fand alles bestens im Gleise und war fast so stolz und froh, als hätte sie selber den Gang der Dinge regiert und alles so freundlich gewendet. Es war gut, daß ich diesen Tag nach Kräften genoß, verträumte und versang. |
2403 |
Es half nichts, daß ich mir vom Verwalter Becker ohne Widerspruch die spöttische Predigt einer glaubenslosen Nüchternheit gefallen ließ. Es half nichts, daß ich Stunden auf Stunden durch die Bruthitze über Feld lief oder mich in die kalten Waldbäche legte, bis mir die Zähne klapperten. |
2404 |
Das eine Mal traf ich nur den Vater an, ging mit ihm zur Säge und sah stumpfsinnig zu, wie ein neuer Block eingespannt wurde. Herr Lampart ging in den Vorratsschuppen hinüber, um irgend etwas zu besorgen, und als er nicht gleich wiederkam, lief ich fort und hatte im Sinn, nimmer herzukommen. |
2405 |
Trotzdem stand ich nach zwei Tagen wieder da. Helene empfing mich wie immer, und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. In meiner fahrigen und haltlosen Stimmung kramte ich gedankenlos eine Menge von dummen Witzen, Redensarten und Anekdoten aus, die sie sichtlich ärgerten. |
2406 |
Und ich war jung und dumm genug, meinen Schmerz und meine widersinnige Narrheit fast wie ein Schauspiel zu genießen und im Bubentrotz die Kluft zwischen mir und ihr wissentlich zu vergrößern, statt mir lieber die Zunge abzubeißen oder Helene ehrlich um Verzeihung zu bitten. |
2407 |
Es war ein so schöner Sommer, es hatte alles so verheißungsvoll und heiter angefangen. Jetzt war meine Freude dahin — was sollte ich noch mit den acht Tagen anfangen? Ich war entschlossen, schon morgen abzureisen. In der Stadt müßte sich dann irgend ein modus vivendi finden. |
2408 |
Den Nachmittag saß ich im Moos am Abhang, steil über der Sattelbachschlucht, und schaute auf den Bach und die Werke und auch auf das Lampartsche Haus hinunter. Ich ließ mir Zeit, Abschied zu nehmen und zu träumen und nachzudenken, namentlich über das, was Becker mir gesagt hatte. |
2409 |
Ich glaubte nicht daran. Mich hatte zum ersten Mal eine echte, ernste Leidenschaft in die übermächtigen Arme genommen, und ich wußte keine Macht in mir stark und edel genug, sie zu besiegen. Es kam mir der Gedanke, lieber abzureisen, ohne noch einmal mit Helene zu sprechen. |
2410 |
Träumerisch ging ich weg, waldabwärts, oft in der Steile strauchelnd, und erwachte erst mit heftigem Erschrecken aus meiner Versunkenheit, als meine Schritte auf den Marmorsplittern des Hofes krachten und ich mich vor der Tür stehen fand, die ich nicht mehr hatte sehen und anrühren wollen. |
2411 |
Ohne zu wissen, wie ich hereingekommen war, saß ich dann innen in der Dämmerung am Tisch, und Helene saß mir gegenüber, mit dem Rücken gegen das Fenster, schwieg und sah in die Stube hinein. Es kam mir vor, ich sitze schon lange so da und habe schon stundenlang gehockt und geschwiegen. |
2412 |
Und wieder war alles still. Man hörte die Arbeiter im Schuppen hantieren, auf der Straße fuhr ein Lastwagen langsam vorbei, und ich horchte ihm nach, bis er um die Biegung war und verklang. Ich hätte gern dem Wagen noch lange, lange nachgelauscht. Nun riß es mich vom Stuhl auf, ich wollte gehen. |
2413 |
Da kam ich zu mir, fand mich weit unten im Tal bei anbrechender Dämmerung, und eilte nun schnell und freudig zurück. Sie wartete schon, ließ mich durch Haustor und Stubentür ein, da setzten wir uns beide auf den Tischrand, hielten unsre Hände ineinander und sprachen kein Wort. |
2414 |
Es war lau und dunkel, ein Fenster stand offen, in dessen Höhe über dem Bergwald ein schmaler Strich des blassen Himmels schimmerte, von spitzigen Tannenkronen schwarz durchschnitten. Wir spielten jedes mit des andern Fingern, und mich überlief bei jedem leichten Druck ein Schauer von Glück. |
2415 |
Ich schaute auf den bleichen Himmelsspalt, und nach einer Zeit, als ich mich umwandte, sah ich auch sie dorthin blicken und sah mitten im Dunkel ein schwaches Licht von dorther in ihren Augen und in zwei großen, unbeweglich an ihren Lidern hängenden Tränen widerglänzen. |
2416 |
Mir war bang und unklar ums Herz, doch überwog mein großes Glücksgefühl, das mich auf dem Heimweg wie ein Flügelbrausen umgab. Ich ging mit schallenden Tritten, ohne es doch zu spüren, und daheim tat ich die Kleider ab und legte mich im Hemd ins Fenster. So eine Nacht möchte ich noch einmal haben. |
2417 |
Der laue Wind tat mir wie eine Mutterhand, vor dem hochgelegenen Fensterchen flüsterten und dunkelten die großen, runden Kastanienbäume, ein leichter Felderduft wehte hin und wieder durch die Nacht, und in der Ferne flog das Wetterleuchten golden zitternd über den schweren Himmel. |
2418 |
Es ist nichts, um es mit Worten zu sagen, aber es lebt noch unverloren in mir weiter, und ich könnte, wenn es dafür eine Sprache gäbe, jede in die Dunkelheit verlaufende Bodenwelle, jedes Wipfelgeräusch, die Adern der entfernten Blitze und den geheimen Rhythmus des Donners noch genau beschreiben. |
2419 |
Das Schönste und Innerlichste und Köstlichste kann man ja nicht sagen. Aber ich wollte, jene Nacht käme mir noch einmal wieder, da ich bis ins innerste Herz hinein ein Seliger war. Wenn ich vom Verwalter Becker nicht schon Abschied genommen hätte, wäre ich gewiß am folgenden Morgen zu ihm gegangen. |
2420 |
Da saßen wir und hielten uns still umfangen, und während sie sich an mich schmiegte und bei jeder Liebkosung den Atem anhielt und schauerte, ging ihre Bedrücktheit und Schwermut auf mich über. Ich wollte mich wehren und redete ihr zu, an mich und an unser Glück zu glauben. |
2421 |
Dort holte ich den Gehrock aus dem Schrank, hängte ihn über die Stuhllehne und betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Er war so gut wie neu, seinerzeit zum Examen gekauft und seither fast nie getragen. Das schwarze, glänzende Tuch erweckte lauter feierliche und würdevolle Gedanken in mir. |
2422 |
Unruhig wartete ich, bis der Gottesdienst aus war, und schritt, als kaum das Ausläuten vertönt hatte, langsam und ernsthaft und die staubigen Wegstellen vermeidend, durch den schon heißen, dunstigen Vormittag die Straße zum Sattelbach und talabwärts meinem Ziel entgegen. |
2423 |
Mein Zorn war schon erstickt. Ich fühlte wohl, daß Becker die Wahrheit ahnen mußte, und ich begriff, welche Last nun auf ihm lag, da er in seiner Sicherheit mich hatte spielen lassen und nun den größeren Teil der Schuld auf seiner Seele hatte. Jetzt mußte ich noch eine Frage tun. |
2424 |
Und als ich ihn nicken sah, und als ich sah, wie diesem zähen und harten Menschen die Stimme versagte, und wie auf seinem herben, übernächtigen Gesicht die Muskeln so deutlich redend zuckten, da fiel mich das ganze Weh erst an, und ich senkte den Kopf und schluchzte ohne Halt. |
2425 |
Der eine war eine Trauerweide. Um ihren Stamm lief eine schmale Lattenbank und ringsum hingen die langen, seidig zarten, müden Zweige so tief und dicht herab, daß es innen ein Zelt oder Tempel war, wo trotz des ewigen Schattens und Dämmerlichtes eine stete, matte Wärme brütete. |
2426 |
Wenn man jedoch näher kam oder sich unter sie stellte und emporschaute, brannten alle Blätter der äußeren Zweige, vom Sonnenlichte durchdrungen, in einem warmen, leisen Purpurfeuer, das mit verhaltener und feierlich gedämpfter Glut wie in einem Kirchenfenster leuchtete. |
2427 |
Er konnte je nach der Witterung und Tageszeit sehr verschieden aussehen. Oft sah man ihm an, daß er wußte, wie schön er sei und daß er nicht ohne Grund allein und stolz weit von den anderen Bäumen stehe. Er brüstete sich und blickte kühl über alles hinweg in den Himmel. |
2428 |
Dann schaute er zu den übrigen, entfernten Bäumen hinüber, suchte und hatte Sehnsucht. Morgens war er am schönsten, und auch abends bis die Sonne rot wurde, aber dann war er plötzlich gleichsam erloschen und es schien an seinem Orte eine Stunde früher Nacht zu werden als sonst überall. |
2429 |
Auch unter den gesellig in schönen Gruppen beieinander stehenden Parkbäumen gab es einige besonders herrliche. Den größten, die alte Ulme, sah man schon eine Stunde weit von allen Straßen aus wie einen dunklen und schweren Turm aufragen. Es gab sogar ein Habichtnest auf ihr. |
2430 |
Dann folgten im Rang und Alter die Platanen, von denen eine ganze Allee da war. Von ihren graugrünen, tigerartig gefleckten Stämmen bekam der ganze Weg, auch wenn er voll Schatten war, etwas Helles und Spielendes, weil die lichten Rindeflecken an stehengebliebenen Sonnenschein erinnerten. |
2431 |
Man mußte sich bescheiden. Zwar wurde der alte Weg zwischen den zwei Platanenreihen wiederhergestellt, sonst aber begnügte man sich damit, schmale und gewundene Fußwege durch das Dickicht zu ziehen, die heidigen Lichtungen mit Rasen zu besäen und an guten Plätzen grüne Sitzbänke aufzustellen. |
2432 |
Es war herrlich, in dieser einsamen Wirrnis von Düften und Tönen und Sonnenlichtern hingestreckt in den heißen Himmel zu blinzeln, oder rückwärts in die dunkeln Bäume hinein zu lauschen, oder mit geschlossenen Augen sich auszurecken und das tiefe, warme Wohlsein durch alle Glieder zu spüren. |
2433 |
Er war schön anzusehen, in der schlanken Kraft seiner sechzehn Jahre, und den Kopf hatte er mit stillen Augen gesenkt, noch von den Schicksalen des nordischen Helden erfüllt und zum Nachdenken genötigt. Die Sommerstube, wo man die Mahlzeiten hielt, lag zu hinterst im Hause. |
2434 |
Für uns paar Leute ist ja Haus und Garten viel zu groß, und für niemand soll doch die ganze Herrlichkeit nicht da sein! Ein Landhaus und ein Park sind dazu da, daß fröhliche Menschen drin herumlaufen und je mehr desto besser. Übrigens kommst du mit solenner Verspätung. Suppe ist nimmer da. |
2435 |
Sie kannte diese Art von höflichen Dialogen, die dem Hausherrn so viel Vergnügen machten, und sie fürchtete sie. Indem sie Wein anbot, lenkte sie das Gespräch in andere Gleise und hielt es darin fest. Es war hauptsächlich von den erwarteten Gästen die Rede. Paul hörte kaum darauf. |
2436 |
Die Gebüsche wurden schwarz und rannen in dunkle Wogen zusammen, und die Bäume, deren Wipfel die ferne Hügellinie überschnitten, reckten sich mit ungeahnten, bei Tage nie gesehenen Formen dunkel und mit einer stummen Leidenschaft und Großartigkeit in den lichteren Himmel. |
2437 |
Die entfernten Berge sprangen kühner und entschlossener empor, die Ebene lag schwärzlich hingebreitet und ließ nur noch die stärkeren Schwellungen des Bodens durchfühlen. Vor den Fenstern kämpfte das noch vorhandene Tageslicht müde mit dem herabfallenden Lampenschimmer. |
2438 |
Er dachte wohl, aber nicht an das was er sah. Er sah es Nacht werden. Aber er konnte nicht fühlen, wie schön es war. Er war zu jung und lebendig, um so etwas hinzunehmen und zu betrachten und sein Genüge daran zu finden. Woran er dachte, das war eine Nacht am nordischen Meer. |
2439 |
Das wußte die Tante wohl. Wie sollte sie es auch nicht wissen? Wie sollte ihr irgend ein kleiner, zarter Zug an den beiden fremd sein, die sie seit Jahren mit Liebe umgab und behütete und die sie beide wie Kinder ansah. Sie saß ruhend in einem der biegsamen Rohrsessel und horchte. |
2440 |
Es war schade, daß niemand es sehen konnte, denn ihr Lächeln war von der echten, schönen, gottgeschenkten Art. Es geschah weniger mit den Lippen als mit den Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen glänzten innig mit, und es sah aus wie ein tiefes Verstehen und Liebhaben. |
2441 |
Sie lächelte und horchte. Es war eine schöne Musik und sie gefiel ihr höchlich. Doch hörte sie keineswegs die Ouvertüre allein, obwohl sie ihr zu folgen versuchte. Zuerst bemühte sie sich herauszubringen, wer oben sitze und wer unten. Paul saß unten, das hatte sie bald erhorcht. |
2442 |
Nicht daß es gehapert hätte, aber die oberen Stimmen klangen so leicht und kühn und sangen so von innen heraus, wie kein Schüler spielen kann. Und nun konnte sich die Tante alles vorstellen. Sie sah die zwei am Flügel sitzen. Bei prächtigen Stellen sah sie den Vater zärtlich schmunzeln. |
2443 |
Und der wunderliche Mensch, zumal wenn er jung ist, meint eine solche Nacht nicht besser feiern zu können als durch ein recht langes Wachbleiben. Der Hauslehrer hatte noch Licht brennen und ging unruhig und müde in der Stube auf und ab. Er hatte den ganzen Abend bis gegen Mitternacht gelesen. |
2444 |
Zur Zeit beschäftigten ihn einige Bücher, in welchen merkwürdig schmiegsame Jünglinge sich einbildeten, Bausteine zu einer neuen Kultur aufzutürmen, indem sie in einer weichen, wohllauten Sprache bald Ruskin, bald Nietzsche um allerlei kleine, schöne, leicht tragbare Kleinode bestahlen. |
2445 |
Diese Bücher waren viel amüsanter zu lesen als Ruskin und Nietzsche selber, sie waren von koketter Grazie, groß in kleinen Nuancen und von seidig vornehmem Glanze. Und wo es auf einen großen Wurf, auf Machtworte und Leidenschaft ankam, zitierten sie Dante oder Zarathustra. |
2446 |
Er fühlte, daß an die ihn umgebende schale Alltagswelt allenthalben Mauerbrecher gelegt waren und daß es galt, sich an die Propheten und Bringer der neuen Seligkeit zu halten. Schönheit und Geist würde ihre Welt durchfluten und jeder Schritt in ihr würde von Poesie und Weisheit triefen. |
2447 |
Sie wartete darauf, daß er ans Fenster trete und sie schaue. Sie wartete darauf, sein Herz mit Sehnsucht und Heimweh zu verwunden, seine Augen kühl zu baden, seiner Seele gebundene Flügel zu lösen. Er legte sich aber ins Bett, zog die Lampe näher und las im Liegen weiter. |
2448 |
Er wußte nicht mehr, wer ihn anschaue und wo er sei, er lag schlummernd auf dem Lager, atmete tief und schaute gedankenlos hingegeben in große, stille Augen, in deren Spiegel Gestern und Heute zu wunderlich verschlungenen Bildern und schwer zu entwirrenden Sagen wurden. |
2449 |
Wenn es in Pauls Wesen lag, daß er die Unterbrechungen seines gewohnten stillen Ferienlebens durch Gastbesuche fürchtete, so war es ihm ebenso natürlich, die einmal Angekommenen nach seiner Weise möglichst kennen zu lernen, ihr Wesen zu beobachten und sie sich irgendwie zu eigen zu machen. |
2450 |
So betrachtete er auf der Heimfahrt im etwas überfüllten Wagen die drei Fremden mit stiller Aufmerksamkeit, zuerst den lebhaft redenden Professor, dann mit einiger Scheu die beiden Frauensleute. Der Professor gefiel ihm, schon weil er wußte, daß er ein Duzfreund seines Vaters war. |
2451 |
Im übrigen fand er ihn ein wenig streng und ältlich, aber nicht zuwider und jedenfalls unsäglich gescheit. Viel schwerer war es, über die Mädchen ins reine zu kommen. Die eine war eben schlechthin ein junges Mädchen, ein Backfisch, jedenfalls ziemlich gleich alt wie er selber. |
2452 |
Es würde nur darauf ankommen, ob sie von der spöttischen oder gutmütigen Art war, je nachdem würde es Krieg oder Freundschaft zwischen ihm und ihr geben. Im Grunde waren ja alle jungen Mädchen dieses Alters gleich und es war mit allen gleich schwer zu reden und auszukommen. |
2453 |
Sie war, was er freilich nicht zu berechnen verstand, vielleicht drei- oder vierundzwanzig und gehörte zu der Art von Damen, welche Paul zwar sehr gerne sah und von weitem betrachtete, deren näherer Umgang ihn aber scheu machte und meist in unzählige Verlegenheiten verwickelte. |
2454 |
Er wußte an solchen Wesen die natürliche Schönheit durchaus nicht von der eleganten Haltung und Kleidung zu trennen, fand ihre Gesten und ihre Frisuren meist affektiert und vermutete bei ihnen eine Menge von überlegenen Kenntnissen über Dinge, die ihm tiefe Rätsel waren. |
2455 |
Wenn er genau darüber nachdachte, haßte er diese ganze Gattung. Sie sahen alle schön aus, aber sie hatten auch alle die gleiche demütigende Zierlichkeit und Sicherheit im Benehmen, die gleichen hochmütigen Ansprüche und die gleiche geringschätzende Herablassung gegen Jünglinge seines Alters. |
2456 |
Fräulein Thusnelde half zierlich und lächelnd beim Herumbieten der Teller und kam sich zu wenig beschäftigt vor, da ihr Nachbar, der Kandidat, zwar wenig aß, aber noch weniger redete. Die Gegenwart eines altmodischen Professors und zweier junger Damen wirkte versteinernd auf ihn. |
2457 |
Der besiegte Professor fand nun erst Zeit zum Essen und holte maßvoll nach. Herr Homburger merkte endlich, daß niemand Angriffe auf ihn plane, sah aber nun zu spät, daß sein Schweigen unfein gewesen war, und glaubte sich von seiner Nachbarin höhnisch betrachtet zu fühlen. |
2458 |
Er senkte deshalb den Kopf so weit, daß eine leichte Falte unterm Kinn entstand, zog die Augenbrauen hoch und schien Probleme im Kopf zu wälzen. Fräulein Thusnelde begann, da der Hauslehrer dauernd versagte, ein sehr zärtliches Geplauder mit Berta, an welchem die Tante sich beteiligte. |
2459 |
Er hatte zu Abend mehr Wein zu trinken bekommen als sonst, nun fand er es köstlich, in die weiche, dunkle Nacht hinein zu reden, und wartete neugierig, ob es ihm gelänge, die elegante Dame ein wenig aus ihrer trägen Ruhe zu bringen, zu einem heftigeren Widerspruch oder zu einem Gelächter. |
2460 |
Nun brachen alle auf, sahen auf die Uhr und konnten nicht begreifen, daß es wirklich schon Mitternacht sei. Auf dem kurzen Weg bis zum Hause ging Paul neben Berta, die ihm plötzlich sehr gut gefiel, namentlich seit er sie über Papas Witze so herzlich hatte lachen hören. |
2461 |
Es war doch fein, so des Abends mit Mädchen zu plaudern. Er fühlte sich als Kavalier und begann zu bedauern, daß er sich den ganzen Abend nur um die andere gekümmert hatte. Die war doch wohl ein Fratz. Berta war ihm viel lieber und es tat ihm leid, daß er sich heute nicht zu ihr gehalten hatte. |
2462 |
Er schlug ihr für morgen einen Spaziergang auf den Eichelberg vor. Es sei nicht weit und so schön. Er kam ins Beschreiben, sprach vom Weg und von der Aussicht und redete sich ganz in Feuer. Da ging gerade Fräulein Thusnelde an ihnen vorüber, während er im eifrigsten Reden war. |
2463 |
Sie wandte sich ein wenig um und sah ihm ins Gesicht. Es geschah ruhig und etwas neugierig, aber er fand es spöttisch und verstummte plötzlich. Berta blickte erstaunt auf und sah ihn verdrießlich werden, ohne zu wissen warum. Da war man schon im Hause. Berta gab Paul die Hand. |
2464 |
Er hätte gern gewußt, ob Fräulein Thusnelde wirklich schön sei, richtig schön. Es schien ihm so, aber er traute weder sich noch ihr. Wie sie da beim schwachen Lampenlicht im Stuhl halb saß und halb lag, so schlank und ruhig, mit der auf den Boden niederhängenden Hand, das hatte ihm doch gefallen. |
2465 |
Überhaupt begann es ihm jetzt leid zu tun, daß die Gäste nur noch zwei Tage bleiben wollten. Aber warum hatte ihn, als er beim Heimgehen mit der Berta lachte, die andere so angesehen? Er sah sie wieder an sich vorbeigehen und den Kopf umwenden, und er sah wieder ihren Blick. |
2466 |
Sie sah es aber gar nicht und schenkte überhaupt dem Spiel keine Aufmerksamkeit. Wenn Paul ihr die Kugel gab, schob sie unachtsam und zählte nicht einmal, wieviel Kegel fielen. Statt dessen unterhielt sie sich mit dem Hauslehrer über Turgenjeff. Herr Homburger war heute sehr höflich. |
2467 |
Er zeigte ihr das Wäldchen und die Platanenallee, dann die Blutbuche und die Wiesen. Während er sich beinahe ein wenig schämte, so grob und wortkarg zu sein, wunderte er sich zugleich, daß er sich vor Berta gar nimmer geniere. Er ging mit ihr um, wie wenn sie zwei Jahre jünger wäre. |
2468 |
Und sie war still, sanft und schüchtern, sagte kaum ein Wort und sah ihn nur zuweilen an, als bäte sie für irgend etwas um Entschuldigung. Bei der Trauerweide trafen sie mit den beiden andern zusammen. Der Kandidat redete noch fort, das Fräulein war still geworden und schien verstimmt. |
2469 |
Paul hatte seine Linke langsam und mit ängstlicher Vorsicht wie ein Verbrecher der Frauenhand genähert und dann dicht neben ihr liegen lassen. Er wußte nicht, warum er es tat. Es geschah ohne seinen Willen, und dabei wurde ihm so drückend bang und heiß, daß seine Stirne voll von Tropfen stand. |
2470 |
Es war wieder ganz still. Paul glaubte sein Herz schlagen zu hören. Es trieb ihn, aufzuspringen und irgend etwas Lustiges oder Dummes zu sagen, oder wegzulaufen. Aber er blieb sitzen, ließ seine Hand liegen und hatte ein Gefühl, als würde ihm langsam, langsam die Luft entzogen, bis zum Ersticken. |
2471 |
Fräulein Thusnelde blickte in Pauls Gesicht, mit ihrem ruhigen und etwas müden Blick. Sie sah, daß er unverwandt auf seine Linke schaute, die dicht neben ihrer Rechten auf der Bank lag. Da hob sie ihre Rechte ein wenig, legte sie fest auf Pauls Hand und ließ sie da liegen. |
2472 |
Paul erschrak wie ein überraschter Dieb und fing zu zittern an, zog aber seine Hand nicht weg. Er konnte kaum noch atmen, so stark arbeitete sein Herzschlag, und sein ganzer Leib brannte und fror zugleich. Langsam wurde er blaß und sah das Fräulein flehend und angstvoll an. |
2473 |
Er wünschte sie wegzuziehen, aber er war so matt und verwirrt, daß er keinen Gedanken oder Entschluß fassen und nichts tun konnte, nicht einmal das. Plötzlich erschreckte ihn ein ersticktes, ängstliches Geräusch, das er hinter sich vernahm. Er wurde frei und sprang tief atmend auf. |
2474 |
Indessen nahm die Schwüle stetig zu. Der Himmel hatte sich vollends ganz bezogen und sah gewitterig aus. Es ging kein Wind, nur hin und wieder im Gezweig ein feiner, zager Schauer, vor dem auch der fahle, glatte Spiegel des Weihers für Augenblicke kraus und silbern erzitterte. |
2475 |
Er stieg hinein und setzte sich auf die einzige noch vorhandene Ruderbank. Doch band er das Schifflein nicht los: es waren auch schon längst keine Ruder mehr da. Er tauchte die Hände ins Wasser, das war widerlich lau. Unvermerkt überkam ihn eine grundlose Traurigkeit, die ihm ganz fremd war. |
2476 |
Aber er blieb sitzen, starrte über das träge Wasser weg und durch die müden, regungslosen Obstzweige in den fahlen Himmel. Er konnte sich nicht einmal wie sonst auf das Gewitter freuen, obwohl es sicher bald ausbrechen mußte und das erste richtige in diesem Sommer sein würde. |
2477 |
Da hörte das Klavierspiel auf und es war eine Weile ganz still. Bis ein paar zarte, wiegend laue Takte aufklangen, eine scheue und ungewöhnliche Musik. Und nun Gesang, eine Frauenstimme. Das Lied war Paul unbekannt, er hatte es nie gehört, er besann sich auch nicht darüber. |
2478 |
Aber die Stimme kannte er, die leicht gedämpfte, ein wenig müde und willenlose Stimme. Das war Thusnelde. Ihr Gesang war vielleicht nichts Besonderes, vielleicht nicht einmal schön, aber er traf und reizte den Knaben ebenso beklemmend und quälend wie die Berührung ihrer Hand. |
2479 |
Er fühlte nur, daß etwas Drängendes, Gärendes, Gespanntes um ihn her oder auch in ihm selber sich verdichte und schwelle und Auswege suche. Zugleich fiel ihm eine Stelle aus dem Ekkehard ein und in diesem Augenblick überraschte und erschreckte ihn plötzlich die sichere Erkenntnis. |
2480 |
Es ging Herrn Homburger dabei wie vielen Leuten; er sprach über Dinge, von denen er nichts verstand, viel gefälliger und glatter als über solche, die ihm vertraut und wichtig waren. Meistens hatte die Dame das Wort und er begnügte sich mit Fragen, Nicken, Zustimmen und pausenfüllenden Redensarten. |
2481 |
Nun saßen die andern vergnügt im Pavillon beisammen, lachten und schwatzten, und an ihn dachte niemand. Es zog ihn hinüber, doch überwog sein Trotz; hatte er einmal nicht mitkommen wollen, so wollte er ihnen auch nicht hinterdrein nachlaufen. Und Thusnelde hatte ihn ja überhaupt nicht aufgefordert. |
2482 |
Als er Paul erkannte, drängte er sich fröhlich und schmeichelnd an ihn. Und Paul, in plötzlich überwallender Zärtlichkeit, legte ihm den Arm um den Hals, zog ihn in den dämmernden Treppenwinkel zurück und blieb dort bei ihm kauern und sprach und koste mit ihm, er wußte nicht wie lang. |
2483 |
Dann wartete er, bis die drei ins Haus zurückkehrten, und als sie kamen und als Thusneldes Stimme im Gang laut wurde, schrak er zusammen und bekam Herzklopfen. Dennoch tat er gleich darauf etwas, wozu er sich selber noch einen Augenblick zuvor den Mut nicht zugetraut hätte. |
2484 |
Den Hauslehrer hatte das lange erfolglose Reden im Pavillon stark mitgenommen, er war wieder nervös und zuckte leidend mit den Gesichtsmuskeln. Daß sie jetzt so lächerlich mit dem Büblein Paul kokettierte, fand er geschmacklos, und er suchte wählerisch nach einer Form, ihr das zu sagen. |
2485 |
Er fand es kindisch, wie Paul sich gehen ließ, und unverzeihlich, wie das Fräulein darauf einging. Am liebsten hätte er gute Nacht gesagt und wäre gegangen. Aber das mußte aussehen wie ein Geständnis, daß er sein Pulver verschossen habe und kampfunfähig sei. Lieber blieb er da und trotzte. |
2486 |
Er nahm kaum mehr am Gespräch teil, aber er lächelte nachsichtig, schmerzlich und überlegen, und es war ihm ein neuer, bitterer Triumph, daß niemand sehen wollte, wie wund sein Lächeln war. So geschah es, daß dieser seltsame Hanswurst im Innersten vielleicht befriedigter war als alle anderen. |
2487 |
Als Paul in sein kühles Schlafzimmer trat, sah er durchs offene Fenster den beruhigten Himmel mit stillstehenden, milchweißen Flaumwölkchen bedeckt; durch ihre dünnen Flöre drang das Mondlicht weich und stark und spiegelte sich tausendmal in den nassen Blättern der Parkbäume. |
2488 |
Vorgebeugt stand er am Fenster und schaute, ohne etwas zu sehen, wie ein Geblendeter, und vor ihm ungewiß und mächtig ausgebreitet lag das Land des Lebens und der Leidenschaften, von heißen Stürmen durchzittert und von dunkelschwülem Gewölk verschattet. Die Tante war die letzte, die zu Bette ging. |
2489 |
Denn daß Pauls Seele ihr nun entgleiten und mehr und mehr undurchsichtig werden müsse, wußte sie wohl, und sie sah ihn mit Sorge seine ersten, knabenhaften Schritte in den Garten der Liebe tun, von dessen Früchten sie selber zu ihrer Zeit nur wenig und fast nur die bitteren gekostet hatte. |
2490 |
Da war man schon am Bahnhof. Der Zug sollte erst in einer Viertelstunde kommen. Paul empfand diese Viertelstunde wie eine unschätzbare Gnadenfrist. Aber es ging ihm sonderbar; seit man den Wagen verlassen hatte und vor der Station auf und ab spazierte, fiel ihm kein Witz und kein Wort mehr ein. |
2491 |
Zu Hause blieb er einen Augenblick vor dem Bücherschrank im Wohnzimmer stehen. Er nahm den Werther heraus und steckte ihn in die Tasche, zog ihn aber gleich darauf wieder heraus, blätterte ein wenig darin herum, begann ein Lied zu pfeifen und stellte das Büchlein an seinen Ort zurück. |
2492 |
Flammen wogten um ihn, und Meere rauschten, und heiße Stürme zitterten sausend auf purpurnen Flügeln vorüber. Paul saß noch nicht lange an seinem Platz, so klangen Schritte und jemand trat herzu. Er blickte verwirrt auf, aus hundert Träumen gerissen, und sah den Herrn Homburger vor sich stehen. |
2493 |
Auf ihrer sonnigen Wiese stand die alte Blutbuche, von warmem Licht umflossen und auf einem ihrer starken Äste saß der junge Paul Abderegg, an den Stamm gelehnt und ganz von rötlich dunkeln Laubschatten umfangen. Das war ein alter Lieblingsplatz des Knaben, er war dort vor jeder Überraschung sicher. |
2494 |
Er dachte an diese und andere Streiche mit einem überlegenen, nachsichtigen Gefühl, als wäre das alles vor Urzeiten gewesen. Kindereien, Kindereien! Mit einem Seufzer richtete er sich auf, kehrte sich behutsam im Sitze um, zog sein Taschenmesser heraus und begann am Stamm zu ritzen. |
2495 |
Es sollte ein Herz daraus werden, das den Buchstaben T umschloß, und er nahm sich vor, es schön und sauber auszuschneiden, wenn er auch mehrere Tage dazu brauchen sollte. Noch am selben Abend ging er zum Gärtner hinüber, um sein Messer schleifen zu lassen. Er trat selber das Rad dazu. |
2496 |
Auf dem Rückweg setzte er sich eine Weile in das alte Boot, plätscherte mit der Hand im Wasser und suchte sich auf die Melodie des Liedes zu besinnen, das er gestern von hier aus hatte singen hören. Der Himmel war halb verwölkt und es sah aus, als werde in der Nacht schon wieder ein Gewitter kommen. |
2497 |
Das alles, so schön es war, hätte ihn aber doch nicht satt gemacht. Darum stieg er, wenn der fatale Hunger wieder zu mächtig wurde, so still wie ein Wiesel die alten, schwarzen Stiegen hinunter bis in den steinernen Hausgang, in welchen nur aus dem Laden her ein schwacher Lichtstreifen fiel. |
2498 |
Diese Züge unternahm er jedoch nicht mit Hinterlist, Habsucht und schlechtem Gewissen, sondern teils mit der Harmlosigkeit des Hungernden, teils mit den edel verachtungsvollen Gefühlen eines hochherzigen Räubers, der keine Menschenfurcht kennt und der Gefahr mit kühlem Stolz ins Auge blickt. |
2499 |
Dann wurde ihm freier ums Herz, er atmete auf, reckte sich und stimmte alsdann auf der Geige eine Art Dankpsalm an. Kaum war dieser beendet, so klopfte es leise an, und wie er aufmachte, stand vor der Tür die Babett und streckte ihm ein gewaltiges, ohne Sparsamkeit bestrichenes Butterbrot entgegen. |
2500 |
Und von dieser Stunde an genoß der Gymnasiast mit Behagen und nicht ohne eine gewisse dankbare Rührung die Teilnahme und Fürsorge eines guten Frauengemütes, zum ersten Mal seit den heimatlichen Knabenjahren, denn er war schon früh in Pension getan worden, da seine Eltern auf dem Lande wohnten. |
2501 |
Das wußten die Nachbarinnen, und sie sahen es daher gern, wenn ihre Dienstmägde, namentlich die jungen, mit ihr Umgang hatten. Wen sie empfahl, der fand gute Aufnahme, und wer ihren vertrauteren Verkehr genoß, der war besser aufgehoben als im Mägdestift oder Jungfrauenverein. |
2502 |
Feierabends und an den Sonntagnachmittagen war also die Babett selten allein, sondern stets von einem Kränzlein jüngerer Mägde umgeben, denen sie die Zeit herumbringen half und mit allerlei Rat zur Hand ging, aber gar nicht kühl und streng, sondern mit Witz und kräftigen Sprüchen. |
2503 |
Ein paar von ihnen waren ja auch widerwärtig, krittelig und stets zum Nörgeln und Klatschen bereit, aber die Babett fuhr ihnen, wenn es not tat, schon übers Maul. Und auch sie trugen ja ihre Last und hatten es nicht leicht. Die Gret vom Bischofseck namentlich war eine Unglückliche. |
2504 |
Die Moral am Schlusse ließ er weg, aber die Babett fügte eine solche aus eignem Bedürfnis und Vermögen hinzu. Die Mädchen, mit Ausnahme der Gret, lobten den Erzähler über Verdienst, wiederholten abwechselnd die Hauptszenen und baten sehr, er möge nächstens wieder so etwas zum besten geben. |
2505 |
Und gerade an jenem Abend, da er zum letzten Mal mitmachte und nur mit halbem Herzen noch dabei war, mußte ihm dennoch ein kleines Erlebnis blühen. Die Buben liefen zu viert in der Brühelgasse hin und her, spielten mit kleinen Spazierstöckchen und sannen auf Schandtaten. |
2506 |
Sie war jedoch der Ansicht, junge Leute müßten zu jeder Stunde essen können, und ließ nicht nach, bis er ihren Willen erfüllt hatte. Sie hatte einmal von der Überbürdung der Jugend an den Gymnasien gehört und wußte nicht, wie fern ihr Schützling sich von jeder Überanstrengung im Studieren hielt. |
2507 |
Eine bessere Partie hätte sie schon machen können, sollte man denken, aber der Mann ist nicht unrecht, und das Geld allein macht auch nicht selig. Und zu der Hochzeit mußt du kommen, die Lies kennt dich ja schon, und alle haben eine Freude, wenn du kommst und zeigst, daß du nicht zu stolz bist. |
2508 |
Dann gingen sie miteinander in das ärmliche Vorstadthaus, wo jenes junge Ehepaar eine Stube nebst Küche und Kammer gemietet hatte. Und Karl nahm seine Geige mit. Sie gingen langsam und vorsichtig, denn seit gestern war Tauwetter eingetreten, und sie wollten doch mit reinen Stiefeln draußen ankommen. |
2509 |
In dem sehr bescheidenen, weißgegipsten Wohnzimmer der Neuvermählten saßen um den tannenen, sauber gedeckten Eßtisch sieben oder acht Menschen in ehrbarer Fröhlichkeit beieinander, außer dem Paare selbst zwei Kollegen des Hochzeiters und ein paar Basen oder Freundinnen der jungen Frau. |
2510 |
Sie schien ihn jedoch nicht zu erkennen, wenigstens sah sie ihm gleichmütig ins Gesicht und hielt ihm, als jetzt auf den Vorschlag des Wirtes alle miteinander anstießen, ruhig und freundlich ihr Glas entgegen. Hierdurch ein wenig beruhigt, wagte Karl sie offen anzusehen. |
2511 |
Wenn er daran dachte, wie oft es ihn verlangt hatte, diesen Mund zu küssen, erschrak er beinahe, denn das schien ihm nun, je länger er sie ansah, desto schwieriger und verwegener, ja ganz unmöglich zu sein. Er wurde kleinlaut und blieb eine Weile schweigsam und unfroh sitzen. |
2512 |
Da rief ihn die Babett auf, er solle seine Geige nehmen, und etwas spielen. Der Junge sträubte und zierte sich ein wenig, griff dann aber schnell in den Kasten, zupfte, stimmte und spielte alsdann ein beliebtes Lied, das, obwohl er zu hoch angestimmt hatte, die ganze Gesellschaft sogleich mitsang. |
2513 |
Da eröffnete auch die Babett ihren abendlichen Hofzirkel wieder und saß, so oft es die Witterung dulden wollte, vor der Kellereinfahrt im Gespräch mit ihren Freundinnen und Schutzbefohlenen. Karl aber hielt sich fern und lief in der Traumwolke seiner Verliebtheit herum. |
2514 |
Hier wurde er von der herben Stimme der Gret übertönt. Sie erzählte schrill und klagend eine lange Schreckensgeschichte von einer bösen Herrschaft, die eine Magd erbärmlich behandelt und gespeist und dann, nachdem sie krank geworden war, ohne Sang und Klang entlassen hatte. |
2515 |
Als eine Viertelstunde später die Tine sich in der Nähe ihres Hauses von der letzten Begleiterin verabschiedet hatte und die kleine Strecke vollends allein ging, trat plötzlich hinter einem schönen alten Ahornbaume hervor der Lateinschüler ihr in den Weg und grüßte sie mit schüchterner Höflichkeit. |
2516 |
Dennoch verstand sie, was er meine, und verstand auch, daß es ihm ernst sei, und kaum sah sie den Jungen so hilflos in ihre Hände geliefert, so tat er ihr auch schon erbärmlich leid, natürlich ohne daß sie darum weniger Stolz und Freude über ihren Triumph empfunden hätte. |
2517 |
Er schritt durch Straßen und über Plätze, an Häusern, Mauern, Gärten und sanftfließenden Brunnen vorbei, ins Feld vor die Stadt hinaus und wieder in die Stadt hinein, unter den Rathausbogen hindurch und am oberen Marktplatz hin, aber alles war verwandelt und ein unbekanntes Fabelland geworden. |
2518 |
Das Mädchen fand, je länger sie sich das Geschehene vorhielt und überlegte, desto weniger Tadelnswertes an dem hübschen und flotten Knaben; auch war es ihr ein neues und köstliches Gefühl, einen so feinen und gebildeten, dazu unverdorbenen Jüngling in sie verliebt zu wissen. |
2519 |
Er hatte noch mehreres fragen und erbitten wollen, aber er dachte jetzt nimmer daran und ging glücklich fort, mit leichten, ruhigen Schritten, als sei die gepflasterte Stadtstraße ein weicher Rasenboden, und mit blinden, einwärts gekehrten Augen, als komme er aus einem blendend lichten Lande. |
2520 |
Doch fühlte sie wohl, daß Karl an diesem Abend ein großes Glück erlebt habe und ihr dafür mehr als dankbar sei, auch vergaß sie seine kindliche Verschämtheit und schüchterne Zärtlichkeit nicht und konnte schließlich in dem Geschehenen, das ja doch nimmer zu bessern war, kein so großes Unheil finden. |
2521 |
Das nächste Wiedersehen geschah erst am Sonntag bei der Babett. Dort begrüßte Tine den Gymnasiasten freundlich, nickte ihm von ihrem Platze aus ein- oder zweimal lächelnd zu, zog ihn mehrmals mit ins Gespräch und schien im übrigen nicht anders mit ihm zu stehen als früher. |
2522 |
Sie nahm ihn durch den kleinen Garten in einen Holzspeicher hinter dem Hause mit, wo es nach Sägspänen und trockenem Buchenholz roch. Dort nahm sie ihn vor, untersagte ihm vor allem sein Verfolgen und Auflauern und machte ihm klar, was sich für einen jungen Liebhaber von seiner Art gebühre. |
2523 |
Daß er seine Liebe nicht verbergen und sich ihrer nicht schämen mußte, sondern sie anerkannt, wenn auch zunächst nicht belohnt sah, das gab ihm ein Gefühl der Lust und Freiheit und hob ihn aus dem engen Kreise seiner bisherigen unbedeutenden Existenz in die höhere Welt der großen Gefühle und Ideale. |
2524 |
Er war Zimmermannsgesell und ein brauchbarer Mensch, der mit dem Meisterwerden und einer etwaigen Heirat nicht mehr allzu lange zu warten brauchte. Er sprach andeutungsweise und stockend von seiner Liebe und deutlich und fließend von seinen Verhältnissen und Aussichten. |
2525 |
Auch wollte sie durchaus nicht, daß er schlecht von ihr denke. Sie fühlte, ohne es deutlich zu wissen, daß sie dem Jüngling einen Vorgeschmack und eine Ahnung der Liebe gegeben hatte und daß die Erkenntnis des Betrogenseins ihn schädigen und ihm das Erlebte vergiften würde. |
2526 |
Und das will ich dir auch noch sagen, daß das niemals das Richtige ist, wenn man sich zum ersten Mal verliebt. So jung weiß man ja noch gar nicht, was man will. Es wird nie etwas draus, und später sieht man dann alles anders an und sieht ein, daß es nicht das Rechte war. |
2527 |
Zugleich nahm sie seine Hand und drückte sie leise, dann ging sie schnell durchs Tor in den Hausgang und davon. Karl Bauer hörte ihre Schritte im Gang schallen und verklingen; er hörte, wie sie das Haus verließ und über die Vortreppe auf die Straße ging. Er hörte es, aber er dachte an andre Dinge. |
2528 |
Das kleine Himmelsviereck über ihm wurde rot und wurde silbern, dann erlosch es und blieb lange Zeit tot und dunkel, und nach Stunden, da es mondhell wurde, saß Karl Bauer noch immer auf seiner Kiste, und sein verkürzter Schatten lag schwarz und mißgestaltet vor ihm auf dem unebenen Steinpflaster. |
2529 |
Er sah ein, daß es töricht und ärgerlich wäre, gerade vor dem letzten Schuljahr noch sitzen zu bleiben, und begann in die immer länger werdenden Frühsommerabende hinein zu studieren, daß ihm der Kopf rauchte. Das war der Anfang zur Genesung, obwohl Karl selber nicht daran glaubte. |
2530 |
Manchmal suchte er auch die Salzgasse auf, in der Tine gewohnt hatte, und begriff nicht, warum er ihr kein einziges Mal mehr begegnete. Das hatte jedoch seinen guten Grund. Das Mädchen war schon bald nach ihrem letzten Gespräch mit Karl abgereist, um in der Heimat ihre Aussteuer fertig zu machen. |
2531 |
Er glaubte, sie sei noch da und weiche ihm aus, und nach ihr fragen mochte er niemand, auch die Babett nicht. Nach solchen Fehlgängen kam er, je nachdem, ingrimmig oder traurig heim, stürmte wild auf der Geige oder starrte lang durchs kleine Fenster auf die vielen Dächer hinaus. |
2532 |
Auch wenn weiter nichts geschehen und die ganze Sache nun abgeschlossen gewesen wäre, hätte Karl die Geschichte seiner ersten Liebe in gutem und dankbarem Andenken behalten und gewiß nie vergessen. Es kam aber noch ein kurzes Nachspiel dazu, das er noch weniger vergessen hat. |
2533 |
Die Aussicht auf Waldspaziergänge, Flußbad und Nachenfahrten, auf Heidelbeeren und Jakobiäpfel und ungebunden fröhliche Bummeltage machte ihn so froh, wie er lange nicht mehr gewesen war. Glücklich lief er durch die heißen Straßen, und an Tine hatte er schon seit mehreren Tagen gar nimmer gedacht. |
2534 |
Er kehrte um und schritt langsam neben ihr die Straße zurück, während er daran denken mußte, wie sie sich früher dagegen gesträubt hatte, mit ihm gesehen zu werden. Freilich, sie ist ja jetzt verlobt, dachte er, und um nur etwas zu sagen, tat er eine Frage nach dem Befinden ihres Bräutigams. |
2535 |
Dann trat Tine allein in eine numerierte Türe. Er wartete still auf dem Gang; es war sein erster Aufenthalt in einem solchen Hause, und die Vorstellung der vielen Schrecken und Leiden, die hinter allen diesen lichtgrau gestrichenen Türen verborgen waren, nahm sein Gemüt mit Grauen gefangen. |
2536 |
Seltsam erregt verließ er das unheimliche Haus. Die vorige Fröhlichkeit war ganz in ihm erloschen, aber was er jetzt empfand, war auch nicht mehr das einstige Liebesweh. Wohl fühlte er dieses noch, aber eingeschlossen und umhüllt von einem viel weiteren, größeren Fühlen und Erleben. |
2537 |
Er sah auch plötzlich ein, daß sein kleines Schicksal nichts Besonderes und keine grausame Ausnahme sei, sondern daß auch über denen, die er für Glückliche angesehen hatte, unentrinnbar das Schicksal walte. Aber er sollte noch mehr und noch Besseres und Wichtigeres lernen. |
2538 |
Er nahm nur ihre Hand und dankte ihr ohne Worte, und sie nickte ihm unter Tränen zu. Er wünschte ihr Gutes und hatte selber in sich keinen besseren Wunsch, als daß auch er einmal auf die heilige Art lieben und Liebe empfangen möchte wie das arme Mädchen und ihr Verlobter. |
2539 |
Auf einem steilen Sträßlein, zum Teil lehmiger Hohlweg, war ich vom Berge herabgestiegen und stand am Seeufer allein und fröstelnd. Nebel rauchte jenseits von den Hügeln, der Regen hatte sich erschöpft und es fielen nur noch einzelne Tropfen, kraftlos und vom Winde vertrieben. |
2540 |
Es war gut im Stande, sauber gemalt, kein Wasser am Boden, und die Ruder schienen ganz neu zu sein. Daneben stand eine Wartehütte aus Tannenbrettern, unverschlossen und leer. Am Türpfosten hing ein altes messingenes Horn, mit einer dünnen Kette befestigt. Ich blies hinein. |
2541 |
Ein zäher, unwilliger Ton kam heraus und flog träge dahin. Ich blies noch einmal, länger und stärker. Dann setzte ich mich ins Boot und wartete, ob jemand käme. Der See war nur leicht bewegt. Ganz kleine Wellen schlugen mit schwächlichem Klatschen an die dünnen Bootwände. |
2542 |
Mich fror ein wenig und ich wickelte mich fest in meinen weiten, regenfeuchten Mantel, steckte die Hände unter die Achseln und betrachtete die Seefläche. Eine kleine Insel, dem Anscheine nach nur ein stattlicher Felsen, ragte in der Seemitte schwärzlich aus dem bleifarbenen Wasser. |
2543 |
Wir hängten zwei Paar Ruder ein, stießen ab, drehten und probierten den Takt aus, dann arbeiteten wir schweigend mit starken Schlägen. Mit dem Erwarmen der Glieder und mit der flotten, taktfesten Bewegung kam ein anderer Geist in mir auf und machte dem fröstelnd trägen Unmut ein rasches Ende. |
2544 |
Wir hatten eine halbe Stunde zu rudern, und während wir unterwegs waren, ward es vollends Nacht. Mein linkes Ruder rieb in seiner Öse bei jedem Zuge mit rostig knarrendem Ton, unter dem Vorderteil des Bootes schlug das schwache Gewoge unregelmäßig mit hohlem Geräusch an den Schiffsboden. |
2545 |
Zehn Jahre hatte ich das Nest nimmer gesehen, und nun wußte ich plötzlich alle Geschichten jener merkwürdigen, schönen Jünglingszeit wieder. Da kam ich auch am Schloß vorbei, das stand mit schwarzen Türmen und wenigen roten Fenstervierecken kühn und verschlossen in der regnerischen Herbstnacht. |
2546 |
Beim Eintreten fand ich den Saal, die Wirtsstube und sogar noch das Nebenzimmer von einer fröhlichen Hochzeitsgesellschaft besetzt. An ein ruhiges Abendessen, eine beschaulich erinnerungsselige Dämmerstunde beim einsamen Schoppen und ein frühes, friedliches Schlafengehen war da nicht zu denken. |
2547 |
Der floß noch wie je so herb und freudig, blinkte gelblich im fußlosen Glase und weckte in mir das schlummernde Gedächtnis zahlreicher Kneipnächte und Kneipenstreiche. Mich aber kannte niemand wieder und ich saß im Getümmel und nahm am Gespräche teil als ein zufällig herein verschlagener Fremder. |
2548 |
Gegen Mitternacht, nachdem auch ich einen Becher oder zwei über den Durst genossen hatte, gab es einen Streit. Um eine Bagatelle, die ich schon am andern Tag vergessen habe, ging es los, hitzige Worte klangen, und drei, vier halbberauschte Männer schrieen zornig auf mich ein. |
2549 |
In meiner Schlafkammer wusch ich mir das heiße Gesicht, schaute vom Fenster über die Dächer weg auf den blassen See hinüber und ging dann zu Bett. Eine Zeitlang hörte ich noch dem langsam abnehmenden Festlärmen zu, dann übernahm mich die Müdigkeit und ich schlief bis zum Morgen. |
2550 |
Ich hörte dem ungestümen Winde zu und sah im Vorwärtsschreiten auf dem Gratsteig mit aufregender Wonne die Landschaft weiter und gewaltiger werden. Von Nordost her hellte der Himmel auf, dorthinüber war die Aussicht frei und zeigte lange, bläuliche Gebirgszüge in großartiger Ordnung aufgebaut. |
2551 |
Freilich kann ich nur für Minuten auf seine Art betrachten, dann fließt die Ordnung wieder ins Chaos zusammen und ich mag nicht glauben, dieses Gebirge sei so zackig und jenes so mild gewellt, nur damit die Leute in der und jener Stadt auch Trink- und Waschwasser haben. |
2552 |
Er schrie mir niegehörte, urweltliche Worte ins Ohr, wie Namen alter Götter. Er strich über den ganzen Himmel hinweg die irrenden Wolkentrümmer zu parallelen Streifen aus, in deren gleicher Linie etwas widerwillig Gebändigtes lag und unter welchen die Berge sich zu bücken schienen. |
2553 |
Über alles weg bräunliche Wolken fegend, dazwischen Stücke eines tief klaren, grünblau und opalfarben durchleuchteten Himmels, Sonnenstrahlen fächerförmig aufs Gewölk gemalt. Alles bewegt, auch die Bergreihen wie hinflutend und die ungleich beleuchteten Alpengipfel jäh, unstet und springend. |
2554 |
Am Tag nach jenem Ausflug trat ich wieder aus. Und übermorgen vielleicht, wenn es glückt, werde ich sie selber wiedersehen. Sie hat einen wohlhabenden Kaufmann namens Herschel geheiratet, und sie soll drei Kinder haben, von denen eins ihr auffallend gleicht und auch Julie heißt. |
2555 |
Und ein halbes Jahr später schrieb sie doch wieder und bat sich frei, für jenen Herschel, und im Leid und Zorn der ersten Stunde schrieb ich keinen Brief, sondern telegraphierte ihr mit meinem letzten Gelde, vier oder fünf geschäftsmäßige Worte. Die gingen übers Meer und waren nicht zu widerrufen. |
2556 |
Dann verschwand alles Gelb, und das rote Licht wurde warm und milde, spielte paradiesisch um traumzarte, hingehauchte Schleierwölkchen und lief in tausend feinen Adern rosenrot durch mattgraue Nebelwände, deren Grau sich langsam mit dem Rot zu einem unsäglich schönen Lilaton vermischte. |
2557 |
Andern Tages reiste sie wieder ab, kam aber vorher noch ans Schulhaus und wartete unsere Morgenpause ab. Als wir lärmend aus den Klassenzimmern hervorbrachen, stand sie bescheiden und lächelnd draußen, und ihre schönen gütigen Augen lachten mir schon von weitem entgegen. |
2558 |
Urplötzlich war der Wald zu Ende und ich stand zwischen den letzten Stämmen hoch an einer steilen Bergwand, und unter mir schlief ein weites Waldtal in der Nachtbläue, und mitten darin zu meinen Füßen lag still und heimlich mit sechs, sieben kleinen rotleuchtenden Fenstern ein Dörflein. |
2559 |
In ihrer Nähe lief auf einem steilen Hügelwege bergan ein Mann mit einer Laterne. Und drunten im Dörflein, in irgend einem Hause, sangen ein paar Mädchen mit kräftigen, hellen Stimmen ein Lied. Ich wußte nicht, wo ich war und wie das Dorf heiße, und ich nahm mir vor, auch nicht danach zu fragen. |
2560 |
Der Ofen war geheizt, ein würfelförmiges Gebäude mit dunkelgrünen Kacheln; in den Kacheln spiegelte freudig warm das matte Lampenlicht, unterm Ofen lag ein schwarzer Hund und schlief. Die Wirtin sagte Grüß Gott, als ich hereinkam, und einer von den Bauern schaute prüfend her. |
2561 |
Kaum hatte ich gegessen und lehnte mich im Sessel zurecht, da fing der Mädchengesang von vorher plötzlich wieder an, ganz laut und nahe. Sie sangen das Lied von der schönen Gärtnersfrau, und beim dritten Vers stand ich auf und ging an die Küchentür und klinkte leise auf. |
2562 |
Als sie mich in der Tür stehen sahen, lachte die Alte, die Rötliche schnitt eine Fratze und die Braune sah mir eine Weile ins Gesicht, dann senkte sie den Kopf, wurde ein wenig rot und sang lauter. Sie fingen gerade einen neuen Vers an und ich fiel mit ein, so gut und kräftig ich es vermochte. |
2563 |
Die Rotblonde schob mir eine Handvoll Bohnen zu und ich half denn mit aushülsen. Als alle die vielen Strophen ausgesungen waren, sahen wir einander an und mußten lachen, was der Braunen überaus prächtig zu Gesichte stand. Ich bot ihr mein Glas hin, doch nahm sie es nicht an. |
2564 |
Bald schlief ich ein, und es mag von der Ofenwärme gekommen sein, daß mir träumte, ich liege am Felsgestade einer südlichen Insel, spüre die heiße Sonne auf meinen Rücken brennen und sähe einem braunen Mädchen zu, das allein in einer Barke seewärts ruderte und langsam ferner und kleiner wurde. |
2565 |
Kaum saß ich in der Stube beim heißen Kaffee, da kam der Gast aus der Stadt herein, grüßte höflich und setzte sich zu mir an den Tisch, wo schon für ihn gedeckt war. Er tat aus einer flachen Reiseflasche ein wenig alten Kirschgeist in seine Tasse und bot auch mir davon an. |
2566 |
Im übrigen machte er einen anständigen Eindruck, etwas zu höflich, aber intelligent und offen. Gekleidet war er kleinstädtisch, sehr solid und sauber, aber schwerfällig. Auch er musterte mich, und da er mich in Kniehosen sah, fragte er, ob ich auf dem Veloziped gekommen sei. |
2567 |
Der Weg führte talaufwärts, eine Strecke den Bach entlang, dann ansteigend gegen die Waldhöhen. Indem ich allein dahin marschierte, fiel mir ein, daß ich im Grunde alle meine Wege so einsam gemacht habe, und nicht nur die Spaziergänge, sondern alle Schritte meines Lebens. |
2568 |
Da greift einem das ewig Rätselhafte so beschämend und so süß ans Herz, daß man allen Hochmut ablegt, mit dem man sonst über das Unerklärliche redet, und daß man doch nicht erliegt, sondern alles dankbar annimmt und sich bescheiden und stolz als Gast des Weltalls fühlt. |
2569 |
Den Namen des Dörfleins, in dem ich genächtigt hatte, wußte ich aber nicht und habe auch nicht nach ihm gefragt. Mein Weg führte am Rand des Waldes weiter, der hier die Wetterseite hatte, und ich fand meine Kurzweil an den kühnen, bedeutungsvoll grotesken Formen der Stämme, Äste und Wurzeln. |
2570 |
Dann ist das Auge geschärft und sieht, ohne zu suchen, ganze Heere von wunderlichen Formen. Das Komische verschwindet, denn alle diese Gebilde stehen so entschlossen, keck und unverrückbar da, daß ihre schweigende Schar bald Gesetzmäßigkeit und ernste Notwendigkeit verkündet. |
2571 |
Als ich durch die Dorfgasse schritt, sah ich vor einem neugebauten Gasthof einen Wagen stehen und erkannte sofort das Gefährt des Kaufmanns aus Ilgenberg und sein kleines, sonderbar geflecktes Pferd. Er selber trat gerade aus der Türe, um wieder einzusteigen, als er mich daherkommen sah. |
2572 |
Er gab dem Hausknecht ein Trinkgeld, nahm die Zügel und fuhr los. Der Wagen lief gar leicht und bequem auf der guten, harten Straße und mir tat nach tagelangem Fußgängertum das herrschaftliche Gefühl des Fahrens wohl. Wohl tat mir auch, daß der Kaufmann keine Versuche machte mich auszufragen. |
2573 |
Erinnerungen blitzen in verwirrender Menge auf, man lebt ganze Entwicklungen in traumhafter Sekundeneile wieder durch, unwiederbringlich Verlorenes blickt uns heimatlich und schmerzlich an. Eine schwache Erhöhung über die unser Wagen im Trabe lief, öffnete den Blick auf die Stadt. |
2574 |
In diesen Gartensträßchen war ich nachts in Liebeszeiten brennend und verzweifelnd umhergewandert, den heißen Kopf voll von abenteuerlichen Plänen. Und hier war ich glücklich gewesen wie ein Seliger über den Gruß eines Mädchens und über die ersten schüchternen Gespräche und Küsse unserer Liebe. |
2575 |
Also das war Herr Herschel. Ein angenehmer Mann, und wohlhabend. Wenn ich an Julie dachte, was für ein stolzes und prächtiges Mädchen sie gewesen war und wie sie meine damaligen phantastisch kühnen Ansichten und Lebenspläne verstanden und geteilt hatte, dann würgte es mich im Halse. |
2576 |
Gedankenlos in tiefer, hilfloser Traurigkeit ging ich durch die alte, kahle Kastanienallee in das Städtchen hinein. Im Gasthaus war gegen früher alles ein wenig feiner und modern geworden, es gab sogar ein Billard und vernickelte Serviettenbehälter, die wie Globusse aussahen. |
2577 |
Nach dem Essen machte ich mich auf und schlenderte langsam durch die wenig veränderten Straßen, las die alten wohlbekannten Namen auf den Ladenschildern, ließ mich rasieren, kaufte einen Bleistift, sah an den Häusern hinauf und strich an den Zäunen hin durch die ruhigen Gartenwege der Vorstadt. |
2578 |
Ich stand unschlüssig da und schaute am Haus hinauf, müde und beklommen. Ein kleiner Junge marschierte den Platz herauf und pfiff den Jungfernkranz; als er mich dastehen sah, hörte er zu pfeifen auf und sah mich beobachtend an. Ich schenkte ihm zehn Pfennig und hieß ihn weitergehen. |
2579 |
Nebel Am Morgen wachte ich zeitig auf und beschloß, sogleich weiter zu wandern. Es war kalt und ein Nebel lag so dicht, daß man kaum über die Straße sah. Frierend trank ich Kaffee, bezahlte Zeche und Nachtlager und ging mit langen Schritten in die dämmernde Morgenstille hinein. |
2580 |
Rasch erwarmend ließ ich Stadt und Gärten hinter mir und drang in die schwimmende Nebelwelt. Das ist immer wunderlich ergreifend zu sehen, wie der Nebel alles Benachbarte und scheinbar Zusammengehörige trennt, wie er jede Gestalt umhüllt und abschließt und unentrinnbar einsam macht. |
2581 |
Du siehst ihn herkommen und sagst Grüß Gott, und er dankt; aber kaum ist er an dir vorbei und du wendest dich und schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald undeutlich werden und spurlos ins Graue hinein verschwinden. Nicht anders ist es mit den Häusern, Gartenzäunen, Bäumen und Weinberghecken. |
2582 |
Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem andern, er sei wer er wolle, im Grunde unerbittlich fremd ist, und wie unsere Wege immer nur für wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft gewinnen. |
2583 |
Auf den Wunsch einiger Freunde, namentlich aber auf die Aufforderung Wilhelm Schäfers hin, soll der verstorbene Hermann Lauscher wieder ausgegraben und noch einmal unter die Leute geschickt werden. Da bin ich denn eine Erklärung und Rechenschaft schuldig, zumindest eine bibliographische. |
2584 |
Das Büchlein erschien, in kleinster Auflage, beinahe mit Ausschluß der Öffentlichkeit, und ist kaum über meinen Freundeskreis hinaus bekannt geworden. Wenige andere griffen, da sie meine späteren Bücher kannten, nachträglich zu dem Schriftchen und sahen darin eine Art von literarischem Kuriosum. |
2585 |
Diese beiden Stücke fügte ich ein. Und nun liegt das Ganze da und schaut mich nicht eben glücklich an: Dokumente einer schönen und innigen, doch nicht leichten Jugendzeit. Was ich damals wollte, habe ich nicht erreicht; was ich seither erreichte, kam beinahe ungewollt und wiegt mir nicht schwer. |
2586 |
Vor mir, als dem einzigen Literaten seiner Freundschaft, schien er in diesem Punkte besonders ängstlich zu sein. Ich schwor lachend ewiges Stillschweigen, das Gespräch wendete sich zu literarischen Fragen, wobei Lauscher alle Quellen seiner fast feindseligen Ironie springen ließ. |
2587 |
Dann versank er in Schweigen, trank hastig mehrere Becher Wein und nahm plötzlich kurzen Abschied. Ich sah ihn seither nicht wieder — zehn Tage darauf starb er plötzlich auf einer Reise. Lauschers literarischer Nachlaß enthielt fast nichts als die hier mitgeteilten Stücke. |
2588 |
Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild, an welchem vornehmlich eine Fülle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich köstliches Vormittagssonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird. |
2589 |
Der früheste Tag meines Lebens, an den ich mich mit einiger Deutlichkeit erinnern kann, mag etwa in den letzten Teil meines dritten Jahres fallen. Meine Eltern hatten mich auf einen Berg mitgenommen, der durch eine weitläufige Ruine von beträchtlicher Höhe täglich viele Städter anlockte. |
2590 |
Eine genauere Erinnerung an Erlebnisse und an fortdauernde Zustände kann ich nicht weiter als bis in mein fünftes Jahr zurück verfolgen. Hier finde ich zuerst ein Bild meiner Umgebung, meiner Eltern und unseres Hauses, sowie der Stadt und der Landschaft, in welcher ich aufwuchs. |
2591 |
Alle tiefen Gemütserlebnisse, alle Menschen, selbst die Porträts meiner Eltern, scheinen mir nicht so früh deutlich geworden, wie diese Wiese mit unzähligen Einzelheiten. Meine Erinnerung an sie scheint mir älter zu sein als diejenige an Menschengesichter und erlittene eigene Schicksale. |
2592 |
Weniges aus dieser fernen Zeit hat sich so stark und frisch in meinem Gedächtnis erhalten, wie die atemlose, herzklopfende Wonne, welche mich bei diesem Anblick durchdrang. Aber nach der unberechenbaren und grausamen Art der Kinder beschlich ich bald das edle Tier und warf meinen Hut nach ihm. |
2593 |
Obwohl die grünen Monate meiner Wiesenzeit mir wie ein schöner, gleichmäßig heller, ununterbrochener Traum im Bewußtsein liegen, steigen doch einzelne Tage von besonderem Glanz mit weichen Umrissen daraus auf. Ich gäbe Schätze dafür, von solchen Tagen mich mehrerer erinnern zu können. |
2594 |
Von dem Gedächtnis dieser Tage aus blicke ich oft wie von einem Turm rückwärts in meine ersten Jahre und kann nichts als ein bewegtes Meer von Rätseln und Anfängen sehen, ohne Formen, aber mit einem heiligen Ferneduft, einem Schleier, der über Wunder und Kostbarkeiten gelegt ist. |
2595 |
Unter jenen vereinzelten Silberblicken ist mir ein Spaziergang besonders teuer, da er das früheste Bild meines Vaters enthält. Der saß mit mir auf der von der Sonne durchwärmten Mauerbrüstung des Bergkirchleins Sankt Margarethen, zum erstenmal mir von der Höhe aus die dortige Rheinebene zeigend. |
2596 |
Demselben Sommer mag ein anderes Bild angehören, das ohne Zusammenhang, aber erstaunlich klar und treu mir eingeprägt ist. Ich sehe die ganze hohe, magere Gestalt meines Vaters aufrecht mit zurückgelegtem Haupt einer untergehenden Sonne entgegengehen, den Filzhut in der Linken tragend. |
2597 |
In ungezählten Träumen und wachen Nächten hing mein Auge an diesem liebsten Kleinod meiner Erinnerung, dem Vermächtnis einer meiner goldensten Stunden. So ist mir nie wieder eine Sonne untergegangen hinter Ährenmeeren, so rot, prächtig, friedsam, so voll Glut und Genüge. |
2598 |
Die Erinnerung an Vater und Mutter beginnt von hier an klar zu werden. Neben meiner Wieseneinsamkeit ging unabhängig ein freundliches, häusliches Leben her. Von diesem ist mein Bewußtsein, der vielerlei Menschen und Anregungen wegen, nicht so einheitlich und deutlich, wie von dem Leben im Grase. |
2599 |
Es gibt nichts Wunderbareres und Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gründlicher verloren geht, als die Seele des spielenden Kindes. Bei dem leidlichen Wohlstand und der überaus freigebigen Güte meiner Eltern fehlte es mir an reichlichem Spielzeuge nicht. |
2600 |
Ich ging in das Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut zurück, vorgebend, ich hätte die Schuhe nicht gefunden. Mein Vater, der etwas Phantastisches ahnte und ein strenger Feind auch der Notlüge war, schickte mich nochmals hin. |
2601 |
Er ging aber doch, zwang mich mit, bückte sich und kehrte wohlbehalten aus der greulichen Höhle zurück, was ich lange Zeit, unter Dankgebeten, allein seinem unerhörten Mut und einem ganz besonderen Schutz des lieben Gottes zuschrieb. Ein anderes Mal wuchs mein Angstgefühl vollends ins Krankhafte. |
2602 |
Dazu kam im Vorübergehen ein Blick in eine Schmiede, wo rußige, halbnackte Männer an der aus dem Dunkeln aufsprühenden Esse mit großen Zangen wie Folterknechte standen, und das mir vorher unbekannte trunkene Gejohle einiger Wirtshausbrüder, das mir raubtierartig und verbrecherisch vorkam. |
2603 |
Mein Grausen wurde dadurch gesteigert, daß ich es in mir zu verbergen bemüht war, denn der kleine Mitgänger hatte nichts verstanden und steuerte sorglos in den Abend hinein, und vor den ältern Begleiterinnen, obwohl sie selber Angst hatten und nur flüsternd noch redeten, schämte ich mich. |
2604 |
Als aber nach eben beendeter Geschichte auf Sankt Peter die Abendglocke zitternd anschlug, ließ ich in rasender Angst die Hand des kleinen Jungen fahren und rannte, von der ganzen Hölle gehetzt, in die Nacht hinein, stolperte, stürzte, und wurde keuchend und zitternd heimgebracht. |
2605 |
Davon war der lebhafteste gegen die Wahrhaftigkeit eines orbis pictus gerichtet, eines Lieblingsbilderbuches, das mich von der ersten Schaulust bis weit in das reifende Knabenalter begleitete und so in meiner Geschichte die umgekehrte Rolle des Robinson und Gulliver in der wirklichen spielte. |
2606 |
Ich blieb daher nicht nur skeptisch und ungerührt, sondern antwortete dem Freunde hohnlächelnd und mit großer Genugtuung, er möge nur wieder zu seinem Vater gehen und ihm sagen, er wäre ein Kamel. Diese Antwort trug mir erst von dem Beleidigten und dann von meinem Vater Prügel ein. |
2607 |
Indessen wuchs mein Verstand und begann, auf die ersten Belehrungen und Erfahrungen bauend, sich allmählich einer stiller werdenden eigenen Tätigkeit zu erfreuen. Meine Spiele nahmen, ohne Vorbilder zu haben, die verwickelteren, intelligenteren Formen der eigentlichen Knabenspiele an. |
2608 |
Oder nicht der ganze, denn ich vermochte das Beste nicht auszusprechen, die Empfindungen durchträumter Frühlinge und beglückender Liebhabereien, das milde Nachgefühl kindlicher Freuden und Wehen, herzlicher genossen und tiefer erlitten als viele größere Freuden und Wehen der späteren Zeiten. |
2609 |
Neben dem Gedanken an den erwarteten ersten Eintritt ins wirkliche Leben war eine Abschiedsstimmung in mir lebendig, und ein halbbewußtes Rückverlangen nach der Ungebundenheit und Traumtiefe der bisherigen Tage. Da wars, daß ich eine Bewegung unter den Sternen zu sehen glaubte. |
2610 |
Der Wunsch meines Vaters, mich selber zu unterrichten, hielt dem allgemeinen Brauch und dem Rat aller Freunde und Verwandten nicht stand. Ich wurde einer öffentlichen Schule übergeben, hatte mehrere Lehrer, die jährlich wechselten, und litt unter allen Übelständen dieser Anstalten. |
2611 |
Ich wurde ungewöhnlich hart gezüchtigt und glaubte nun vollends meinen Trotz nicht brechen lassen zu dürfen. So verhielt ich mich einige Tage scheu und feindselig, während mein Vater schwieg und ein Schatten auf dem ganzen Hause lag. In diesen Tagen war ich unglücklicher als jemals vorher. |
2612 |
Sie sagte mir von Zeiten, da ich ihr fremd geworden sei, und wie da ihre Angst und Liebe mich begleitete; sie beschämte und beglückte mich mit jedem Wort, und dann redeten wir beide mit Namen der Liebe und Ehrfurcht von meinem Vater und freuten uns mit Sehnsucht auf seine Heimkehr. |
2613 |
In dieser Zeit etwa begann mein Ohr zu erwachen und meine Phantasie sich mit Melodien zu beschäftigen. Ich liebte es, in Freistunden zum Münster zu gehen und mich durch das Tor zu schleichen, um das Spiel des Organisten zu hören, der stundenlang dort sich seiner Kunst erfreute. |
2614 |
Wie viel von meinen Leiden und meiner Verbitterung, neben meinen eigenen Fehlern, der ganzen Erziehungsart zur Last fällt, kann ich nicht urteilen; aber in den acht Jahren, welche ich in den niederen Schulen zubrachte, fand ich nur einen einzigen Lehrer, den ich liebte und dem ich dankbar sein kann. |
2615 |
Ich weiß wohl mit der eigentümlichen Art des Knabenalters zu rechnen, als einer heiklen, problematischen Zeit der Scheidungen, Beschneidungen und Häutungen, voll von schwer verständlichen Erregungen und Exzessen; aber ich kann mich der Trauer und der Anklage nicht enthalten. |
2616 |
Der freundschaftlich in Frage, Antwort und Erzählung erteilte väterliche Unterricht legte einen guten Grund in mir. Was in der Schulstube und im Mund der Lehrer mir langweilig und peinlich erschien, gewann hier anziehende Formen und schien mir alles ernstlichen Fleißes würdig. |
2617 |
Die lateinische Sprache lernte ich leicht und mit Eifer, sie blieb durch meine Schülerzeit und durch mein Leben mir befreundet und geläufig. So fand man mich zur Vorbereitung auf den Eintritt in eine schwäbische gelehrte Schule würdig. Das Examen wurde leidlich bestanden. |
2618 |
Es seien denn einzelne nachklingende, elegische Laute aus der umflorten Harfe des armen Hölderlin. Statt dessen brannte dort die strenge, fleißige Gegenwart in zahlreichen Studierampeln über die ganze Breitseite des Stifts verteilt und glänzte mattrot durch die breiten, niederen Fenster. |
2619 |
Drehdichum brach in ein leises Hohngelächter aus. Die Wirtin kreischte entsetzlich auf, rannte Tänzern nach, blieb mit dem Rock am Stuhle hängen, fiel zu Boden, der nacheilende Ugel über sie weg und über ihn der Dichter, der im Aufspringen Weinkelch und Blumentopf mit sich riß. |
2620 |
Im Büffet hörte man die schöne Lulu weinen, und Erich trat mit der ganz zerknitterten Blume in der Hand heraus. Alles stürzte sich scheltend, fragend, drohend, lachend auf ihn los; er aber hieb mit der zerbrochenen Blume wie ein Verzweifelter um sich und gewann ohne Hut das Freie. |
2621 |
Die unregelmäßigen flüchtigen Schriftzeichen flossen in unbeschreiblicher Weise zu dem Umriß eines Kopfes zusammen, und beim längern Betrachten entwickelten sich aus dem Umrisse feine Züge eines Mädchenangesichts, die niemand anders als die schöne fremde Lulu darstellten. |
2622 |
Er schenkte sich seinen Becher selber am Fasse voll und setzte sich dem Mädchen gegenüber an den Tisch. Ohne etwas zu reden, blickte er zuweilen freundlich aus seinen alten hellen Augen der Schönen ins Gesicht, und sie, da sie sein Wohlwollen spürte, fuhr unbefangen in ihrer Arbeit fort. |
2623 |
Der Philosoph ergriff ein leeres geschliffenes Glas, füllte ein wenig Wasser hinein und begann den Rand, den er befeuchtet hatte, mit der Spitze des Zeigefingers zu reiben. Bald kam ein Summen hervor, und dann ein klarer Ton, der ohne Unterbruch bald schwellend, bald schwindend die Stube erfüllte. |
2624 |
Die schöne Lulu hörte das feine Singen gern, sie ließ die Hände ruhen und lauschte und ward von dem ewigen süßen Kristalltone ganz bezaubert, indes der Alte manchmal vom Glase weg ihr freundschaftlich und eindringend in die Augen blickte. Das ganze Zimmer klang von dem Singen des Glases. |
2625 |
Man probiert, man mißt sich selber, sucht nach den Grenzen seiner Begabung, experimentiert mit sich, und schließlich sieht man zu spät, daß man den bessern Teil seiner selbst und seiner Kunst in den verspotteten unbewußten Regungen der früheren Jugend zurückgelassen hat. |
2626 |
Die Dichter neigen auch heute noch mehr als andere Menschen zu dem Glauben, daß im Schoß des Lebens gewisse ewige Mächte und Schönheiten halbschlummernd liegen, deren Ahnung durch die rätselhafte Gegenwart zuweilen hindurchschimmert wie ein Wetterleuchten durch die Nacht. |
2627 |
Erich und Ludwig hatten sich schon fortgemacht und wandelten im Golde des klaren Spätnachmittags der Stadt und dem Gasthaus zur Krone entgegen. Karl und Hermann ereilten die letzten zerflatternden Schleier der Tabakswolke im tiefen Walde und standen ratlos vor einer dicken Buche still. |
2628 |
Sie war heiter und plauderte mit ihrer weichen Liebesstimme harmlos in das Gespräch hinein. Alle setzten sich in halber Höhe des Berges auf eine geräumige Ruhebank. Die helle Stadt lag blank und fröhlich im Tale, und ringsum glänzte der goldene Duft des Abends auf den hohen Wiesen. |
2629 |
Die Nacht war schwül. Rasche, unvollendete, fiebernde Gedanken stiegen in seiner heißen Stirn empor und verloren sich in flüchtig verblassenden Träumen, ohne daß darüber die schwere Schwüle der Augustnacht und das zähe, peinigende Singen einiger Schnaken seinem Bewußtsein entschwunden wäre. |
2630 |
In seinem schmerzenden Haupte stieg die Vorstellung auf, dieses ganze Durcheinander und er selbst und Lulu wären ohnmächtige, willenlose Fragmente aus einem Manuskripte des alten Philosophen, hypothetische, versuchsweise kombinierte Teile einer unvollendeten ästhetischen Spekulation. |
2631 |
Er überlas es leise noch einmal, faltete es zusammen und verbarg es in seiner Tasche. Die schöne Lulu sah schweigend zu und nickte nachdenklich. Nun wurde der Wirt auf der Treppe hörbar, Lulu sprang auf und begann ihre Morgenarbeit. Grüßend trat der kleine, feiste Wirt herein. |
2632 |
Jeder von den beiden dachte an seine Liebe, und schweigend ruhten sie lange Zeit, Waldkronen und Himmel über sich. Über ihre Stirnen lief der kräftige, kühle Wind, über ihre Seelen spannte, vielleicht zum letzten Mal, die selige Jugend ihre blauen, ahnungsvollen Himmel aus. |
2633 |
Sie sind ein unermeßlich wichtiges Element dessen, was man Schicksal nennt. Es ist vorgekommen, daß das eigentliche, wohltätige Leben eines solchen Bündnisses erst im Augenblicke der Trennung und Entsagung begann; denn diese unterliegen unserm Wollen, dem die Macht jener Sympathie sich entzieht. |
2634 |
Verspätet suchten sie den Mittagstisch der Krone auf. Sie fanden Lulu daselbst in fröhlicher Stimmung und mit einem neuen, hellen Kleide geschmückt. Freundlich nahm sie die mitgebrachten Blumen an und stellte den Strauß in eine Vase auf den Ecktisch, an dem die beiden zu speisen pflegten. |
2635 |
Wäret ihr Philosophen, so würde ich euch eine schöne allegorisch-mystische Geschichte von der Wiedergeburt des Schönen und speziell von der Erlösung des poetischen Prinzips durch die ironische Metamorphose des Mythus erzählen, welche Geschichte heute ihr seliges Ende erfährt. |
2636 |
Ein heilig schönes, zartes Leuchten lag auf ihrem feinen Gesicht, matthell und gleichsam vergeistigt schimmerte in ihrem prachtvollen dunkeln Haar die weiße Rose. Die Lilien bewegten sich unbeschreiblich schlank und harmonisch in einem seltsamen Blumenreigen um die Quelle. |
2637 |
Er verschwand und erschien allsogleich auf der Bühne, Haar und Bart noch voll von Rosen. Allmählich war der Raum der Bühne von einem immer mehr zunehmenden Licht erfüllt, bis klar und glänzend Quelle und Liliengarten des Vorhangs nun in edler Wirklichkeit blühend und rauschend zu erblicken waren. |
2638 |
Langsam traten die Lilien des Vordergrundes zur Seite, eine festliche Treppe senkte sich von der Bühne herab. Im dunkeln Zimmer erhob sich hoch und schlank die schöne Lulu, schritt über die hinter ihr wieder zurückweichende Treppe hinan und stellte sich in unsäglicher Schönheit als Prinzessin dar. |
2639 |
Einen Augenblick war er noch ganz von inwendigem Glanze durchleuchtet, in heftiger Bewegung tanzten die gestickten Lilien durcheinander, immer schneller und rasender, bis nur noch ein einziger silberner Wirbel zu sehen war, der plötzlich lautlos in völlige Finsternis versank. |
2640 |
Licht wurde gemacht. Durch Unvorsichtigkeit kam das ganz vergessene Feuerwerk in Brand und knallte mit abscheulichem Lärmen durcheinander. Wirt und Wirtin liefen herzu, klagten und schalten. Ein Nachtwächter pochte von der Straße aus mit dem Spieß an die verschlossenen Fensterläden. |
2641 |
Man schrie und fragte, jeder an den andern hin. Aber niemand fand mehr eine Spur von Lulu und dem Philosophen. Der Referendar Ripplein begann ärgerlich zu werden und von Gaunerei zu reden; doch hörte niemand auf ihn. Hermann Lauscher war in sein Zimmer entwichen und hatte von innen geriegelt. |
2642 |
Jenen ganzen Abend und die halbe Nacht sang unsre Nachtigall. Ich weiß jetzt das Geheimnis der Nachtigall und singe schon lang nach derselben Weise. Man hört diese Lieder gern, sie gleiten weich und sind voll Wohllaut, aber der Text ist traurig, er ist sogar zuweilen bitter, sogar gemein. |
2643 |
Und dann lassen wir die Wände mit goldenen Palmenreliefs schmücken, und dann tanzen wir dort nach einer Mozartmusik Gavotte und sehen von den hohen Fenstern auf den schwarzen Wald. Und dann werden wir traurig, kehren in den alten Porphyrsaal zurück und hören dem Brunnen zu. |
2644 |
Dann kam eine fremde schlanke Frau mit dunkelgroßen Augen, ganz wie du sie hast. Die sang so schön und war so fremd und lockend, daß der Knabe sein liebes Nachbarkind vergaß. Er ging mit der fremden Frau in ein anderes Land, wo die Sterne größer und die Nächte blauer sind. |
2645 |
Dort sitzen sie nun bei dem Brunnen und sehen den Mond im Wasser verleuchten. Sie haben kühle Hände ineinander gelegt und reden kühle Worte zu einander, und ich glaube, daß jedes von den beiden Heimweh hat. Wenigstens der Knabe, der inzwischen alt und anders geworden ist. |
2646 |
Du sahest ihn oft mit mir, zumal in solchen Mondnächten, und auch die andern: schlanke, begeisterte Knaben wie ich selbst. Frag nicht, wo sie sind und was aus unserer Freundschaft geworden ist! Auch jetzt hab ich Freunde, zwei, drei — von den damaligen ist keiner mehr darunter. |
2647 |
Aber du bist noch da und liebst mich noch, und bald oder spät, wenn auch die Freunde von heute tot oder fremd sein werden und kein Mensch mehr von meiner Jugend mit mir plaudern wird, wirst du noch immer bei mir sein, und mich zuweilen bitten, von den vergangenen schöneren Zeiten zu reden. |
2648 |
Wir gingen nun zusammen durch die Straßen, erstiegen den Münsterturm, weideten uns am Anblick der prachtvollen Gobelins im historischen Museum, aßen in einem Wirtshause tief unter der großen Aarebrücke gebackene Forellen und strandeten nach einer zweiten Wanderung im Keller des Kornhauses. |
2649 |
Eigentlich waren die Veilchen an allem schuld, die Veilchen und der Frühling, und ohne sie wäre die ganze süße Pein mir fremd geblieben, an der seither mein Leben verblutet. Jene Veilchen im Garten waren schuld, daß in meiner fröhlichen Knabenseele die duftend dunklen Schatten emporstiegen. |
2650 |
O wenn ich diese Nachtigall nie gehört hätte! Dann hätten nicht die liebsten Lieder aufgehört mich zu erfreuen, dann wäre nicht die dunkle Sehnsucht in mir erwacht. Dann hätte ich nicht begonnen, von jenem Glück zu träumen, das irgendwo hinter dem Leben wie hinter einer verwunschenen Hecke schläft. |
2651 |
Dann wäre auch der unselige Traum noch ungeträumt, daß das beste, seligste Stück meines Lebens in jenem Buche ungelesen und unerlebt geblieben sei. Dann wäre ich kein Dichter geworden und die traurig beredte, zweifelsüchtige Sprache des Leidens wäre mir unbekannt geblieben. |
2652 |
Ich glaube nicht an jene Dichter, aus deren Haupte, wie man sagt, die fertigen klingenden Verse wie gepanzerte Göttinnen hervorspringen. Ich weiß, wieviel innerstes Leben und wieviel rotes Herzblut jeder einzige echte Vers getrunken haben muß, ehe er auf seinen Füßen stehen und wandeln kann. |
2653 |
An alles Sanfte und Tröstende versuche ich zu denken, ich beschwöre alle milden Erinnerungen, alle freundlichen Sterne des Gedankens und der Poesie, alle besänftigenden Gleichnisse. Es ist umsonst, und kein Gedanke hält vor der bedrückenden Gegenwart dieser Stunde stand. |
2654 |
Ich grüße euch, traurige Brüder, die ihr fern von mir und fern voneinander in vielen einsamen und dunkeln Schlafgemächern lieget. Ihr leidet wie ich, ihr suchet mit großen Augen die unsichtbaren Gestalten der Finsternis und habt Schmerzen, sobald ihr die starren Lider schließet. |
2655 |
Fürstlich, schön, kühl, übermütig, süß und feindselig zugleich. Ach, ich werde einmal von ihr singen —: Abend, Spätsommer, tiefsammetblau, Sterne fallen aus der warmen Höhe. Wir beide in der Spätrosenlaube, ich und Eleonor, selig elend, eins des andern innersten Mangel kennend. |
2656 |
Sie steigen wie kleine Wellen aus dem Fluß der Zeit, und fallen zurück, und haben nie gewünscht, ihr Dasein mit irgend einem Faden an die Ewigkeit zu knüpfen. Sie wissen nicht, daß jeder Dichter sein Leben lang, oft halbbewußt, an den unsinnlich schönen Zügen einer Beatrice dichtet. |
2657 |
Vor deiner süßen Nähe zitterte mein Knabenherz unter der Blutbuche, und es waren deine Augen, aus denen ich in jener schwülen Spätsommernacht so viel Liebe und Elend las. Und dein Blick verrät mir: du weißt, daß ich dein eigen bin und daß du mir den Fuß auf den Nacken setzen darfst. |
2658 |
Ich ertrage ihn nicht, mit seiner verborgenen Frage, mit seiner traurigen Grausamkeit. O wie könnte ich dir mit Vorwürfen antworten! Aber ich kenne dich. Du hörst mich an, du lächelst, nickst sogar, wenn ich dich der Bitterkeit und des Bruches erinnere, die durch dich in mein Leben gekommen sind. |
2659 |
Ich weiß, du wirst hinter dem Prediger stehen und deine süßen ironischen Staunaugen machen. Du bist ja schon an so vielen Gräbern gestanden. Und wie du aufhorchen wirst, wenn er von meiner unsterblichen Seele redet! Diese Seele ist ja du, oder ist doch ein Teil, ein Zug von dir. |
2660 |
Wieviele tote und vergessene Dichter haben an dir gedichtet, bis du zu mir kamst, bis du so gliederschön, schlank und biegsam wurdest! Und nun bist du mein! Wenn auch kein Wort noch Reim von mir mich überdauert, einen Zug von mir wirst du Unsterbliche doch weitertragen. |
2661 |
Wie deine Hand zu streicheln versteht! Ich fühle dabei die ganze Geschichte dieser Hand, die ganze adlige Kultur ihrer Form und Geste, an der schon die Maler des frühen Florenz gearbeitet haben, die auf so viel lorbeerbekränzten, ungenügsamen, scharfgefalteten Künstlerstirnen ruhte. |
2662 |
Manchmal aber trat man herein und war sogleich erdrückt und zerkleinert, hatte Angst, suchte rasch die befreiende Treppe. Als ich elf Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule her nach Hause, an einem von den Tagen, wo Schicksal in den Ecken lauert, wo leicht etwas passiert. |
2663 |
Ich hatte seit kurzem eine Freundschaft mit Oskar Weber, dem Sohn eines Lokomotivführers, ohne recht zu wissen, was mich zu ihm zog. Er hatte neulich damit geprahlt, daß sein Vater sieben Mark im Tag verdiene, und ich hatte aufs Geratewohl erwidert, der meine verdiene vierzehn. |
2664 |
Überhaupt, das Leben schmeckte an jenem Tage wieder einmal hoffnungslos fade, der Tag hatte etwas von einem Montag an sich, obwohl er ein Samstag war, er roch nach Montag, dreimal so lang und dreimal so öde als die anderen Tage. Verdammt und widerwärtig war dies Leben, verlogen und ekelhaft war es. |
2665 |
Auch in jener Stunde, von der ich erzähle, kam dies Angstgefühl wieder über mich, als ich in dem heller und heller werdenden Treppenhause mich der Glastür näherte. Es begann mit einer Beklemmung im Unterleib, die bis zum Halse emporstieg und dort zum Würgen oder zu Übelkeit wurde. |
2666 |
Mit diesem üblen und verfluchten Gefühl, einem wahren Verbrechergefühl, kam ich in den Korridor und in das Wohnzimmer. Ich spürte: es ist heut der Teufel los, es wird etwas passieren. Ich spürte es, wie der Barometer einen veränderten Luftdruck spürt, mit rettungsloser Passivität. |
2667 |
Meine Mutter war nicht im Wohnzimmer, und in der Küche war nur die Magd. Ich beschloß, zum Vater hinauf zu gehen, zu dessen Studierzimmer eine schmale Treppe hinaufführte. Wenn ich auch Furcht vor ihm hatte, zuweilen war es doch gut, sich an ihn zu wenden, dem man so viel abzubitten hatte. |
2668 |
Ich wußte nur, es würde etwas Schlechtes sein. Nun war ich beim Schreibtisch, nahm ein Buch in die Hand und las einen englischen Titel, den ich nicht verstand. Englisch haßte ich — das sprach der Vater stets mit der Mutter, wenn wir es nicht verstehen sollten und auch wenn sie Streit hatten. |
2669 |
Ich nahm zwei von den Stahlfedern und steckte sie in die Tasche, Gott weiß wozu, ich brauchte sie nicht und hatte keinen Mangel an Federn. Ich tat es nur, um dem Zwang zu folgen, der mich fast erstickt hätte, dem Zwang, Böses zu tun, mir selbst zu schaden, mich mit Schuld zu beladen. |
2670 |
Schon im Ablassen und Verzichten zog ich noch spielend an einer andern Lade, mit etwas erleichtertem Gefühl und mit dem Vorsatz, nachher die zwei gestohlenen Stahlfedern drüben wieder an ihren Ort zu legen. Vielleicht waren Rückkehr und Reue möglich, Wiedergutmachung und Erlösung. |
2671 |
Ich zog noch drei, vier Feigen von dem Ring, der davon kaum leichter wurde, und noch einige, und als meine Taschen gefüllt und von dem Kranz wohl mehr als die Hälfte verschwunden war, ordnete ich die übriggebliebenen Feigen auf dem etwas klebrigen Ring lockerer an, so daß weniger zu fehlen schienen. |
2672 |
Dann stieß ich, in plötzlichem hellem Schrecken, die Lade heftig zu und rannte davon, durch beide Zimmer, die kleine Stiege hinab und in mein Stübchen, wo ich stehen blieb und mich auf meinen kleinen Stehpult stützte, in den Knien wankend und nach Atem ringend. Bald darauf tönte unsre Tischglocke. |
2673 |
Ich hatte keinen Hunger, jeder Schluck machte mir Mühe. Und neben mir saßen meine Schwestern, die Eltern gegenüber, alle hell und munter und in Ehren, nur ich Verbrecher elend dazwischen, allein und unwürdig, mich fürchtend vor jedem freundlichen Blick, den Geschmack der Feigen noch im Munde. |
2674 |
Man müßte Gift haben, das war das beste, oder sich hängen. Es war überhaupt besser, tot zu sein, als zu leben. Es war ja alles so falsch und häßlich. Ich stand und sann und griff zerstreut nach den verborgenen Feigen und aß davon, eine und mehrere, ohne es recht zu wissen. |
2675 |
Es war eine Zigarrenkiste, die ich fest zugenagelt hatte; in den Deckel hatte ich mit dem Taschenmesser einen ungefügen Schlitz für die Geldstücke geschnitten. Er war schlecht und roh geschnitten, der Schlitz, Holzsplitter standen heraus. Auch das konnte ich nicht richtig. |
2676 |
So war es mit meinen Holzarbeiten, so mit meiner Handschrift und meinen Zeichnungen, so war es mit meiner Schmetterlingssammlung und mit allem. Es war nichts mit mir. Und nun stand ich da und hatte wieder gestohlen, schlimmer als je. Auch die Stahlfedern hatte ich noch in der Tasche. |
2677 |
Seither war nichts dazu gekommen. Auch diese Sparkassengeschichte war so eine meiner Unternehmungen! Alles taugte nichts, alles mißriet und blieb im Anfang stecken, was ich begann! Mochte der Teufel diese unsinnige Sparkasse holen! Ich mochte nichts mehr von ihr wissen. |
2678 |
Ungewiß war, was es sein würde; aber Phantasien und vorläufige Zwangsvorstellungen davon waren mir schon mehrmals verwirrend durch den Kopf gegangen, Vorstellungen von Verbrechen, mit denen ich an der Welt Rache nehmen und zugleich mich selbst preisgeben und vernichten würde. |
2679 |
Oder zu andern Zeiten war das Verbrechen meiner Träume eine Rache an meinem Vater, ein Mord und grausiger Totschlag. Ich aber würde mich dann benehmen wie jener Verbrecher, jener einzige, richtige Verbrecher, den ich einmal hatte durch die Gassen unsrer Stadt führen sehen. |
2680 |
So wie dieser Verbrecher aber würde auch ich lächeln und den Kopf steif halten, wenn man mich ins Gericht und auf das Schafott führte, und wenn die vielen Leute um mich her drängten und hohnvoll aufschrien — ich würde nicht ja und nicht nein sagen, einfach schweigen und verachten. |
2681 |
Nun begann unsre Turnstunde, und wenn ich auch auf Zauberflügeln fort und in die Turnhalle gestürzt wäre, ich wäre doch schon zu spät gekommen. Wieder Pech! Das gab übermorgen Aufruf, Schimpfworte und Strafe. Lieber ging ich gar nicht mehr hin, es war doch nichts mehr gutzumachen. |
2682 |
Was ging mich jetzt der Verbrecher, der liebe Gott und das Jüngste Gericht an! Das würde alles dann schon kommen, zu seiner Zeit — aber jetzt, jetzt im Augenblick war es weit weg und war dummes Zeug, nichts weiter. Ich hatte gestohlen, und jeden Augenblick konnte das Verbrechen entdeckt werden. |
2683 |
War das ich gewesen? Und wie hatte ich so werden können, wie ich jetzt war, so anders, so ganz anders, so böse, so voll Angst, so zerstört? Alles war noch wie immer, Wald und Fluß, Farnkräuter und Blumen, Burg und Ameisenhaufen, und doch alles wie vergiftet und verwüstet. |
2684 |
Konnte es nie mehr werden, wie es gewesen war? Würde ich jemals wieder so lachen, so mit den Schwestern spielen, so nach Ostereiern suchen? Ich lief und lief, den Schweiß auf der Stirn, und hinter mir lief meine Schuld und lief groß und ungeheuer der Schatten meines Vaters als Verfolger mit. |
2685 |
Dort war meines Vaters Schlafzimmer und die Schublade, in der die Feigen fehlten. Dort war mein kleines Zimmer. Dort würde, wenn ich zurückkam, das Gericht mich treffen. — Aber wenn ich nicht zurückkam? Ich wußte, daß ich zurückkommen werde. Man kam immer zurück, jedesmal. |
2686 |
Aber nein, ich wußte, es kamen öfters solche Sachen vor wie meine — ein Onkel von mir hatte als Kind auch gestohlen und viel Sachen angestellt, das hatte ich irgendwann einmal erlauscht, heimlich aus einem Gespräch der Eltern, heimlich, wie man alles Wissenswerte erlauschen mußte. |
2687 |
Er war jetzt längst groß und erwachsen, er war Pastor, und er würde zu den Erwachsenen halten und mich im Stich lassen. So waren sie alle. Gegen uns Kinder waren sie alle irgendwie falsch und verlogen, spielten eine Rolle, gaben sich anders, als sie waren. Die Mutter vielleicht nicht, oder weniger. |
2688 |
Es könnte ja etwas passieren, ich konnte den Hals brechen oder ertrinken oder unter die Eisenbahn kommen. Dann sah alles anders aus. Dann brachte man mich nach Hause, und alles war still und erschrocken und weinte, und ich tat allen leid, und von den Feigen und allem war nicht mehr die Rede. |
2689 |
Ich wußte sehr gut, daß man sich selber das Leben nehmen konnte. Ich dachte auch, daß ich das wohl einmal tun würde, später, wenn es einmal ganz schlimm kam. Gut wäre es gewesen, krank zu werden, aber nicht bloß so mit Husten, sondern richtig todkrank, so wie damals, als ich Scharlachfieber hatte. |
2690 |
Es war mir nicht möglich, länger liegenzubleiben. Das Schicksal vergaß mich nicht, es war hinter mir her. Ich nahm das Laufen wieder auf. Ich kam an einer Bank in den Anlagen vorüber, an der hing wieder eine Erinnerung, wieder eine, die einst schön und lieb gewesen war und jetzt wie Feuer brannte. |
2691 |
Als er damit zu drohen begann, er werde mich dem Turnlehrer anzeigen, war es Wollust für mich: er setzte sich ins Unrecht, er wurde gemein, er stärkte mich. Als wir in der Nähe der Metzgergasse handgemein wurden, blieben gleich ein paar Leute stehen und sahen unserm Handel zu. |
2692 |
Wir hieben einander in den Bauch und ins Gesicht und traten mit den Schuhen gegeneinander. Nun hatte ich für Augenblicke alles vergessen, ich war im Recht, war kein Verbrecher, Kampfrausch beglückte mich, und wenn Weber auch stärker war als ich, so war ich flinker, klüger, rascher, feuriger. |
2693 |
Wir bluteten beide, ohne etwas zu fühlen, und dabei häuften unsre Worte böse Zauber und Wünsche, wir empfahlen einander dem Galgen, wünschten uns Messer, um sie einander in die Rippen zu jagen und darin umzudrehen, wir beschimpften einer des andern Namen, Herkunft und Vater. |
2694 |
Irgendeinmal war es aus, irgendeinmal stand ich allein in der stillen Dunkelheit, erkannte Straßenecken und Häuser, war nahe bei unserm Hause. Langsam floh der Rausch, langsam hörte das Flügelbrausen und Donnern auf, und Wirklichkeit drang stückweise vor meine Sinne, zuerst nur vor die Augen. |
2695 |
Blut an meiner Hand, zerrissene Kleider, herabgerutschte Strümpfe, ein Schmerz im Knie, einer im Auge, keine Mütze mehr da — alles kam nach und nach, wurde Wirklichkeit und sprach zu mir. Plötzlich war ich tief ermüdet, fühlte meine Knie und Arme zittern, tastete nach einer Hauswand. |
2696 |
Ich sah, sie war in Sorge um mich gewesen. Sie lief auf mich zu und blieb erschrocken stehen, als sie mein Gesicht und die beschmutzten und zerrissenen Kleider sah. Ich sagte nichts und blickte niemand an, doch spürte ich deutlich, daß Vater und Mutter sich mit Blicken meinetwegen verständigten. |
2697 |
Die Mutter nahm sich meiner an, Gesicht und Hände wurden mir gewaschen, Pflaster aufgeklebt, dann bekam ich zu essen. Mitleid und Sorgfalt umgab mich, ich saß still und tief beschämt, fühlte die Wärme und genoß sie mit schlechtem Gewissen. Dann ward ich zu Bett geschickt. |
2698 |
Sie nahm meine Kleider vom Stuhl und legte mir andere hin, denn morgen war Sonntag. Dann fing sie behutsam zu fragen an, und ich mußte von meiner Rauferei erzählen. Sie fand es zwar schlimm, schalt aber nicht und schien ein wenig verwundert, daß ich dieser Sache wegen so sehr gedrückt und scheu war. |
2699 |
Dann ging sie. Und nun, dachte ich, war sie überzeugt, daß alles gut sei. Ich hatte Händel ausgefochten und war blutig gehauen worden, aber das würde morgen vergessen sein. Von dem andern, dem Eigentlichen, wußte sie nichts. Sie war betrübt gewesen, aber unbefangen und zärtlich. |
2700 |
Auch der Vater wußte also vermutlich noch nichts. Und nun überkam mich ein furchtbares Gefühl von Enttäuschung. Ich merkte jetzt, daß ich seit dem Augenblick, wo ich unser Haus betreten hatte, ganz und gar von einem einzigen, sehnlichen, verzehrenden Wunsch erfüllt gewesen war. |
2701 |
Mochte er mich verfluchen und verstoßen! Wenn nur die Angst und Spannung ein Ende nahm! Statt dessen lag ich nun da, hatte noch Liebe und Pflege genossen, war freundlich geschont und für meine Unarten nicht zur Rechenschaft gezogen worden und konnte nun aufs neue warten und bangen. |
2702 |
Sie hatten mir die zerrissenen Kleider, das lange Fortbleiben, das versäumte Abendessen vergeben, weil ich ein wenig müde war und blutete und ihnen leid tat, vor allem aber, weil sie das andere nicht ahnten, weil sie nur von meinen Unarten, nichts von meinem Verbrechen wußten. |
2703 |
Oder man übergab mich der Polizei? Jedenfalls aber, es komme wie es möge, lag wieder eine Wartezeit vor mir. Noch länger mußte ich die Angst ertragen, noch länger mit meinem Geheimnis herumgehen, vor jedem Blick und Schritt im Hause zittern und niemand ins Gesicht sehen können. |
2704 |
Was ich schon früher versucht hatte und was mir mißglückt war, jetzt würde es gelingen, jetzt war mein Vorsatz und Wille stark genug, jetzt nach diesem Elend, dieser Hölle voll Qual! Mein ganzes Wesen bemächtigte sich dieses Wunschgedankens und sog sich inbrünstig daran fest. |
2705 |
Und bei den Spaziergängen mit der ganzen Familie, wenn sie auch oft schön sein konnten, passierte gewöhnlich irgend etwas, es gab Streit mit den Schwestern, man ging zu rasch oder zu langsam, man brachte Harz an die Kleider; irgendein Haken war meistens dabei. Nun, das mochte kommen. |
2706 |
Vergessen hatte ich meine Schandtat nicht, sie fiel mir schon am Morgen wieder ein, aber es war nun so lange her, die Schrecken waren ferngerückt und unwirklich geworden. Ich hatte gestern meine Schuld gebüßt, wenn auch nur durch Gewissensqualen, ich hatte einen bösen, jammervollen Tag durchlitten. |
2707 |
Nun war ich wieder zu Vertrauen und Harmlosigkeit geneigt und machte mir wenig Gedanken mehr. Ganz war es ja noch nicht abgetan, es klang noch ein wenig Drohung und Peinlichkeit nach, so wie in den schönen Sonntag jene kleinen Pflichten und Kümmernisse mit hineinklangen. |
2708 |
Heut nahm ich keines mit und dachte auch nicht daran, mich um den Kirchgang zu drücken, wie ich es auch schon getan hatte. So viel klang von gestern abend noch in mir nach, daß ich gute und redliche Vorsätze hatte und gesonnen war, mich mit Gott, Eltern und Welt freundlich und gefügig zu vertragen. |
2709 |
Manchmal summte eine Fliege auf und |
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