1 |
Sie hat sich verrechnet. Ich bin ein alter Sünder, Hofbauer, wer ist dies nicht. Es war ein böser Jugendstreich, den ich ihr spielte, doch wie da alle den Antrag abgelehnt haben, die Güllener im "Goldenen Apostel", einmütig, trotz dem Elend, war es die schönste Stunde in meinem Leben. |
2 |
Eine gute Mutter habt ihr, Kinder. Ich muss es einmal sagen. Eine gute Mutter. Sie soll oben bleiben, sie soll sich schonen. Dann frühstücken wir miteinander. Das haben wir schon lange nicht getan. Ich stifte Eier und eine Büchse amerikanischen Schinken. |
3 |
Die Stadt macht Schulden. Mit den Schulden steigt der Wohlstand. Mit dem Wohlstand die Notwendigkeit, mich zu töten. Und so braucht die Dame nur auf ihrem Balkon zu sitzen, Kaffe zu trinken, Zigarren zu rauchen und zu warten. |
4 |
Und du gingst nicht weiter, unten auf der Straße. Du starrtest zu mir herauf, fast finster, fast böse, als wolltest du mir ein Leid antun, und dennoch waren deine Augen voll Liebe. Und zwei Burschen standen neben dir, Koby und Loby. |
5 |
Sie grinsten, da sie sahen, wie du zu mir hinaufstarrtest. Und dann verließ ich den Balkon und kam hinunter zu dir. Du hast mich nicht gegrüßt, du sagtest kein Wort zu mir, aber du hast meine Hand genommen, und so sind wir aus dem Städtchen gegangen. |
6 |
Zum Ersticken. Doch ich liebe diese Scheune, den Geruch von Heu, Stroh und Wagenschmiere. Erinnerungen. All die Geräte, die Mistgabel, die Droschke, den zerbrochenen Heuwagen gab es schon in meiner Jugend. Ein besinnlicher Ort. |
7 |
Du hast dein Leben gewählt und mich in das meine gezwungen. Du wolltest, dass die Zeit aufgehoben würde, eben im Wald unserer Jugend, voll von Vergänglichkeit. Nun habe ich sie aufgehoben und nun will ich Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde. |
8 |
Versetzen Sie sich in unsere traurige Lage. Seit zwei Jahrzehnten pflanzte ich in dieser verarmten Gemeinde die zarten Keime der Humanität, rumpelt der Stattarzt zu den tuberkulösen und rachitischen Patienten mit seinem alten Mercedes. |
9 |
Wozu diese jammervollen Opfer? Des Geldes wegen? Wohl kaum. Unsere Besoldung ist minim, eine Berufung ans Kalberstädter Obergymnasium lehnte ich schlankweg ab, der Arzt einen Lehrauftrag der Universität Erlangen. Aus reiner Menschenliebe? Auch dies wäre übertrieben. |
10 |
Nein, wir harrten aus, all die endlosen Jahre, und mit uns das ganze Städtchen, weil es eine Hoffnung gibt, die Hoffnung, dass die alte Größe Güllens auferstehe, dass die Möglichkeit aufs neue begriffen werde, die unsere Heimaterde in so verschwenderischen Hülle und Fülle birgt. |
11 |
Sie sind ein verletztes liebendes Weib. Sie verlangen absolute Gerechtigkeit. Wie eine Heldin der Antike kommen Sie mir vor, wie eine Medea. Doch weil wir Sie im tiefsten begreifen, geben Sie uns den Mut, mehr von Ihnen zu fordern: Lassen Sie den unheilvollen Gedanken der Rache fallen. |
12 |
Die Menschlichkeit, meine Herren, ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung. Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell. |
13 |
Ich wollte Ihnen helfen. Aber man schlug mich nieder, und auch Sie wollten es nicht. Was sind wir für Menschen. Die schändliche Milliarde brennt in unseren Herzen. Reißen Sie sich zusammen, kämpfen Sie um Ihr Leben, setzen Sie sich mit der Presse in Verbindung, Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren. |
14 |
Ich habe Klara zu dem gemacht, was sie ist, und mich zu dem, was ich bin, ein verschmierter windiger Krämer. Was soll ich tun, Lehrer von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und auch euch nicht mehr. |
15 |
Man wird Sie töten. Ich weiß es, von Anfang an, und auch Sie wissen es schon lange, auch wenn es in Güllen sonst niemand wahrhaben will. Die Versuchung ist zu groß und unsere Armut zu bitter. Aber ich weiß noch mehr. Auch ich werde mitmachen. |
16 |
Ich fühle, wie ich langsam zu einem Mörder werde. Mein Glaube an die Humanität ist machtlos. Und weil ich es weiß, bin ich ein Säufer geworden. Ich fürchte mich so wie Sie sich gefürchtet haben. Noch weiß ich, dass auch zu uns einmal eine alte Dame kommen wird. |
17 |
Es war einmal ein Müller. Der hatte eine Windmühle und drei Söhne. Und die drei Söhne arbeiteten von klein auf, wie sich das gehört, in der Mühle des Vaters. Dafür bekamen sie von ihm zu essen und zu trinken und alle drei Jahre einen neuen Anzug. |
18 |
Das war alles in schönster Ordnung und hätte noch lange so weitergehen können, doch, das tat es leider nicht. Denn eines Tages erlebte der Müller etwas, was jeder Mensch eines Tages erlebt, ob er nun ein Müller oder ein König ist: Er legte sich hin und starb. |
19 |
Das Geld, das die Söhne des Müllers in der Kommode gefunden hatten, reichte gerade für das Begräbnis. Und als die drei vom Friedhof heimkamen, putzten sie sich erst einmal vor Rührung die Nase. Dann sagte der älteste: "Ihr wisst, was der Vater hinterlassen hat". |
20 |
"Jawohl", meinte der zweite. "Die Mühle, den Esel im Stall und den Kater, der die Mäuse fängt. Wir wollen die Erbschaft schnell aufteilen, weil wir noch so traurig sind", erklärte der älteste. "Später gäbe es womöglich Streit". |
21 |
Der jüngste kratzte sich hinterm Ohr: Denn er konnte sich schon denken, was nun kam. "Ich übernehme die Mühle", sagte der älteste. "Dem zweiten gehört der Esel im Stall, und der jüngste kriegt den Kater". |
22 |
"Seid mir nicht böse", bat der jüngste, "aber können wir nicht weiter, wie bisher, zusammen in der Mühle leben und arbeiten? Warum müssen wir denn auf einmal teilen?" "Das verstehst du nicht", meinte der älteste. |
23 |
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft überhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal überfiel ihn die grässliche Angst, er hätte ihn auf immer verloren. |
24 |
Als die Vögel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendämmerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schälte sich gut von der Haut. |
25 |
Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach Ersatz um - nicht ohne Bedauern übrigens, denn einen genügsameren und leistungsfähigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt. Entgegen aller Erwartung jedoch überstand Grenouille die Krankheit. |
26 |
Den Duft des Mädchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er aber noch nicht. |
27 |
Madame Gillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. Äußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, nämlich wie die Mumie eines Mädchens; innerlich aber war sie längst tot. |
28 |
Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken über die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seitdem den Geruchssinn verloren und jedes Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft. |
29 |
Zärtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag so fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. Sie empfand nichts, als sie später ein Mann beschlief, und ebenso nichts, als sie ihre Kinder gebar. |
30 |
Viren vermehren sich, indem sie das genetische Material einer lebenden Zelle unter ihre Kontrolle bringen und zur Herstellung neuer Viren nutzen. Sie pflanzen sich sehr schnell fort, befreien sich aus der Zelle und suchen nach neuen Zellen, die sie besiedeln können. |
31 |
Die meisten höheren Tiere sind Vierbeiner, und alle heutigen Vierbeiner haben eine Gemeinsamkeit: Ihre Extremitäten enden jeweils mit maximal fünf Fingern oder Zehen. Dinosaurier, Wale, Vögel, Menschen, sogar die Fische - alle sind ursprünglich Vierbeiner. |
32 |
Nur eines haben wir mit allen anderen Lebewesen gemeinsam: Fast vier Milliarden Jahre lang ist es unseren Vorfahren gelungen, immer wieder gerade rechtzeitig durch eine Tür zu schlüpfen, bevor sie sich schloss. |
33 |
Wenn ein neues Moos entdeckt wird, muss man es mit allen anderen Moosen vergleichen - nur so kann man gewährleisten, dass es nicht bereits bekannt ist. Anschließend muss man eine formelle Beschreibung verfassen, Zeichnungen anfertigen und die Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlichen. |
34 |
Für uns ist das von allergrößter Bedeutung. Ohne den stabilisierenden Einfluss des Mondes würde die Erde wackeln wie ein Kreisel kurz vor dem Umfallen. Welche Auswirkungen das für Klima und Wetter hätte, ist überhaupt nicht abzusehen. |
35 |
Eines dürfen wir nie vergessen: Die Bakterien kamen Milliarden Jahre lang ohne uns zurecht. Wir dagegen könnten nicht einen einzigen Tag ohne sie überleben. Sie verarbeiten unsere Abfallstoffe und machen sie wieder nutzbar. |
36 |
Die meisten Zellen bleiben nur rund einen Monat lang erhalten, diese Regel hat aber einige sehr bemerkenswerte Ausnahmen. Leberzellen können mehrere Jahre überleben, die Bestandteile in ihrem Inneren jedoch werden alle paar Tage erneuert. |
37 |
Wenn die Erde tatsächlich völlig gefroren war, erhebt sich eine sehr schwierige Frage: Wie konnte sie sich jemals wieder erwärmen? Ein vereister Planet reflektiert so viel Wärme, dass er eigentlich für alle Zeiten eisig bleiben muss. |
38 |
Bei klarem Himmel, wenn das Mondlicht nicht zu hell ist, schleppt der Geistliche Robert Evans ein sperriges Teleskop auf die Dachterrasse seines Hauses in den australischen Blue Mountains, etwa 80 Kilometer westlich von Sydney. |
39 |
In jenem ereignisreichen Jahr reichte er bei den Annalen der Physik fünf Aufsätze ein. Der erste Aufsatz brachte seinem Autor den Nobelpreis ein. Darin erklärte Einstein das Wesen des Lichts (was unter anderem dazu beitrug, dass das Fernsehen möglich wurde). |
40 |
Aber eines Tages, ein paar Monate später, nach einem furchtbar anstrengenden Tag, schlief ich am Nachmittag tief wie ein Bär. Es hatte gerade angefangen zu regnen, und ein Loch im Dach weckte mich auf. |
41 |
Meine Vision war so lebhaft, dass ich ganz außer mir geriet. Ich schrie, und dann wachte ich noch einmal auf. "Verflucht! Es war ein Traum gewesen!" Don Genaro unterbrach seine Erzählung und schaute mich an. |
42 |
Eine feurige Faust schlug gegen seinen Rücken und riß ihn auf wie mit tausend Widerhaken. Einer der oberschenkeldicken Äste, hart und an den Bruchstellen der kleineren Äste scharf wie eine Lanze, schlug in seinen Rücken. |
43 |
Manchmal spricht jemand von etwas, das er dringend benötigt und das ihm dann von einem Zuhörer bewilligt wird. Wenn das wiederholt geschieht, ist es verachtenswert. Es ist am besten, das, was man braucht, gar nicht zu erwähnen. |
44 |
Die Geschichte meines Lebens. Ich wurde geboren, als mein Vater bereits siebzig Jahre alt war. Er sagte stets, es würde ihm nichts ausmachen, mich einem Salzhändler oder einem anderen zu verkaufen. |
45 |
Ich war siebenunddreißig Jahre alt und saß in einer Boeing 747. In ihrem Anflug auf Hamburg tauchte die riesige Maschine in eine dichte Wolkenschicht ein. Trüber, kalter Novemberregen hing über dem Land. |
46 |
Während die Maschine zum Stillstand kam, die Leute ihre Sicherheitsgurte lösten und ihre Taschen und Jacken aus den Gepäckfächern nahmen, stand ich im Geist mitten auf einer Wiese und sog den Duft des Grases ein. |
47 |
Die Hochzeit währte nun einen ganzen Monat. Johannes und die Prinzessin liebten einander innig, und der alte König erlebte manche frohe Tage und ließ ihre kleinen Kinderchen auf seinen Knien reiten und mit seinem Zepter spielen. |
48 |
Sie fühlt was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen. Ich fand sie allein; ich sagte nichts und sie sah mich an. Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das Leuchten des trefflichen Geistes. |
49 |
Im Winter wird es in Köln schon um halb fünf dunkel. Unzählige Lichter werden eingeschaltet, denn in vielen Büros und Geschäften wird noch gearbeitet; im Hauptbahnhof und in den U-Bahn-Stationen fahren viele Züge ein und aus. |
50 |
Im Herbst 1989 begannen in der DDR große Demonstrationen. Die Demonstranten forderten Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie Wahlen und demokratische Reformen. Die DDR brach zusammen. |
51 |
Ein- und Vielzeller vermehren sich durch Zellteilung - die Mutterzelle teilt sich dabei durch gleich- oder ungleichförmige Durchschnürung in zwei Tochterzellen. Der Zellteilung geht immer eine Kernteilung (Mitose) voraus. |
52 |
Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als wässriges Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast und entäußerte sich dieser ekelhaften Säfte, nicht aber seiner Schätze, seines Wissens, nicht der geringsten Formel eines Dufts. |
53 |
Er war aber alles andere als tot. Er schlief nun sehr fest und träumte tief und zog seine Säfte in sich zurück. Schon begannen die Bläschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen. |
54 |
Am liebsten wäre er gleich weggegangen nach Süden, dorthin. Wo man die neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber daran war natürlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das heißt ein Nichts. |
55 |
Baldini schaute ihm nach, wie er die Brücke hinunterhatschte, klein, gebückt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Drüben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert. |
56 |
Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplündert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut. |
57 |
Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinisteren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und würde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war für alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spürte das Büchlein über seinem Herzen. |
58 |
Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerücht laut, die Engländer hätten Frankreich den Krieg erklärt. Das war zwar an und für sich nichts Beunruhigendes. |
59 |
Mit einem Mal war die sorgfältig vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empörung, der Wut, den hysterischen Verdächtigungen, der Verzweiflung. |
60 |
Die Menschen blieben nachts in den Häusern, sperrten ihre Töchter ein, verbarrikadierten sich, misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein halbes Jahr zurückgesetzt. |
61 |
Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhnähens aus Waschleder, des Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten Veilchenwurzeln. |
62 |
Und er nahm einen der Leuchter und ging zur Tür hinaus, hinüber in den Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum Dienstboteneingang führte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den Riegel zurück und öffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen. |
63 |
Und dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt von der Dunkelheit. Baldini stand da und glotzte in die Nacht. In der rechten Hand hielt er den Leuchter, in der linken das Tüchlein, wie einer, der Nasenbluten hat, und hatte doch nur Angst. |
64 |
Der Duft war so himmlisch gut, dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete. Das Parfum war im Vergleich zu "Amor und Psyche" wie eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. |
65 |
Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblätter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemüde. Man hätte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. |
66 |
Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini stürzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. |
67 |
Kosole legt eine Hand hinters Ohr und lauscht. Wir horchen ebenfalls in die Nacht hinaus. Aber es ist nichts anderes zu vernehmen als das dumpfe Geräusch des Artilleriefeuers und das hohe Zwitschern der Granaten. Von rechts kommt dazu noch das Knarren von Maschinengewehren. |
68 |
Jupp war vor dem Kriege Schreiber bei einem Rechtsanwalt in Köln. Obwohl er schon drei Jahre Soldat ist, hat er immer noch ein empfindliches Gemüt und legt sonderbarerweise Wert darauf, hier draußen ein gebildeter Mensch zu sein. |
69 |
Jeder hat hier so irgend etwas, der eine seine Frau, der andere sein Geschäft, der dritte seine Stiefel, Valentin Laher seinen Schnaps und Tjaden den Wunsch, noch einmal dicke Bohnen mit Speck zu fressen. Kosole hingegen wird durch das Wort Bildung ohne weiteres gereizt. |
70 |
Eine Weile sitzen wir schweigend dicht nebeneinander, um uns zu wärmen. Die Nacht ist nass und kalt, Wolken ziehen, und manchmal regnet es. Dann nehmen wir die Zeltbahnen, auf denen wir hocken, und hängen sie über unsere Köpfe. |
71 |
Unter den Mänteln regt es sich. Ein blasses, schmales Gesicht hebt sich hoch und stöhnt leise. Dort liegt mein Mitschüler, der Leutnant Ludwig Breyer, unser Zugführer. Seit Wochen hat er blutigen Durchfall, es ist zweifellos Ruhr, aber er will nicht zurück ins Lazarett. |
72 |
Er will lieber hier bei uns bleiben, denn wir warten alle darauf, dass es Frieden gibt, und dann können wir ihn gleich mitnehmen. Die Lazarette sind übervoll, niemand kümmert sich da recht um einen, und wenn man erst auf so einem Bett liegt, ist man gleich schon ein Stück mehr tot. |
73 |
Der Wind miaut um die Reste der Brustwehren, und die Wolken ziehen eilig über den Mond. Licht und Schatten wechseln immerfort. Wir gehen dicht hintereinander, eine Gruppe von Schatten, ein armseliger zweiter Zug, zusammengeschossen bis auf ein paar Mann. |
74 |
Jeder sucht sich in der Stellung seine Ecke, sein Loch. Es ist wenig los. Leuchtkugeln, Maschinengewehre, Ratten. Willy schmeißt eine mit gut gezieltem Tritt hoch und halbiert sie in der Luft mit einem Spatenschlag. |
75 |
Ludwig liegt auf einer Zeltbahn. Er hätte wirklich hinten bleiben können. Max Weil gibt ihm ein paar Tabletten zum Einnehmen. Valentin redet auf ihn ein, Schnaps zu trinken. Ledderhose versucht, eine saftige Schweinerei zu erzählen. Keiner hört hin. Wir liegen herum. Die Zeit geht weiter. |
76 |
Die Gesichter lockern sich, die Bewegungen werden ziellos und unsicher. Frieden? Wir sehen uns ungläubig an. Frieden? Ich lasse meine Handgranaten fallen. Frieden? Ludwig legt sich langsam wieder auf seine Zeltbahn. Frieden. |
77 |
Den Tag über haben wir Ruhe. Nachts sollen wir ein Stück zurück, wie schon oft bisher. Aber die von drüben folgen nicht einfach, sondern sie greifen an. Ehe wir uns versehen, kommt schweres Feuer herüber. Hinter uns tost es in roten Fontänen durch die Dämmerung. |
78 |
Einstweilen ist es bei uns noch ruhig. Willy und Tjaden finden zufällig eine Büchse Fleisch und fressen sie sofort auf. Die anderen liegen da und warten. Die vielen Monate haben sie ausgeglüht, sie sind fast gleichgültig, solange sie sich nicht wehren können. |
79 |
Es wird dunkel. Das Feuer erwischt uns. Schutz haben wir wenig. Wir wühlen im Trichter mit Händen und Spaten Löcher für die Köpfe. So liegen wir fest angepresst, Albert Troßke und Adolf Bethke neben mir. Zwanzig Meter neben uns wichst es ein. |
80 |
Wieder kracht es, braust, brüllt, regnet Dreck und Eisen, die Luft donnert, die Erde dröhnt. Dann hebt sich der Vorhang, gleitet zurück, im gleichen Augenblick heben sich Menschen, verbrannt, schwarz aus der Erde, Handgranaten in den Fäusten, lauernd und bereit. |
81 |
Der Angriff liegt links von uns. Ein Trichternest von uns wird umkämpft. Das M.-G. bellt. Die Blitze der Handgranaten zucken. Plötzlich schweigt das M.-G. – Ladehemmung. Sofort wird das Nest von der Flanke gefasst. Ein paar Minuten noch und es ist abgeschnitten. |
82 |
Ein Gefechtsläufer bringt den Befehl, weiter zurückzugehen. Weßling nehmen wir in einer Zeltbahn mit, durch die ein Gewehr zum Tragen gesteckt wird, bis wir eine Bahre finden. Vorsichtig tappen wir hintereinander her. Es wird allmählich hell. Silberner Nebel im Gebüsch. |
83 |
Wir verlassen die Gefechtszone. Schon glauben wir, es sei alles vorbei, da sirrt es leise heran und schlägt tackend auf. Ludwig Breyer krempelt schweigend seinen Ärmel hoch. Er hat einen Schuss in den Arm bekommen. Weil verbindet ihn. Wir gehen zurück. |
84 |
Die Luft ist milde wie Wein. Das ist kein November, das ist März. Der Himmel blassblau und klar. In den Lachen am Wege spiegelt sich die Sonne. Wir gehen durch eine Pappelallee. Die Bäume stehen zu beiden Seiten der Straße, hoch und fast unversehrt, nur manchmal fehlt einer. |
85 |
Diese Gegend war früher Hinterland, sie ist nicht so verwüstet worden wie die Kilometer davor, die wir Tag um Tag, Meter um Meter aufgegeben haben. Die Sonne leuchtet auf der braunen Zeltbahn, und während wir durch die gelben Alleen gehen, schweben segelnd immerfort Blätter darauf herunter. |
86 |
In der Lazarettstation ist alles voll. Viele Verwundete liegen schon vor der Tür. Wir lassen Weßling einstweilen auch draußen. Eine Anzahl Armverwundeter mit weißen Verbänden formiert sich zum Abmarsch. Das Lazarett wird schon aufgelöst. |
87 |
Ein Arzt läuft herum und untersucht die Neuangekommenen. Einen Mann, dem das Bein lose, falsch geknickt im Kniegelenk hängt. Lässt er sofort hereinschaffen. Weßling wird nur verbunden und bleibt draußen. Er wacht aus seinem Dösen auf und sieht dem Arzt nach. |
88 |
Ich versuche krampfhaft, noch etwas zu verstehen, doch er gurgelt nur noch, reckt sich, atmet schwerer und langsamer, mit Pausen, stockend - dann noch einmal ganz tief und seufzend - und hat plötzlich Augen, als sei er erblindet, und ist tot. |
89 |
Am nächsten Morgen liegen wir zum letzten Male vorn. Es wird kaum noch geschossen. Der Krieg ist zu Ende. In einer Stunde sollen wir abziehen. Wir brauchen nun nie wieder hierher zu kommen. Wenn wir gehen, gehen wir für immer. |
90 |
Wir zerstören, was zu zerstören ist. Wenig genug. Ein paar Unterstände. Dann kommt der Befehl zum Rückzug. Es ist ein sonderbarer Moment. Wir stehen beieinander und sehen nach vorn. Leichte Nebelschwaden liegen über dem Boden. Die Trichterlinien und Gräben sind deutlich erkennbar. |
91 |
Wir stehen und starren. Die Ferne, der Waldrest, die Höhen, die Linien am Horizont drüben, das war eine furchtbare Welt und ein schweres Leben. Und jetzt bleibt das ohne weiteres zurück, wenn wir die Füße vorwärtssetzen, es versinkt Schritt für Schritt hinter uns, und in einer Stunde ist es weg. |
92 |
Wer kann das begreifen! Da stehen wir und sollten lachen und brüllen vor Vergnügen – und haben doch ein flaues Gefühl im Magen, als hätte man einen Besen gefressen und müsste das Kotzen kriegen. Keiner sagt recht was. |
93 |
Sie waren uns nur etwas voraus, denn täglich wurden wir weniger und sie mehr - und oft wussten wir nicht, ob wir schon zu ihnen gehörten oder nicht. Aber manchmal brachten die Granaten auch sie wieder herauf zu uns, hochgeschleuderte zerfallende Knochen, Uniformreste. |
94 |
Wir empfanden es nicht als schrecklich; wir waren ihnen zu nahe. Aber jetzt gehen wir ins Leben zurück, und sie müssen hier bleiben. Ludwig, dessen Vater in diesem Abschnitt gefallen ist, schneuzt sich durch die Hand und dreht sich um. Langsam folgen wir. |
95 |
Die Kompanie marschiert langsam, denn wir sind müde und haben noch Verwundete bei uns. Dadurch bleibt unsere Gruppe allmählich zurück. Die Gegend ist hügelig, und wenn die Straße ansteigt, können wir von der Höhe aus nach der einen Seite den Rest unserer abziehenden Truppen sehen. |
96 |
Es sind Amerikaner. Wie ein breiter Fluss schieben sich ihre Kolonnen zwischen den Baumreihen vorwärts, und das unruhige Glitzern der Waffen läuft über sie hin. Ringsum aber liegen die stillen Felder, und die Wipfel der Bäume ragen mit ihren herbstlichen Farben aus der vordringenden Flut. |
97 |
Wir sind die Nacht über in einem kleinen Dorf geblieben. Hinter den Häusern, in denen wir gelegen haben, fließt ein Bach, der mit Weiden bestanden ist. Ein schmaler Pfad führt daran entlang. Einzeln hintereinander, in langer Reihe, folgen wir ihm. |
98 |
Die Landstraßen entlang kommen Amerikaner. Sie lachen und schwatzen miteinander. Es ist die Spitzengruppe, die uns eingeholt hat. Adolf Bethke ist als einziger von uns stehengeblieben. Er geht ruhig einige Schritte aus der Deckung heraus, auf die Straße. |
99 |
Die Amerikaner stutzen, als sie uns sehen. Ihr Gespräch bricht ab. Sie nähern sich langsam. Wir ziehen uns gegen einen Schuppen zurück, um den Rücken gedeckt zu haben, und warten ab. Nach einer Minute des Schweigens löst sich ein baumlanger Amerikaner aus der Gruppe vor uns und winkt. |
100 |
Die Spannung weicht. Die Amerikaner kommen heran. Einen Augenblick später sind wir von ihnen umringt. So nahe haben wir sie bisher nur gesehen, wenn sie gefangen oder tot waren. Es ist ein sonderbarer Moment. |
101 |
Sie tragen Uniformen und neue Mäntel; ihre Schuhe sind wasserdicht und passen genau; ihre Waffen sind gut und ihre Taschen voller Munition. Alle sind frisch und unverbraucht. Gegen diese Leute sind wir die reine Räuberbande. |
102 |
Unsere Uniformen sind gebleicht vom Dreck der Jahre, vom Regen der Argonnen, vom Kalk der Champagne, vom Sumpfwasser in Flandern – die Mäntel zerfetzt von Splittern und Schrapnells, geflickt mit groben Stichen, steif von Lehm und manchmal von Blut. |
103 |
Immer mehr Truppen rücken heran. Der Platz ist jetzt voll von Neugierigen. Wir stehen immer noch in der Ecke, um unsere Verwundeten gedrängt – nicht weil wir Angst haben, sondern weil wir zusammengehören. |
104 |
Plötzlich deutet jemand mit einem unterdrückten Ausruf auf die Verbände unserer Verwundeten. Sie bestehen aus Krepp-Papier und sind mit Bindfäden umschnürt. Alle blicken hin – dann treten sie zurück und flüstern miteinander. |
105 |
Ihre freundlichen Gesichter werden mitleidig, weil sie sehen, dass wir nicht einmal mehr Mullbinden haben. Der Mann, der uns vorhin gerufen hat, legt Bethke die Hand auf die Schulter. "Deutsche – gute Soldat" sagt er, "brave Soldat". Die anderen nicken eifrig. |
106 |
Wir antworten nicht, denn wir können jetzt nicht antworten. Die letzten Wochen haben uns mächtig mitgenommen. Wir mussten immer wieder ins Feuer und verloren unnütz Leute; aber wir haben nicht viel gefragt, sondern haben es getan, wie wir es all die Zeit getan haben. |
107 |
Jetzt aber, unter den mitleidigen Augen der Amerikaner, begreifen wir, wie sinnlos das alles zuletzt noch gewesen ist. Der Anblick ihrer endlosen, reichlich ausgerüsteten Kolonnen zeigt uns, gegen welch eine hoffnungslose Übermacht an Menschen und Material wir standgehalten haben. |
108 |
Ein stämmiger Sergeant mit erhitztem Gesicht schiebt sich zu uns durch. Er übersprudelt Kosole, der ihm am nächsten steht, mit einem Schwall deutscher Worte. Ferdinand zuckt zusammen, so überrascht ihn das. |
109 |
Valentin versteht ihn nicht. "Er will den Tabak gegen die Kokarde tauschen", erklärt der Sergeant aus Dresden. Das versteht Laher noch weniger. Diesen erstklassigen Tabak gegen eine blecherne Kokarde – der Mann muss übergeschnappt sein. |
110 |
Wir haben begriffen, was los ist: die Amerikaner wollen tauschen. Man merkt, dass sie noch nicht lange im Kriege sind; sie sammeln noch Andenken, Achselklappen, Kokarden, Koppelschlösser, Orden. Uniformknöpfe. |
111 |
Wir versorgen uns mit Seife, Zigaretten, Schokolade und Konserven. Für unseren Hund wollen sie uns sogar eine ganze Handvoll Geld obendrein geben – aber da können sie bieten, was sie wollen, Wolf bleibt bei uns. |
112 |
In den Dörfern starren die Leute hinter uns her. In einem Bahnwärterhaus stehen Blumen am Fenster. Eine Frau mit vollen Brüsten stillt ein Kind. Sie hat ein blaues Kleid an. Hunde bellen uns an. Wolf bellt zurück. Am Wege bespringt ein Hahn eine Henne. Wir rauchen gedankenlos. |
113 |
Wie können wir denn wissen, dass es sich nicht genau so verhält? Wären alle unsere Erlebnisse ein Traum und dort draußen nichts, so wäre das gesamte Material, das man herbeizitieren möchte, um sich zu beweisen, dass es eine Außenwelt gibt, ein Teil dieses Traumes. |
114 |
Wollte man das Argument anbringen, dass es eine körperliche Außenwelt deshalb geben muss, weil wir die Häuser, Menschen oder Sterne nicht sehen würden, wenn es draußen nicht etwas gäbe, das Licht auf unsere Augen reflektiert und unsere Gesichtswahrnehmungen verursacht, so wäre die Antwort klar. |
115 |
Die radikalste Konsequenz, die ich hieraus ziehen könnte, wäre die Annahme, dass mein Bewusstsein in der Tat das einzige ist, was es gibt. Diese Auffassung nennt man den Solipsismus. Eine recht einsame Auffassung, die nicht von allzu vielen Leuten vertreten worden ist. |
116 |
Für gewöhnlich zweifeln wir nicht an der Existenz des Bodens unter unseren Füßen oder des Baumes draußen vor dem Fenster oder unserer eigenen Zähne. Ja, die meiste Zeit denken wir noch nicht einmal an die psychischen Zustände, die uns diese Dinge wahrnehmen lassen. |
117 |
Liebe Leser, macht euch auf eine Überraschung gefasst. Zufall und Fügung sind wunderliche Dinge. Ohne etwas voneinander und ihrem jeweiligen Geschick zu wissen, waren sie ausgerechnet am Mittsommerabend in derselben Bucht angekommen. |
118 |
Jetzt wird alles gut, dachte er. Die Rufe und der Beifall hinter ihnen wurden immer schwächer, und zu guter Letzt waren nur noch die Ruderschläge zu hören. Die Ufer verschwanden in einem dunklen Streifen. |
119 |
Eigentlich hatte keiner von ihnen Lust, zu reden. Noch nicht. Sie hatten Zeit, der Sommer lag lang und verheißungsvoll vor ihnen. Jetzt gerade genügten ihnen ihre dramatische Begegnung, die Nacht und die Spannung der Flucht. |
120 |
Kaum hatte das Wasser zu sinken begonnen, als alle heimwärts eilten. Sie ruderten oder segelten, Tag und Nacht, und als das Wasser ganz und gar verschwand, wanderten sie zu Fuß weiter, bis sie an die Orte kamen, wo sie früher gelebt haben. |
121 |
Alle waren aufgeregt und voller Erwartung. In der Nacht fiel es ihnen schwer, einzuschlafen. Emma spürte, wie die Lebenskräfte in ihre alten Beine zurückkehrten. Sie dachte an nichts anderes mehr als an die Generalprobe. |
122 |
Um diese Zeit entdeckte ich zum ersten Mal mein Talent fürs Tischlern. Diese Spezialbegabung musste angeboren sein, sie steckte mir sozusagen in den Pfoten. Die ersten Proben meines Talents waren bescheiden. |
123 |
Aufgeregt stand ich auf. Hatte ich unten die Tür abgeschlossen? Vielleicht gehen die Gespenster ja einfach durch die Wände hindurch... Was sollte ich nur tun?! Unten knarrte die Haustür. Ein kalter Luftzug flog die Treppe herauf und blies mir in den Nacken. |
124 |
Heute möchte ich bezweifeln, dass ich tatsächlich Angst bekam, vermutlich fand ich nur, dass ich alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollte. Daher kroch ich entschlossen unters Bett und wartete. Nach einer Weile hörte ich die Treppe knacksen. |
125 |
Ein kleiner Knacks, dann noch einer. Die Treppe hatte neun Stufen, das wusste ich, es war nämlich besonders schwierig gewesen, sie zu bauen, weil es eine Wendeltreppe war. Also zählte ich neun Knackse, danach wurde es ganz still. Ich dachte, jetzt steht es hinter der Tür. |
126 |
Bei Mymlas muss man wirklich auf alles gefasst sein! Natürlich fühlte mein Gespenst sich gekränkt. Es verlor vollkommen den Faden, wurde ganz zerknittert und begann zu schrumpfen. Im selben Moment, als das arme Gespenst in einem traurigen Rauchkringel verschwand, brach der Jojoks in Gelächter aus. |
127 |
Am Fuß des Berges floss ein kleiner Bach durchs Geröll. Er war sehr seicht, und von seinem Grund schimmerte Katzengold herauf. Der Hemul hatte seine müden Füße ins Wasser gesteckt und seufzte vor sich hin. Neben sich hatte er ein dickes Buch stehen. |
128 |
Die unheimliche rote Farbe des Himmels hatte zugenommen. Die Wolken waren weitergezogen, und jetzt badete die ganze nackte Berglandschaft in dem unwirklichen Abendlicht. In weiter Ferne ließen sich das schmale Band des Flusses und dunkle Waldflecken erkennen. |
129 |
Am vierten August war der Himmel wolkenlos, doch dafür war die Sonne von einem eigenartigen Schatten bedeckt. Als sie über den Einsamen Bergen hochstieg und in den roten Himmel hinausglitt, sah sie eine Zeit geradezu schwarz aus. |
130 |
Am nächsten Tag war der Himmel bedeckt. Mumin wachte auf und ging in den stillen, nassen Garten hinaus. Der Sturm hatte sich gelegt, es regnete nicht mehr. Aber nichts war wie sonst. Er blieb lange stehen und guckte und schnupperte in alle Himmelsrichtungen, bis er begriff, woran es lag. |
131 |
Aber der Fluss beruhigte sich keineswegs. Die Ufer krochen näher heran und pressten das schäumende Wasser in eine enge Rinne. Jetzt waren sie in den Einsamen Bergen angekommen. Das Floß wirbelte durch eine tiefe Schlucht, und der Himmelsstreifen über ihnen wurde schmaler. |
132 |
Gegen Nachmittag gerieten sie in die Wolken hinein, so hoch waren sie schon geklettert. Mit einem Mal gab es ringsum nur kalten Nebel, nichts als graue Leere. Der Fels war feucht und glatt, und man konnte bei jedem Schritt leicht ausrutschen. |
133 |
"Du bist selber ein Esel!", schrie das Schnüferl, das inzwischen müde und verängstigt und hungrig war. Und genau in diesem Augenblick hörten sie jemand um Hilfe rufen. Im Wald schrie jemand so laut und gellend, dass sich allen dreien die Nackenhaare sträubten. |
134 |
Die Glühwürmchen erloschen, und langsam, langsam kam der Morgen. Am fünften August sangen keine Vögel mehr. Die Sonne schien so schwach, dass sie kaum noch zu sehen war. Aber über dem Wald hing der Komet, groß wie ein Wagenrad und umgeben von einem Ring aus Feuer. |
135 |
Sie standen nebeneinander und sperrten die Augen auf. Dort, wo das Meer mit seinen weichen blauen Wellen und schaukelnden Möwen hätte sein sollen, war nur ein gähnender Abgrund zu sehen. Dampfwolken stiegen daraus empor, in der Tiefe brodelte es, ein eigenartiger, stechender Geruch hing in der Luft. |
136 |
Am Freitag, dem siebten August, war es vollkommen windstill und fürchterlich heiß. Keiner von ihnen wusste, wie spät es war, sie hatten nur ganz allgemein das Gefühl, dass es zu spät sei. Der Komet war ungeheuer groß geworden, und jetzt sah man ganz deutlich, dass er es auf das Tal abgesehen hatte. |
137 |
Das Wetter war zu schön, das war unnatürlich. Etwas würde passieren. Sie wusste es. Irgendwo hinterm Horizont sammelte sich etwas Dunkles und Entsetzliches an – etwas braute sich zusammen, es kam näher – immer schneller. |
138 |
Klar und braun tänzelte er über altes Herbstlaub und durch vergessene Eistunnel, machte einen Schlenker durchs Moos und stürzte sich kopfüber in einen kleinen Wasserfall über weißem Sandboden. Ab und zu sang er in Dur, wie eine Mücke. |
139 |
Der Himmel war fast schwarz, aber der Schnee funkelte leuchtend blau im Mondschein. Das Meer lag unterm Eis und schlief, und tief zwischen den Wurzeln der Erde träumten alle kleinen Krabbeltiere vom Frühling. Doch bis dahin dauerte es noch eine gute Weile. |
140 |
An der Stelle, wo das Tal mit weichem Schwung bergan stieg, lag ein eingeschneites Haus. Es erinnerte an einen zufällig zusammengewehten Schneehaufen und sah sehr einsam aus. Gleich daneben wand sich der Fluss kohlschwarz zwischen den Eiskanten. |
141 |
Drinnen im Haus war es warm. Unten im Keller verbrannten große Mengen Torf langsam im Ofen. Der Mond schaute durchs Fenster und schien auf die weißen Winterbezüge der Möbel und auf den in Tüll gehüllten Kristallleuchter. |
142 |
Im Morgengrauen begann sich der Schnee auf dem Dach zu bewegen. Er rutschte ein Stück, dann glitt er entschlossen über die Dachkante und landete mit einem weichen Plumps. Jetzt waren alle Fenster in Schnee begraben, durch die Scheiben drang nur noch ein schwaches graues Licht ins Haus. |
143 |
Es muss irgendwann an einem Nachmittag im August gewesen sein, als Mumin und die Muminmutter den dichtesten Teil des Urwaldes erreichten. Dort war es ganz still, und zwischen den Bäumen war es so schummrig, als hätte die Dämmerung bereits herabgesenkt. |
144 |
Sie waren nämlich unterwegs, um einen warmen, gemütlichen Platz zu suchen. Dort wollten sie ein Haus bauen, in das man sich verkriechen konnte, bevor der Winter kam. Mumintrolle können Kälte ganz und gar nicht ertragen, daher musste das Haus spätestens im Oktober fertig sein. |
145 |
Sie pflückte eine der großen Blumenlampen ab und leuchtete damit in den Schatten hinein. Da sahen sie, dass dort tatsächlich ein ganz kleines Tier kauerte, und dieses ganz kleine Tier schaute sie ausgesprochen freundlich und zugleich etwas erschrocken an. |
146 |
Nun gingen sie zu dritt weiter und nahmen eine große Tulpe mit, die ihnen leuchten sollte. Aber ringsum verdichtete sich die Dunkelheit mehr und mehr. Die Blumen unter den Bäumen verbreiteten einen immer schwächeren Schein. |
147 |
Sie tauchten die Schwänze noch tiefer ins Wasser und paddelten aus Leibeskräften, dass das Wasser nur so um den Bug rauschte. Und dann erblickten sie die große Schlange, die hinter ihnen hergeschwommen kam. Sie sah sehr böse aus und hatte grausame gelbe Augen. |
148 |
Sie paddelten, was das Zeug hielt, doch die Schlange rückte immer näher und sperrte bereits ihren Rachen mit der langen zischenden Zunge darin auf. Mumin hielt sich die Hände vor die Augen und schrie: "Mama!", dann wartete er darauf, aufgefressen zu werden. |
149 |
Aber nichts geschah. Vorsichtig spähte er zwischen den Fingern hindurch. Etwas sehr Erstaunliches war passiert. Die Tulpe hatte wieder angefangen zu leuchten. Sie hatte sämtliche Blütenblätter geöffnet, und mitten in der Tulpenblüte stand ein Mädchen. |
150 |
Immer stärker leuchtete die Tulpe. Die Schlange begann, die Augen zuzukneifen, und plötzlich machte sie mit wütendem Zischen kehrt und glitt hinunter in den Schlamm. Mumin, seine Mutter und das kleine Tier waren so erregt und verblüfft, dass sie lange Zeit keinen Ton herausbrachten. |
151 |
Und das grüne Gras, das unter seinen Füßen zerbrach, war aus feinstem gesponnenem Zucker. Kreuz und quer über die Wiese liefen Bäche in allen erdenklichen Farben und ergossen sich schäumend und sprudelnd über den goldenen Sand. |
152 |
Sie vergaßen ihre Sorgen und rannten weiter und weiter in den verzauberten Garten hinein. Der alte Herr kam langsam hinterher und schien sehr zufrieden zu sein, als er ihr Staunen und ihre Bewunderung sah. |
153 |
Er scharrte und wühlte, bis sie überhaupt nichts mehr sehen konnte. Und währenddessen rückte er immer näher und näher, und plötzlich grub er sich blitzschnell im Sand ein und buddelte eine sehr tiefe Grube. Schließlich waren nur noch seine Augen unten auf dem Grund der Grube zu sehen. |
154 |
Es dauerte lange, bis sie sich den Sand aus den Augen gerieben und sich etwas beruhigt hatten. Inzwischen war ihnen alle Badelust vergangen. Stattdessen setzten sie ihren Weg am Meeresstrand fort, um nach einem Boot zu suchen. |
155 |
Die Sonne ging bereits unter, und hinter dem Horizont türmten sich bedrohliche schwarze Wolken auf. Es sah nach Sturm aus. Plötzlich erblickten sie weiter hinten am Strand etwas, das sich bewegte – zahllose kleine blasse Gestalten, die sich damit abmühten, ein Segelboot ins Wasser zu schieben. |
156 |
Ab und zu kamen Wellen angerollt, die größer waren als die anderen und über den Berg spritzten. Das Boot sauste mit geblähten Segeln in rasender Fahrt dahin. Manchmal sahen sie eine Seejungfrau auf den Wellenkämmen vorbeiziehen, dann wieder tauchte ein ganzer Schwarm kleiner Seetrolle auf. |
157 |
Danach folgten ihm alle die Wendeltreppe hinauf, bis in das oberste gläserne Stockwerk, wo sie in alle Richtungen übers Meer blicken konnten. Mitten im Turmzimmer stand eine Riesenschüssel und in der Schüssel dampfte ein Seepudding. |
158 |
Dann marschierten sie den ganzen Tag im strömenden Regen weiter. Ebenso am nächsten Tag. Das einzig Essbare, was sie fanden, waren aufgeweichte Jamswurzeln und ein paar Feigen. Am dritten Tag regnete es schlimmer denn je, und jedes kleine Rinnsal war zu einem schäumenden Fluss geworden. |
159 |
Ihre Wanderung wurde immer mühseliger, das Wasser stieg unablässig, und schließlich mussten sie auf einen kleinen Hügel hinaufklettern, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Dort setzten sie sich hin und beobachteten die reißenden Wirbel, die immer näher herausbrausten. |
160 |
Immerhin war es möglich, dass sie etwas Kostbares finden konnten, das nach der Überschwemmung im Wasser umhertrieb. Zum Beispiel einen Schrein voller Juwelen? Er sah sich aufmerksam um, und als er plötzlich etwas im Wasser funkeln sah, stieß er vor Erregung einen Schrei aus. |
161 |
Vereinzelte Hügel, Zäune und Hausdächer ragten bereits über die Wasseroberfläche, und die Vögel hatten begonnen, aus vollem Hals zu singen. Der Sessel trieb sachte auf eine Anhöhe zu, wo es von Leuten wimmelte, die hin und her rannten und ihre Besitztümer aus dem Wasser zogen. |
162 |
So saßen sie am Feuer, erzählten einander von ihren Abenteuern und aßen Suppe, bis der Mond aufgegangen war und die Feuer am Ufer nach und nach gelöscht wurden. Von den Seehasen durften sie eine Decke ausleihen, und dann kuschelten sie sich eng aneinander und schliefen ein. |
163 |
Am nächsten Morgen war das Wasser ein ordentliches Stück gesunken, und die ganze Gesellschaft machte sich in bester Stimmung auf den Weg. Das kleine Tier tanzte vor ihnen her und ringelte vor lauter Freude seinen Schwanz zu einer Schleife. |
164 |
Sie wanderten den ganzen Tag, und wohin sie auch kamen, war es wunderschön. Nach dem Regen schlugen überall die herrlichsten Blumen aus, und die Bäume trugen sowohl Blüten als auch Früchte. Sie brauchten nur leicht an einem Baum zu schütteln, und schon fielen die Früchte ins Gras. |
165 |
Zu guter Letzt kamen sie in ein kleines Tal, das schöner war als alles, was sie an diesem Tag gesehen hatten. Und dort, mitten auf der Wiese, stand ein Haus, das fast wie ein Kachelofen aussah. Es war sehr hübsch und mit blauer Farbe bestrichen. |
166 |
"Dieses Haus ist das schönste Haus, das wir je finden werden." Und damit nahm sie Mumin an die Hand und trat in das himmelblaue Haus. Von da an wohnten sie ihr ganzes Leben lang dort im Tal. Nur ein paar Mal gingen sie der Abwechslung halber auf Reisen. |
167 |
Katzen sind von ihrem Knochenbau her sehr beweglich und muskulös. Das befähigt sie dazu, die unterschiedlichsten Positionen über einen längeren Zeitraum hinweg einzunehmen. Trotzdem bedienen sich bislang nur wenige Katzen des künstlerischen Mediums der Körperskulptur. |
168 |
Dieses Buch soll als Nachschlagwerk und die Einführung in die zeitgenössische Katzenmalerei dienen. Deshalb beschränken wir uns darauf, hier nur diejenigen Katzenkünstler vorzustellen, die unserer Ansicht nach die Moderne am besten repräsentieren. |
169 |
Momentan ist die Zahl der bekannten malenden Katzen noch sehr klein. Die meisten von ihnen leben in Großstädten, deren Bevölkerungsstruktur die Voraussetzungen für die Katzenkunst-Gesellschaften bietet. |
170 |
Das Interesse an Katzenkunst wächst jedoch immer mehr, vor allem in erst kürzlich zu künstlerischer Freiheit erwachten Gebieten wie Osteuropa, Russland und China. Das wird dazu führen, dass immer mehr Katzenkünstler auf die internationale Kunstszene drängen. |
171 |
Allem Anschein nach sind Katzen fähig, solche geringen, örtlich begrenzten Spannungsfelder oder Meridiane wahrzunehmen und sich für ihre künstlerischen Aktivitäten zunutze zu machen. Peter Williams bezeichnet diese Orte als "harmonische Resonanzpunkte". |
172 |
Sollten Sie sich jemals gefragt haben, warum Frauen so viel reden, Männer aber lieber schweigen, warum Männer immer Sex wollen, Frauen aber lieber kuscheln: In diesem Buch finden Sie endlich eine einleuchtende Antwort. |
173 |
An einem schönen, sonnigen Sonntag setzten sich Bob und Sue mit ihren drei halbwüchsigen Töchtern ins Auto, um gemütlich an den Strand zu fahren und dort den Nachmittag zu verbringen. Bob saß am Steuer, Sue auf dem Beifahrersitz. |
174 |
Alle paar Minuten drehte sich Sue nach hinten und warf etwas in die angeregte Unterhaltung ihrer Töchter ein. Bob kam es vor, als ob alle wild durcheinander redeten. In seinen Ohren klang das Ganze wie ein unaufhörliches und sinnloses Geschwätz. Schließlich platzte ihm der Kragen. |
175 |
Sie konnten einfach keinen Zusammenhang erkennen zwischen ihrem Geplauder und seiner Tätigkeit des Autofahrens. Und er konnte nicht verstehen, warum sie alle gleichzeitig reden mussten, teilweise sogar über verschiedene Themen, und keine den anderen wirklich zuzuhören schien. |
176 |
Wohin führt das unserer Gesellschaft? Auf ziemlich wackeligen Boden. Nur wenn wir die Unterschiede zwischen Frau und Mann verstehen, können wir wirklich damit beginnen, unsere gemeinsamen Stärken auszubauen, statt unsere individuellen Schwächen zu pflegen. |
177 |
Eine der schwierigsten Aufgaben dabei war es, öffentliche und private Organisationen dazu zu bringen, sich überhaupt zu diesem Thema zu äußern. So sind beispielsweise bei den kommerziellen Fluggesellschaften weniger als ein Prozent der Piloten Frauen. |
178 |
Einige haben uns hinter verschlossenen Türen und in schwach erleuchteten Räumen unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit und mit der dringenden Aufforderung geantwortet, sie nicht zu zitieren oder ihre Organisation zu erwähnen. |
179 |
Es basiert auf streng wissenschaftlichen Erkenntnissen, doch wegen der darin wiedergegebenen alltäglichen Unterhaltungen, Ansichten und Szenarien - die teilweise zum Schreien komisch sind – wird die Lektüre auf jeden Fall auch unterhaltsam sein. |
180 |
Außer der Tatsache, dass sie der gleichen Spezies angehören, gibt es keine nennenswerten Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sie leben in unterschiedlichen Welten, haben andere Wertvorstellungen und gehorchen anderen Gesetzmäßigkeiten. |
181 |
Männer haben die ausschließliche Verfügungsgewalt über TV-Fernbedienungen und zappen vorwärts und rückwärts durch die Kanäle; Frauen dagegen stört es nicht, sich auch hin und wieder ein wenig Werbung anzusehen. |
182 |
Männer kritisieren Frauen wegen ihrer angeblich bescheidenen Fahrkünste, weil sie Stadtpläne nicht lesen können, Straßenkarten verkehrt herum halten, keinen Orientierungssinn haben, zu viel reden, nicht häufig genug nach Sex verlangen und den Klositz nicht wieder hochklappen. |
183 |
Wenn eine Frau sich einmal verfährt, hält sie einfach an und fragt nach dem Weg. Für einen Mann ist das ein Zeichen von Schwäche. Lieber fährt er stundenlang im Kreis herum und murmelt dabei vor sich hin: "Ich habe einen neuen Weg gefunden, wie man da hinkommt". |
184 |
Frauen und Männer haben sich unterschiedlich entwickelt, weil sie sonst nicht überlebt hätten. Männer gingen auf die Jagd, Frauen sammelten. Männer beschützten, Frauen ernährten. Die Folge war, dass sich ihre Körper und Gehirne vollkommen anders entwickelt haben. |
185 |
Hand in Hand mit dem Körper, der sich immer mehr auf ganz spezielle Funktionen einstellen musste, hat sich auch das Gehirn verändert. Männer wurden größer und stärker als die meisten Frauen, und ihr Gehirn hat sich ihren jeweiligen Aufgaben angepasst. |
186 |
Frauen waren meistens zufrieden, wenn ihre Männer unterwegs waren, um Nahrung zu beschaffen, und sie selbst das Feuer in der Höhle am Brennen halten konnten. Ihr Gehirn hat sich ebenfalls mit der Zeit ihren speziellen Aufgaben angepasst. |
187 |
Wir wissen inzwischen, dass die beiden Geschlechter Informationen unterschiedlich verarbeiten. Sie denken auf unterschiedliche Weise, haben unterschiedliche Überzeugungen und Wahrnehmungen, Prioritäten und Verhaltensweisen. |
188 |
Die Fakten, die in diesem Buch vorgestellt werden, stammen aus wissenschaftlichen, medizinischen, psychologischen und soziologischen Studien, die sämtlich die Annahme bestätigen, dass es gewaltige Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. |
189 |
Kleine Mädchen wurden geherzt und geküsst, während man Jungen auf den Rücken klopfte und ungehalten reagierte, wenn sie weinten. Bis vor kurzem glaubte man, dass ein Neugeborenes wie eine unbeschriebene Tafel wäre, in die seine Erzieher Vorlieben und Verhaltensweisen einritzen konnten. |
190 |
Wie wir weiter unten sehen werden, sind die zwei ausschlaggebenden Faktoren für unser Denken und Handeln zum einen die Verknüpfungen in unserem Gehirn und zum anderen die Hormone, die in unserem Körper walten - und das schon lange vor unserer Geburt. |
191 |
Sie behaupten, dass Regierungen, Religionen und Bildungssysteme Verschwörungen von Männern seien, welche die Unterdrückung der Frau zum Ziel hätten. Frauen zu schwängern sei eine Methode, um sie noch besser unter Kontrolle halten zu können. |
192 |
Dennoch drängt sich eine Frage auf: Wenn Frauen und Männer gleich sind - wie eben diese Gruppen behaupten -, wie konnte es dann geschehen, dass Männer weltweit so stark dominieren? Die Studien zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns halten mehrere Antworten auf diese Frage bereit. |
193 |
Wir haben uns eingehend mit den Ergebnissen führender Paläontologen, Ethnologen, Psychologen, Biologen und Neurowissenschaftlern beschäftigt. Die Unterschiede im Aufbau des weiblichen und männlichen Gehirns sind wissenschaftlich belegt und können nicht bestritten werden. |
194 |
Einige Leser werden bei der Lektüre dieses Buches vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, so wie wir sie darlegen, auf sie persönlich nicht zutreffen. Nun, vielleicht ist das tatsächlich so. |
195 |
Unterschied bildet ja keinen Gegensatz zu Gleichberechtigung. Gleichberechtigung meint die Freiheit, das zu tun, wozu man sich berufen fühlt, und Unterschied heißt, dass frau oder man sich vielleicht nicht zu den gleichen Dingen berufen fühlt. |
196 |
Die Fakten, die wir Ihnen in diesem Buch darlegen, zeigen, dass die Geschlechter zu ganz bestimmten Verhaltensmustern tendieren. Wir wollen damit allerdings nicht sagen, dass sich Frauen und Männer gezwungenermaßen auf die eine oder andere Weise verhalten beziehungsweise verhalten sollten. |
197 |
Melissa hatte Zwillinge, ein Mädchen und einen Jungen. Für das Mädchen, Jasmine, wählte sie eine rosafarbene Decke, für den Jungen, Adam, eine blaue. Verwandte schenkten Jasmine weiche, kuschelige Spielsachen und Adam einen kleinen Fußball und ein winziges Fußballhemd. |
198 |
Untersuchungen zeigen, dass wir in viel größerem Ausmaß ein Produkt unserer Biologie sind als Opfer von gesellschaftlichen Klischees. Wir sind unterschiedlich, weil unser Gehirn unterschiedlich aufgebaut ist. |
199 |
Angesichts der Fremdartigkeit bekommen sie dann entweder Angst, oder sie kritisieren die Ortsansässigen, weil sie kein Englisch respektive Deutsch sprechen und weder Wiener Schnitzel noch Pommes frites essen. |
200 |
Ferner muss man ein paar wesentliche Sätze in der Landessprache beherrschen und bereit sein, sich auf den Lebensstil des betreffenden Landes einzulassen, um die Kultur durch Erfahrungen aus erster Hand schätzen zu lernen. |
201 |
Wir haben eine Reihe von Konzepten, Methoden und Strategien zusammengestellt, die wissenschaftlich belegt sind und den meisten Lesern offensichtlich erscheinen oder einleuchten werden. Methoden, Praktiken und Meinungen, die keine wissenschaftlichen Grundlagen besitzen, haben wir außen vor gelassen. |
202 |
Beinahe hundert Millionen Jahre vergingen, bis wir uns zu einer so fortschrittlichen Gesellschaft entwickelt hatten, dass wir einen Mann auf den Mond schießen konnten. Doch als er dann oben war, musste auch er, wie schon seine primitiven Vorfahren, irgendwann aufs Klo. |
203 |
Wir werden aufzeigen, wie unterschiedliche Verhaltensmerkmale von Generation zu Generation weitervererbt beziehungsweise weitergegeben werden, ohne dass man dabei wesentliche kulturelle Unterschiede feststellen könnte. |
204 |
Der Mann wagte sich Tag für Tag in eine feindliche und gefährliche Welt hinaus, wo er als Jäger sein Leben riskierte, um seiner Frau und seinen Kindern Nahrung zu beschaffen, und zu Hause verteidigte er sie gegen wilde Tiere und andere Feinde. |
205 |
Um ergiebigere Nahrungsquellen auszumachen und dann die Beute nach Hause bringen zu können, entwickelte er einen ausgeprägten Orientierungssinn über große Distanzen. Damit er auch eine sich bewegende Beute erlegen konnte, eignete er sich eine große Zielsicherheit an. |
206 |
Die Frau fühlte sich gewürdigt, weil ihr Mann sein Leben für das Wohl seiner Familie riskierte. Sein Erfolg als Mann wurde an seiner Fähigkeit gemessen, eine Beute zu erlegen und heimzubringen, und sein Selbstwertgefühl hing davon ab, inwieweit die Frau seine Leistungen und seine Bemühungen würdigte. |
207 |
Die Familie war darauf angewiesen, dass er seinen Aufgaben als Beute-Jäger und Beschützer nachkam - und sonst nichts. Für ihn war es vollkommen unerheblich, die "Beziehung zu analysieren", ebensowenig erwartete man von ihm, den Müll rauszubringen oder dem Nachwuchs die Windeln zu wechseln. |
208 |
Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten November neunzehnhundertachtundvierzig dort, wo die Straße von Lamboing aus dem Walde der Twannbachschlucht hervortritt, einen blauen Mercedes, der am Straßenrande stand. |
209 |
Es war ihm nämlich beim Vorbeischreiten gewesen, nachdem er flüchtig durch die trüben Scheiben des Wagens geblickt hatte, als sei der Fahrer auf das Steuer niedergesunken. Er glaubte, dass der Mann betrunken sei, denn als ordentlicher Mensch kam er auf das Nächstliegende. |
210 |
Die Schläfen waren durchschossen. Auch sah Clenin jetzt, dass die rechte Wagentüre offen stand. Im Wagen war nicht viel Blut, und der dunkelgraue Mantel, den die Leiche trug, schien nicht einmal beschmutzt. |
211 |
Aus der Manteltasche glänzte der Rand einer gelben Brieftasche. Clenin, der sie hervorzog, konnte ohne Mühe feststellen, dass es sich beim Toten um Ulrich Schmied handelte, Polizeileutnant der Stadt Bern. |
212 |
Er kehrte zum Wagen zurück, hob den grauen Filzhut auf, der zu Füßen der Leiche lag, und drückte ihr den Hut über den Kopf, so tief, dass er die Wunde an den Schläfen nicht mehr sehen konnte, dann war ihm wohler. |
213 |
Dann fasste er einen Entschluss. Er schob den Toten auf den zweiten Vordersitz, setzte ihn sorgfältig aufrecht, befestigte den leblosen Körper mit einem Lederriemen, den er im Wageninnern gefunden hatte, und rückte selbst ans Steuer. |
214 |
Der Tote saß bewegungslos neben ihm und nur manchmal, bei einer Unebenheit der Straße etwa, nickte er mit dem Kopf wie ein alter, weiser Chinese, so dass Clenin es immer weniger zu versuchen wagte, die andern Wagen zu überholen. Sie erreichten Biel mit großer Verspätung. |
215 |
Bärlach hatte lange im Auslande gelebt und sich in Konstantinopel und dann in Deutschland als bekannter Kriminalist hervorgetan. Zuletzt war er der Kriminalpolizei Frankfurt am Main vorgestanden, doch kehrte er schon dreiunddreißig in seine Vaterstadt zurück. |
216 |
Der Grund seiner Heimreise war nicht so sehr seine Liebe zu Bern, das er oft sein goldenes Grab nannte, sondern eine Ohrfeige gewesen, die er einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte. |
217 |
Das erste, was Bärlach im Fall Schmied tat, war, dass er anordnete, die Angelegenheit die ersten Tage geheim zu behandeln — eine Anordnung, die er nur mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit durchzubringen vermochte. |
218 |
Er verzichtete jedoch darauf, seinem ehemaligen Untergebenen einen Besuch abzustatten, denn er liebte Tote nicht und ließ sie daher meistens in Ruhe. Den Besuch bei Lutz hätte er auch gern unterlassen, doch musste er sich fügen. |
219 |
Er leide oft an Magenbeschwerden, und er bitte deshalb Doktor Lutz, ihm einen Stellvertreter in der Mordsache Schmied beizugeben, der das Hauptsächliche ausführen könnte, Bärlach wolle dann den Fall mehr vom Schreibtisch aus behandeln. |
220 |
Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte — anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und fotografiert worden. |
221 |
Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, "seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell". |
222 |
Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die ihm schon hundertmal erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede festhaltende Kraft. |
223 |
Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren jedesmal die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch besondere Anstrengung. |
224 |
Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdroß, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete. |
225 |
Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus. |
226 |
Er rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da ein wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich allemal vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man sah dem Kalifen an, dass es ihm recht wohl war. |
227 |
Um diese Stunde konnte man gar gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und leutselig war, deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle Tage um diese Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber sehr nachdenklich aus, ganz gegen seine Gewohnheit. |
228 |
Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser war ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in zerlumptem Anzug. |
229 |
Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand Waren hatte, Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und Kämme. Der Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif kaufte endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des Wesirs aber einen Kamm. |
230 |
Als der Krämer seinen Kasten schon wieder zumachen wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob da auch noch Waren seien. Der Krämer zog die Schublade heraus und zeigte darin eine Dose mit schwärzlichem Pulver. |
231 |
Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte, wenn er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und entließ den Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen, was die Schrift enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne, der es entziffern könnte. |
232 |
Vor langer, langer Zeit wohnte in Puddemin ein Bauer, der hatte eine schöne und fromme Frau, die fleißig betete und alle Sonntage und Festtage zur Kirche ging, auch den Armen, die vor ihre Türe kamen, gern gab. |
233 |
Es war überhaupt eine freundliche und mitleidige Seele und im ganzen Dorfe und Kirchspiele von allen Leuten geliebt. Nie hat man ein hartes Wort von ihr gehört, noch ist ein Fluch und Schwur oder andere Ungebühr je aus ihrem Munde gegangen. |
234 |
Diese Frau hatte sieben Kinder, lauter kleine Dirnen, von welchen die älteste zwölf und die jüngste zwei Jahr alt war: hübsche, lustige Dingelchen. Diese gingen alle übereins gekleidet, mit bunten Röckchen und bunten Schürzen und roten Mützchen. |
235 |
Die Mutter hielt sie nett und reinlich, wusch und kämmte sie morgens früh und abends spät, wann sie aufstanden und zu Bett gingen, lehrte sie lesen und singen und erzog sie in aller Freundlichkeit und Gottesfurcht. |
236 |
Wann sie auf dem Felde was zu tun hatte oder weit ausgehen musste, stellte sie die älteste, welche Barbara hieß, über die andern; diese musste auf sie sehen, ihnen was erzählen, auch wohl etwas vorlesen. |
237 |
Es war aber ein Beutel mit Nüssen und Äpfeln, den die Mutter des Morgens da hingehängt hatte und den sie des Nachmittags einem ihrer kleinen Paten bringen wollte. Die meisten Kinder sprangen nun alsbald auf und guckten danach, und auch Barbara, die älteste, stand auf und guckte mit. |
238 |
Und die Kinder flüsterten und sprachen dies und das über den schönen Beutel und was wohl darin sein möchte. Und es gelüstete sie so sehr, es zu wissen, und da riss eines den Beutel von dem Nagel, und Barbara öffnete die Schnur, womit er zugebunden war, und es fielen Äpfel und Nüsse heraus. |
239 |
Und als die Kinder die Äpfel und Nüsse auf dem Boden hinrollen sahen, vergaßen sie alles, und dass es Festtag war, und was die Mutter ihnen befohlen und aufgegeben hatte; sie setzten sich hin und schmausten Äpfel und knackten Nüsse und aßen alles rein auf. |
240 |
Kaum hatte die Frau das schlimme Wort aus ihrem Munde gehen lassen, so waren alle die sieben niedlichen Kinderchen weg, als hätte sie ein Wind weggeblasen, und sieben bunte Mäuse liefen in der Stube herum mit roten Köpfchen, wie die Röcke und Mützen der Kinder gewesen waren. |
241 |
Und Vater und Mutter erschraken so sehr, dass sie hätten zu Stein werden mögen. Da kam der Knecht herein und öffnete die Türe, und die sieben bunten Mäuse liefen alle zugleich hinaus und über die Flur auf den Hof hin; sie liefen aber sehr geschwind. |
242 |
Und die Mutter lief ihnen außer Atem nach und konnte weder schreien noch weinen und wusste nicht mehr, was sie tat. So liefen die Mäuse über das Dumsevitzer Feld hin und in einen kleinen Busch hinein, wo einige hohe Eichen standen und in der Mitte ein spiegelhellen Teich war. |
243 |
Und der Busch steht noch da mit seinen Eichen und heißt der Mäusewinkel. Und als sie in den Busch kamen und an den Teich im Busche, da standen sie alle sieben still und guckten sich um, und die Bauerfrau stand dicht bei ihnen. |
244 |
Es war aber, als wenn sie ihr Adje sagen wollten. Denn als sie die Frau so ein Weilchen angeguckt hatten, plump! Und alle sieben sprangen zugleich ins Wasser und schwammen nicht, sondern gingen gleich unter in der Tiefe. Es war aber der helle Mittag, als dies geschah. |
245 |
Und die Mutter blieb stehen, wo sie stand, und rührte keine Hand und keinen Fuß mehr, sie war auch kein Mensch mehr. Sie ward stracks zu einem Stein, und der Stein liegt noch da, wo sie stand und die Mäuslein verschwinden sah; und das ist dieser große runde Stein, an welchem wir sitzen. |
246 |
Und nun höre mal, was nach diesem geschehen ist und noch alle Nacht geschieht! Glocke zwölf, wann alles schläft und still ist und die Geister rundwandeln, da kommen die sieben bunten Mäuse aus dem Wasser heraus und tanzen eine ganze ausgeschlagene Stunde, bis es eins schlägt, um den Stein herum. |
247 |
Und das ist die einzige Zeit, wo die Kinder und die Mutter sich verstehen können und voneinander wissen; die übrige Zeit sind sie wie tot. Dann singen die Mäuse einen Gesang, den ich dir sagen will, und der bedeutet ihre Veränderung, oder dass sie wieder in Menschen verwandelt werden können. |
248 |
Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsergleichen eine dem Dichten irgendwie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung derselben ließe uns hoffen, eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. |
249 |
Die Dichter selbst lieben es ja, den Abstand zwischen ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern; sie versichern uns so häufig, dass in jedem Menschen ein Dichter stecke; und dass der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde. |
250 |
Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. |
251 |
Es wäre dann unrecht, zu meinen, es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteile, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern - Wirklichkeit. |
252 |
Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. |
253 |
Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. |
254 |
Denn vieles, was als real nicht Genuss bereiten könnte, kann dies doch im Spiel der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden. |
255 |
Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, dass ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust. |
256 |
So gibt auch der Heranwachsende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an reale Effekte; anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er baut sich Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt. |
257 |
Ich glaube, dass die meisten Menschen zuzeiten ihres Lebens Phantasien bilden. Es ist das eine Tatsache, die man lange Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genug gewürdigt hat. Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als das Spielen der Kinder. |
258 |
Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet mit andern Kindern ein geschlossenes psychisches System zum Zwecke des Spieles, aber wenn es auch den Erwachsenen nichts vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht vor ihnen. |
259 |
Der Erwachsene aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen, er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel lieber seine Vergehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen. |
260 |
Das Spielen des Kindes wurde von Wünschen dirigiert, eigentlich von dem einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft, vom Wunsche: groß und erwachsen zu sein. Es spielt immer "groß sein", imitiert im Spiel, was ihm vom Leben der Großen bekannt geworden ist. |
261 |
Aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und wir sind dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt, dass unsere Kranken uns nicht anderes mitteilen, als was wir auch von den Gesunden erfahren könnten. |
262 |
Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. |
263 |
Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. |
264 |
Beim jungen Weib herrschen die erotischen Wünsche fast ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebesstreben aufgezehrt; beim jungen Mann sind neben den erotischen die eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. |
265 |
Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung erläutern. Nehmen Sie den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, dem Sie die Adresse eines Arbeitgebers genannt haben, bei welchem er vielleicht eine Anstellung finden kann. |
266 |
Sie sehen an solchem Beispiel, wie der Wunsch einen Anlass der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen. Es wäre noch vielerlei über die Phantasien zu sagen; ich will mich aber auf die knappsten Andeutungen beschränken. |
267 |
Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum Traum. Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident machen können. |
268 |
Nachdem die Aufklärung der Traumentstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war, fiel es nicht mehr schwer zu erkennen, dass die nächtlichen Träume ebensolche Wunscherfüllungen sind wie die Tagträume, die uns allen so wohl bekannten Phantasien. |
269 |
An den Schöpfungen dieser Erzähler muss uns vor allem ein Zug auffällig werden; sie alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. |
270 |
Das Gefühl der Sicherheit, mit dem ich den Helden durch seine gefährlichen Schicksale begleite, ist das nämliche, mit dem ein wirklicher Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu retten, oder sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen. |
271 |
Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir aufgefallen, dass nur eine Person, wiederum der Held, von innen geschildert wird; in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von außen an. |
272 |
Der psychologische Roman verdankt im Ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren. |
273 |
Doch muss ich bemerken, dass die psychologische Analyse nicht dichtender, in manchen Stücken von der sogenannten Norm abweichender Individuen uns analoge Variationen der Tagträume kennen gelehrt hat, in denen sich das Ich mit der Rolle des Zuschauers bescheidet. |
274 |
Sie vergessen nicht, dass die vielleicht befremdende Betonung der Kindheitserinnerung im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der Voraussetzung ableitet, dass die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist. |
275 |
Die Untersuchungen dieser völkerpsychologischen Bildungen sind nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich, dass sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit entsprechen. |
276 |
Sie werden sagen, dass ich Ihnen von den Phantasien weit mehr erzählt habe, als vom Dichter, den ich doch im Titel meines Vortrages vorangestellt. Ich weiß das und versuche es durch den Hinweis auf den heutigen Stand unserer Erkenntnis zu entschuldigen. |
277 |
Sie erinnern sich, wir sagten, dass der Tagträumer seine Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt, sich ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen würde, könnte er uns durch solche Enthüllung keine Lust bereiten. |
278 |
Zweierlei Mittel dieser Technik können wir erraten: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. |
279 |
Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. |
280 |
Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den Weg zu kennen. Vielleicht kehren wir nächtens immer wieder das Stück zurück, das wir in der fremden Sonne mühsam gewonnen haben? Es kann sein. Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. |
281 |
Aber wir haben im Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem Grün. Und nun reiten wir lang. Es muss also Herbst sein. Wenigstens dort, wo traurige Frauen von uns wissen. Sein Nachbar, der kleine feine Franzose, hat erst drei Tage lang gesprochen und gelacht. |
282 |
Jemand erzählt von seiner Mutter. Ein Deutscher offenbar. Laut und langsam setzt er seine Worte. Wie ein Mädchen, das Blumen bindet, nachdenklich Blume um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird: so fügt er seine Worte. |
283 |
Da sind alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold. Denn was der Eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so. |
284 |
So reitet man in den Abend hinein, in irgendeinen Abend. Man schweigt wieder, aber man hat die lichten Worte mit. Da hebt der Marquis den Helm ab. Seine dunklen Haare sind weich und, wie er das Haupt senkt, dehnen sie sich frauenhaft auf seinem Nacken. |
285 |
Jetzt erkennt auch der von Langenau: Fern ragt etwas in den Glanz hinein, etwas schlankes, dunkles. Eine einsame Säule, halbverfallen. Und wie sie lange vorüber sind, später, fällt ihm ein, dass das eine Madonna war. |
286 |
Es hat keine Flügel. Die Gesichter sind dunkel. Dennoch leuchten eine Weile die Augen des kleinen Franzosen mit eigenem Licht. Er hat eine kleine Rose geküsst, und nun darf sie weiterwelken an seiner Brust. |
287 |
Aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln. Sie tasten vor sich her wie Blinde und finden den Andern wie eine Tür. Fast wie Kinder, die sich vor der Nacht ängstigen, drängen sie sich in einander ein. Und doch fürchten sie sich nicht. |
288 |
Im Vorsaal über einem Sessel hängt der Waffenrock, das Bandelier und der Mantel von dem von Langenau. Seine Handschuhe liegen auf dem Fußboden. Seine Fahne steht steil, gelehnt an das Fensterkreuz. Sie ist schwarz und schlank. |
289 |
Draußen jagt ein Sturm über den Himmel hin und macht Stücke aus der Nacht, weiße und schwarze. Der Mondschein geht wie ein langer Blitz vorbei, und die reglose Fahne hat unruhige Schatten. Sie träumt. |
290 |
War ein Fenster offen? Ist der Sturm im Haus? Wer schlägt die Türen zu? Wer geht durch die Zimmer? – Laß. Wer es auch sei. Ins Turmgemach findet er nicht. Wie hinter hundert Türen ist dieser große Schlaf, den zwei Menschen gemeinsam haben; so gemeinsam wie eine Mutter oder einen Tod. |
291 |
Ist das der Morgen? Welche Sonne geht auf? Wie groß ist die Sonne. Sind das Vögel? Ihre Stimmen sind überall. Alles ist hell, aber es ist kein Tag. Alles ist laut, aber es sind nicht Vogelstimmen. Das sind die Balken, die leuchten. Das sind die Fenster, die schrein. |
292 |
Und mit zerrissenem Schlaf im Gesicht drängen sich alle, halb Eisen, halb nackt, von Zimmer zu Zimmer, von Trakt zu Trakt und suchen die Treppe. Und mit verschlagenem Atem stammeln Hörner im Hof: Sammeln, sammeln! Und bebende Trommeln. |
293 |
Da brennt ihre Fahne mitten im Feind und sie jagen ihr nach. Der von Langenau ist tief im Feind, aber ganz allein. Der Schrecken hat um ihn einen runden Raum gemacht, und er hält, mitten drin, unter seiner langsam verlodernden Fahne. |
294 |
Langsam, fast nachdenklich schaut er um sich. Es ist viel Fremdes, Buntes vor ihm. Gärten – denkt er und lächelt. Aber da fühlt er, dass Augen ihn halten und erkennt Männer und weiß, dass es die heidnischen Hunde sind – und wirft sein Pferd mitten hinein. |
295 |
Aber, als es jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst. Der Waffenrock ist im Schlosse verbrannt, der Brief und das Rosenblatt einer fremden Frau. |
296 |
Über Freilingen lag eine kalte, stürmische Novembernacht; der Wind rumorte durch die Straßen, als sei er allein hier Herr und Meister und eine löbliche Polizeiinspektion habe nichts über den Straßenlärm zu sagen. |
297 |
Morgens waren die Milizen ausgerückt, hatten prächtige Kirchenparade gehalten und kümmerten sich in ihrem Patriotismus wenig darum, dass die Dragoner, welche als Garnison hier lagen, sie laut genug bekrittelten. |
298 |
Schön konnte er diesmal werden, dieser Ball; hatte ihn doch Hofrat Berner arrangiert, und das musste man ihm lassen, so viele Eigenheiten er sonst auch haben mochte: einen guten Ball zu veranstalten, verstand er aus dem Fundament. |
299 |
Die Wagen hatten nach und nach alle ihre köstlichen Waren entladen; die Damen hatten sich aus den neidischen Hüllen der Pelzmäntel und Schals herausgeschält und saßen jetzt in langen Reihen, alle in unchristlichem Wichs, an den Wänden hinauf. Es war der erste Ball in dieser Saison. |
300 |
Das hatte aber seine ganz eigenen Gründe; man sah ihm wohl die Unruhe an; aber niemand wusste, warum er, ganz gegen seine Gewohnheit, unruhig hin- und herlaufe, bald hinaus auf die Treppe, bald herein ans Fenster renne. |
301 |
Sonst war er Punkt fünf Uhr mit seinem Arrangement fertig gewesen und hatte dann ruhig und besonnen den Ball eröffnet; aber heute schien ein sonderbarer Zappel das freundliche Männchen überfallen zu haben. |
302 |
Wie spitzte er sich auf die langen Gesichter der Damen, auf die freundlichen Blicke der Herren, wenn er die wunderschöne Dame in den Saal führen würde; denn kennen konnte sie im ersten Augenblicke niemand. |
303 |
Er liebte sie wie sein eigenes Kind; aber er musste sich vor drei Jahren doch gestehen, dass ihm angst und bange sei, was aus dem wilden Ding werden solle, das man da in die Residenz führe, um sie menschlich zu machen. |
304 |
Nein, was war mit diesem Mädchen in den kurzen drei Jahren eine Veränderung vorgegangen! Wenigstens um einen Kopf war sie gewachsen, alles an ihr hatte eine Rundung, eine zarte Fülle bekommen, die man sonst nicht für möglich gehalten hätte. |
305 |
Es war ja dasselbe lustige, naive Ding wie früher und doch so wunderherrlich, so groß, mit so unendlich viel Anstand und Würde! Er hätte sie auf der Stelle am Kopf nehmen und recht abküssen mögen wie früher, wenn sie einen rechten Ausbund von Schelmenstreich gemacht hatte. |
306 |
Die muss eine gute Schule durchgemacht haben, dachte der Hofrat. Siebzehn Jahre alt und spricht so mir nichts dir nichts von der Farbe, als wäre sie seit zwanzig Jahren in den Salons von Paris und London umhergefahren. |
307 |
Jetzt willst du dein Schach verdeckt spielen und mir irgendeinen blauen Dunst vorschwefeln, und das Herzchen ist am Ende doch in der Residenz geblieben, und Fräulein Stahlherz ist nur darum so spröde gegen die Freilinger Stadtkinder. |
308 |
Aber basta! der Hofrat Berner hat auch gelebt und geliebt und wettet seinen Kopf: dieses Auge weiß, was Liebe ist, diese frischen Purpurlippen haben schon geküsst, aber anders als nur solche Hofratsküsse. |
309 |
Der gute Alte äußerte etwas von diesen Gedanken gegen Ida; sie aber sah ihm ganz ruhig ins Gesicht und versicherte lächelnd: gefallen habe ihr schon mancher, geliebt habe sie aber bis diese Stunde noch keinen Mann als ihren Vater und ihn. |
310 |
Kennen Sie diese Situation: Sie befinden sich in einer angespannten Gesprächssituation, vielleicht gar in einer hitzigen Diskussion, in der Ihr Gesprächspartner gerade eine Äußerung gemacht hat, mit der Sie jetzt ganz und gar nicht einverstanden sind. |
311 |
Nur leider fällt Ihnen ausgerechnet in diesem Moment so gar keine passende Bemerkung oder Entgegnung ein. Ist man dann auseinandergegangen und Sie gehen das Gespräch danach noch einmal im Geiste durch, wüssten Sie durchaus, was Sie hätten sagen sollen. |
312 |
Damit ist die Schlagfertigkeit eng verwandt mit einer anderen geistigen Fähigkeit, die wir Kreativität nennen. Kreativität ist nichts anderes als die Kunst, neue Einfälle und Ideen zu entwickeln. Sie ist streng zu unterscheiden von dem, was man Intelligenz nennt. |
313 |
Während Intelligenz früher von Verhaltensforschern allgemein als die Fähigkeit bezeichnet wurde, sich wechselnden Umständen anzupassen, ist sie heute im Zuge zahlloser Intelligenztests zur Fähigkeit verkümmert, diese Tests zu bestehen. |
314 |
Und dafür kann Kreativität ausgesprochen schädlich sein. Dies wurde mir sehr deutlich bewusst, als ich an der Universität einmal ein Seminar über Intelligenztests besuchte. Einer dieser Tests bestand darin, in der folgenden Figur das richtige Symbol zu ergänzen. |
315 |
Ich konnte es mir an dieser Stelle nicht verkneifen, unseren Dozenten darauf aufmerksam zu machen, dass es völlig gleichgültig sei, was in das letzte Kästchen kommt, weil sich immer eine sinnvolle Lösung ergibt. So kann man diese Übung nämlich auch ganz anders ausfüllen. |
316 |
Unser Dozent stand geschlagene fünf Minuten vor der Tafel und murmelte immer wieder: "Das verstehe ich nicht." Meine Mitstudenten hatten ihre helle Freude, denn sie verstanden die neue kreative Lösung durchaus. |
317 |
Ich habe mir darum die Freiheit genommen, in einem Teil meiner späteren Seminare meine Teilnehmer teilweise recht erfolgreich auf solche Tests vorzubereiten. Man erkennt an diesem Beispiel aber auch etwas anderes. |
318 |
Darin gliedert sich der kreative Prozess in die Präparationsphase, in der das Problem in das Bewusstsein dringt und das vorhandene Wissen aktiviert. Darauf folgt die Inkubationsphase mit unbewussten Verarbeitungsprozessen, manchmal auch als "schöpferische Pause" bezeichnet. |
319 |
Damit drängt sich die Frage auf, ob schlagfertige Menschen nicht einfach nur ein großes Repertoire an angemessenen Äußerungen quasi "auf Lager" haben, das sie abrufen. Zweifellos ist auch dies der Fall, aber selbst mit einem solchen Repertoire kann man nicht jede neue Situation meistern. |
320 |
Ich habe allerdings beobachtet, dass schlagfertige Menschen dieses Repertoire ständig kreativ erweitern, wenn sie Schlagfertigkeit und Kreativität wieder einmal in einer besonderen Situation etwas Besonderes gesagt haben. |
321 |
So hat sich ein Freund von mir, den ich für sehr schlagfertig halte, zur Gewohnheit gemacht, mich nach jedem besonderen "Treffer", den er in einem Gespräch angebracht hat, anzurufen und ihn mir mitzuteilen. |
322 |
Nein, es ist gut! es ist alles gut! Ich – ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein anhaltendes Gebet sein. Ich will nicht rechten, und verzeihe mir diese Tränen, verzeihe mir meine vergeblichen Wünsche. |
323 |
Sie meine Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme geschlossen hätte – Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst. Und, darf ich es sagen? Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm. |
324 |
Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen werden in ihren Hoffnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen. Ich besuchte mein gutes Weib unter der Linde. Der älteste Junge lief mir entgegen, sein Freudengeschrei führte die Mutter herbei, die sehr niedergeschlagen aussah. |
325 |
Wenn ich mich so in Träumen verliere, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren: wie, wenn Albert stürbe? Du würdest! ja, sie würde – und dann laufe ich dem Hirngespinste nach, bis es mich an Abgründe führet, vor denen ich zurückbebe. |
326 |
Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen. |
327 |
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, dass ich ihr Geschäft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. |
328 |
Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, dass Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiss seltener. |
329 |
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. |
330 |
Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können. Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. |
331 |
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. |
332 |
Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. |
333 |
Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. |
334 |
Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. |
335 |
Ich hörte die Wagen an dem Gartengitter vorüberfahren, manchmal sah ich sie auch durch die schwach bewegten Lücken im Laub. Wie krachte in dem heißen Sommer das Holz in ihren Speichen und Deichseln! Arbeiter kamen von den Feldern und lachten, dass es eine Schande war. |
336 |
Oft hatte ich beide Arme auf der Holzplatte und, schon müde, biss ich in mein Butterbrot. Die stark durchbrochenen Vorhänge bauschten sich im warmen Wind, und manchmal hielt sie einer, der draußen vorüberging, mit seinen Händen fest, wenn er mich besser sehen und mit mir reden wollte. |
337 |
Meistens verlöschte die Kerze bald und in dem dunklen Kerzenrauch trieben sich noch eine Zeitlang die versammelten Mücken herum. Fragte mich einer vom Fenster aus, so sah ich ihn an, als schaue ich ins Gebirge oder in die bloße Luft, und auch ihm war an einer Antwort nicht viel gelegen. |
338 |
Wir durchstießen den Abend mit dem Kopf. Es gab keine Tages- und keine Nachtzeit. Bald rieben sich unsere Westenknöpfe aneinander wie Zähne, bald liefen wir in gleichbleibender Entfernung, Feuer im Mund, wie Tiere in den Tropen. |
339 |
Wir machten den Angriff, wurden vor die Brust gestoßen und legten uns in das Gras des Straßengrabens, fallend und freiwillig. Alles war gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte im Gras, nur müde wurde man. |
340 |
Wenn man sich auf die rechte Seite drehte, die Hand unters Ohr gab, da wollte man gerne einschlafen. Zwar wollte man sich noch einmal aufraffen mit erhobenem Kinn, dafür aber in einen tieferen Graben fallen. |
341 |
Den Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in seinem Licht vorbei. Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch im Graben fühlte man ihn, und in der Nähe fing der Wald zu rauschen an. Da lag einem nicht mehr soviel daran, allein zu sein. |
342 |
Wir liefen enger beisammen, manche reichten einander die Hände, den Kopf konnte man nicht genug hoch haben, weil es abwärts ging. Einer schrie einen indianischen Kriegsruf heraus, wir bekamen in die Beine einen Galopp wie niemals, bei den Sprüngen hob uns in den Hüften der Wind. |
343 |
Auf der Wildbachbrücke blieben wir stehn; die weiter gelaufen waren, kehrten zurück. Das Wasser unten schlug an Steine und Wurzeln, als wäre es nicht schon spät abend. Es gab keinen Grund dafür, warum nicht einer auf das Geländer der Brücke sprang. |
344 |
Wir sangen viel rascher als der Zug fuhr, wir schaukelten die Arme, weil die Stimme nicht genügte, wir kamen mit unseren Stimmen in ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine Stimme unter andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen. |
345 |
Es war schon Zeit. Ich küsste den, der bei mir stand, reichte den drei Nächsten nur so die Hände, begann den Weg zurückzulaufen, keiner rief mich. Bei der ersten Kreuzung, wo sie mich nicht mehr sehen konnten, bog ich ein und lief auf Feldwegen wieder in den Wald. |
346 |
Endlich gegen 10 Uhr abends kam ich mit einem mir von früher her nur flüchtig bekannten Mann, der sich mir diesmal unversehens wieder angeschlossen und mich zwei Stunden lang in den Gassen herumgezogen hatte, vor dem herrschaftlichen Hause an, in das ich zu einer Gesellschaft geladen war. |
347 |
Ich war doch eingeladen, ich hatte es ihm gleich gesagt. Aber ich war eingeladen, hinaufzukommen, wo ich schon so gerne gewesen wäre, und nicht hier unten vor dem Tor zu stehn und an den Ohren meines Gegenübers vorüberzuschauen. |
348 |
Und jetzt noch mit ihm stumm zu werden, als seien wir zu einem langen Aufenthalt auf diesem Fleck entschlossen. Dabei nahmen an diesem Schweigen gleich die Häuser rings herum ihren Anteil, und das Dunkel über ihnen bis zu den Sternen. |
349 |
Wie standen sie einem noch gegenüber, selbst wenn man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also längst nichts mehr zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie nicht hin, sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur aus der Ferne, überzeugten. |
350 |
Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, dass alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. |
351 |
Es scheint so arg, Junggeselle zu bleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehn. |
352 |
Es ist möglich, dass einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüre nichts davon. Mein kleines Geschäft erfüllt mich mit Sorgen, die mich innen an Stirne und Schläfen schmerzen, aber ohne mir Zufriedenheit in Aussicht zu stellen, denn mein Geschäft ist klein. |
353 |
Verfolget nur den unscheinbaren Mann und wenn Ihr ihn in einen Torweg gestoßen habt, beraubt ihn und seht ihm dann, jeder die Hände in den Taschen, nach, wie er traurig seines Weges in die linke Gasse geht. |
354 |
Die verstreut auf ihren Pferden galoppierende Polizei bändigt die Tiere und drängt Euch zurück. Lasset sie, die leeren Gassen werden sie unglücklich machen, ich weiß es. Schon reiten sie, ich bitte, paarweise weg, langsam um die Straßenecken, fliegend über die Plätze. |
355 |
Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen? Heute früh war der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und lehnt die Wange an die Klinke des Fensters. |
356 |
Unten sieht man das Licht der freilich schon sinkenden Sonne auf dem Gesicht des kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und zugleich sieht man den Schatten des Mannes darauf, der hinter ihm rascher kommt. |
357 |
Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen, auf die Platten der Tische, für alle Trinksprüche, für die Liebespaare in ihren Betten, in den Gerüsten der Neubauten, in dunklen Gassen an die Häusermauern gepresst, auf den Ottomanen der Bordelle. |
358 |
Ich schätze meine Vergangenheit gegen meine Zukunft, finde aber beide vortrefflich, kann keiner von beiden den Vorzug geben und nur die Ungerechtigkeit der Vorsehung, die mich so begünstigt, muss ich tadeln. |
359 |
Nur als ich in mein Zimmer trete, bin ich ein wenig nachdenklich, aber ohne dass ich während des Treppensteigens etwas Nachdenkenswertes gefunden hätte. Es hilft mir nicht viel, dass ich das Fenster gänzlich öffne und dass in einem Garten die Musik noch spielt. |
360 |
Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. |
361 |
Ich kann es gar nicht verteidigen, dass ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, dass Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig. |
362 |
Doch sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare zeigen, und doch tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen. |
363 |
Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen. Der Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut beim Losgehn des Orchesters zu stark, als dass sich am Morgen danach die Reue verhindern ließe. |
364 |
Der Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflussreicher Leute, muss uns in dem engen Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene, die bald vor uns leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein gegen den Rand des Horizonts anritten. |
365 |
Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel. |
366 |
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar. |
367 |
Von der Dämmerung des Zimmers gleich geblendet, wollte es mit dem Gesicht rasch in seine Hände, beruhigte sich aber unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der Straßenbeleuchtung endlich unter dem Dunkel liegen blieb. |
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Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. |
369 |
Der Mensch muss seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. |
370 |
Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muss. |
371 |
Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. "Himmlischer Vater!" dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. |
372 |
Der nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. |
373 |
Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. |
374 |
Gewiss würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt. |
375 |
Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger. |
376 |
Aber durch das kleine Gespräch waren die anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam geworden, dass Gregor wider Erwarten noch zu Hause war, und schon klopfte an der einen Seitentür der Vater, schwach, aber mit der Faust. |
377 |
Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, die Schwester aber flüsterte: "Gregor, mach auf, ich beschwöre dich". Gregor aber dachte gar nicht daran aufzumachen, sondern lobte die vom Reisen her übernommene Vorsicht, auch zu Hause alle Türen während der Nacht zu versperren. |
378 |
Zunächst wollte er ruhig und ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. |
379 |
Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. |
380 |
Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil er so ungemein breit war. Er hätte Arme und Hände gebraucht, um sich aufzurichten; statt dessen aber hatte er nur die vielen Beinchen, die ununterbrochen in der verschiedensten Bewegung waren und die er überdies nicht beherrschen konnte. |
381 |
Wollte er eines einmal einknicken, so war es das erste, dass er sich streckte; und gelang es ihm endlich, mit diesem Bein das auszuführen, was er wollte, so arbeiteten inzwischen alle anderen, wie freigelassen, in höchster, schmerzlicher Aufregung. |
382 |
Er versuchte es daher, zuerst den Oberkörper aus dem Bett zu bekommen, und drehte vorsichtig den Kopf dem Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere folgte schließlich die Körpermasse langsam der Wendung des Kopfes. |
383 |
Aber als er den Kopf endlich außerhalb des Bettes in der freien Luft hielt, bekam er Angst, weiter auf diese Weise vorzurücken, denn wenn er sich schließlich so fallen ließ, musste geradezu ein Wunder geschehen wenn der Kopf nicht verletzt werden sollte. |
384 |
Im Übrigen wird auch bis dahin jemand aus dem Geschäft kommen, um nach mir zu fragen, denn das Geschäft wird vor sieben Uhr geöffnet. Und er machte sich nun daran, den Körper in seiner ganzen Länge vollständig gleichmäßig aus dem Bett hinauszuschaukeln. |
385 |
Wenn er sich auf diese Weise aus dem Bett fallen ließ, blieb der Kopf, den er beim Fall scharf heben wollte, voraussichtlich unverletzt. Der Rücken schien hart zu sein; dem würde wohl bei dem Fall auf den Teppich nichts geschehen. |
386 |
Das größte Bedenken machte ihm die Rücksicht auf den lauten Krach, den es geben müsste und der wahrscheinlich hinter allen Türen wenn nicht Schrecken, so doch Besorgnisse erregen würde. Das musste aber gewagt werden. |
387 |
Und mehr infolge der Erregung, in welche Gregor durch diese Überlegungen versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlusses, schwang er sich mit aller Macht aus dem Bett. Es gab einen lauten Schlag, aber ein eigentlicher Krach war es nicht. |
388 |
Aber wie zur rohen Antwort auf diese Frage machte jetzt der Prokurist im Nebenzimmer ein paar bestimmte Schritte und ließ seine Lackstiefel knarren. Aus dem Nebenzimmer rechts flüsterte die Schwester, um Gregor zu verständigen. |
389 |
Weil er nicht aufstand und den Prokuristen nicht hereinließ, weil er in Gefahr war, den Posten zu verlieren und weil dann der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde? Das waren doch vorläufig wohl unnötige Sorgen. |
390 |
Und Gregor schien es, dass es viel vernünftiger wäre, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, statt ihn mit Weinen und Zureden zu stören. Aber es war eben die Ungewissheit, welche die anderen bedrängte und ihr Benehmen entschuldigte. |
391 |
Und Ihre Stellung ist durchaus nicht die festeste. Ich hatte ursprünglich die Absicht, Ihnen das alles unter vier Augen zu sagen, aber da Sie mich hier nutzlos meine Zeit versäumen lassen, weiß ich nicht, warum es nicht auch Ihre Herren Eltern erfahren sollen. |
392 |
Ihre Leistungen in der letzten Zeit waren also sehr unbefriedigend; es ist zwar nicht die Jahreszeit, um besondere Geschäfte zu machen, das erkennen wir an; aber eine Jahreszeit, um keine Geschäfte zu machen, gibt es überhaupt nicht, Herr Samsa, darf es nicht geben. |
393 |
Jetzt bin ich aber schon wieder ganz frisch. Eben steige ich aus dem Bett. Nur einen kleinen Augenblick Geduld! Es geht noch nicht so gut, wie ich dachte. Es ist mir aber schon wohl. Wie das nur einen Menschen so überfallen kann. |
394 |
Und während Gregor dies alles hastig ausstieß und kaum wusste, was er sprach, hatte er sich leicht, wohl infolge der im Bett bereits erlangten Übung, dem Kasten genähert und versuchte nun, an ihm sich aufzurichten. |
395 |
Er wollte tatsächlich die Tür aufmachen, tatsächlich sich sehen lassen und mit dem Prokuristen sprechen; er war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. |
396 |
Nun ließ er sich gegen die Rücklehne eines nahen Stuhles fallen, an deren Rändern er sich mit seinen Beinchen festhielt. Damit hatte er aber auch die Herrschaft über sich erlangt und verstummte, denn nun konnte er den Prokuristen anhören. |
397 |
Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, dass es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. |
398 |
Die Zuversicht und Sicherheit, womit die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen. |
399 |
Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen, sah sich dann unsicher im Wohnzimmer um, beschattete dann mit den Händen die Augen und weinte, dass sich seine mächtige Brust schüttelte. |
400 |
Gregor trat nun gar nicht in das Zimmer, sondern lehnte sich von innen an den festgeriegelten Türflügel, so dass sein Leib nur zur Hälfte und darüber der seitlich geneigte Kopf zu sehen war, mit dem er zu den anderen hinüberlugte. |
401 |
Das Frühstücksgeschirr stand in überreicher Zahl auf dem Tisch, denn für den Vater war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei der Lektüre verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog. |
402 |
Gerade an der gegenüberliegenden Wand hing eine Photographie Gregors aus seiner Militärzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte. |
403 |
Man kann im Augenblick unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren Leistungen zu erinnern und zu bedenken, dass man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiss desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. |
404 |
Ich bin ja dem Herrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. |
405 |
Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschäft meine Partei! Man liebt den Reisenden nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient ein Heidengeld und führt dabei ein schönes Leben. |
406 |
Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Überzeugung gebildet, dass Gregor in diesem Geschäft für sein Leben versorgt war, und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, dass ihnen jede Voraussicht abhandengekommen war. |
407 |
Sie war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiss hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen; sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet. |
408 |
Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft, die Fenstervorhänge flogen auf, die Zeitungen auf dem Tische rauschten, einzelne Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder. |
409 |
Wenn sich Gregor nur hätte umdrehen dürfen, er wäre gleich in seinem Zimmer gewesen, aber er fürchtete sich, den Vater durch die zeitraubende Umdrehung ungeduldig zu machen, und jeden Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der tödliche Schlag auf den Rücken oder auf den Kopf. |
410 |
Vielleicht merkte der Vater seinen guten Willen, denn er störte ihn hierbei nicht, sondern dirigierte sogar hier und da die Drehbewegung von der Ferne mit der Spitze seines Stockes. Wenn nur nicht dieses unerträgliche Zischen des Vaters gewesen wäre. |
411 |
Dem Vater fiel es natürlich in seiner gegenwärtigen Verfassung auch nicht entfernt ein, etwa den anderen Türflügel zu öffnen, um für Gregor einen genügenden Durchgang zu schaffen. Seine fixe Idee war bloß, dass Gregor so rasch als möglich in sein Zimmer müsse. |
412 |
Es hat mancher heute eine eigene Krankheit, die Bazillenfurcht heißt. Es nagt in ihm nicht der Tuberkelbazillus in der Lunge oder in den Knochen, nicht Eitererreger sind in seinem Blut. Wer von Bazillenfurcht befallen ist, krankt an Bazillen, die nicht in seinem Körper, sondern außer ihm sind. |
413 |
Unsereiner nimmt ahnungslos Messer, Gabel und Löffel in die Hand, so wie sie auf dem Tische daliegen. Ohne zu wissen, dass uns dabei direkte Lebensgefahr droht – von wegen der allgegenwärtigen Bazillen natürlich. |
414 |
Weil diese Frucht mit einer dicken Schale bedeckt ist, glauben viele, dass die Bananen keine Bazillen haben. Weit gefehlt! Es sind doch welche drin, und in meinem Hause werden darum die Bananen immer erst gebrüht, bevor sie gegessen werden. |
415 |
Wir sind alle von Bazillen bevölkert, von Millionen und Abermillionen Bazillen, die in unserem Darme wohnen. Namentlich in dem unteren Teile des Darmrohres, im Dickdarm, sind die Bakterien wohl zu Hause. |
416 |
Über hunderttausend Milliarden Bazillen – also eine Million mal Million und dann noch mal hundert – werden es nach allerlei Berechnungen wohl schon sein, die wir in unserm Darm insgesamt beherbergen. Ein ganzes Drittel von dem, was wir aus dem Darm an einem Tage entleeren, sind lauter Bazillen. |
417 |
Denn man muss bedenken, dass die Stoffe, die von den Bakterien des Dickdarms abgegeben werden, tatsächlich sehr starke Gifte sind. Sie gehören in die Gruppe des Karbols hinein, das jedermann als todbringendes Gift kennt. |
418 |
Nun, einen direkten Beweis in diesen Dingen führen, das kann man natürlich nicht. Denn man müsste ja dann seinen Versuch so einrichten, dass man zusähe, wie lange einer lebte, der keine Bakterien im Darm hätte. Wir Menschen und ebenso alle Tiere haben aber stets ihr Bakterienvolk im Darm. |
419 |
Das Altern von heute sei wie eine Krankheit: unser Körper wird ganz allmählich von den Darmbakterien vergiftet. Und wenn das Sterben und das Altern eine Krankheit ist, dann ist es ja die schlimmste Krankheit, die es gibt. |
420 |
Es ist nämlich eine Tatsache, dass wir in unserem sieben Meter langen Darm ein Organ haben, das für uns Menschen gut anders eingerichtet sein könnte, als es in Wirklichkeit ist. Der Darm ist viel, viel länger als wir ihn wirklich brauchen. |
421 |
Der Dickdarm ist für uns sogar völlig nutzlos. Man kann einem Menschen den größten Teil des Dickdarms herausschneiden, ohne seine Gesundheit zu beeinträchtigen. Man hat bei manchen Patienten solche Operationen schon vornehmen müssen. |
422 |
Für den Pflanzenfresser ist der Dickdarm wohl von Nutzen, denn der Pflanzenfresser braucht einen langen Darm: seine Nahrung ist schwer verdaulich und muss längere Zeit im Darm verweilen, und bei der Verdauung der Nahrung helfen hier sogar die Darmbakterien mit. |
423 |
Nicht nur der Dickdarm ist zu lang oder gar nutzlos für uns: auch der Dünndarm ist zu lang geraten. Die Ärzte sind schon häufig genug in die Lage gekommen, einem Patienten kleinere oder größere Stücke aus dem Dünndarm herauszuschneiden, und auch solchen Patienten geht es nach der Operation gut. |
424 |
Die Sache verhält sich hier folgendermaßen. Das Sauerwerden der Milch beruht darauf, dass die sog. Milchsäurebakterien, die sich schon innerhalb 24 Stunden in der Milch zu ganz gewaltigen Mengen vermehren, den Milchzucker vergären. |
425 |
Aus dem Milchzucker entsteht dabei eine Säure, die man Milchsäure nennt. Die macht die Milch sauer und macht sie dick, denn in der angesäuerten Milch ballt sich das Kasein, der Eiweißstoff der Milch zusammen, das Eiweiß der Milch gerinnt dabei genau so, wie das Hühnereiweiß beim Kochen gerinnt. |
426 |
Die Bakterien, die eine Fäulnis von abgestorbener lebendiger Substanz hervorrufen, können ihre Wirkung nicht tun, wenn es rings um sie sauer ist. So verhindert z. B. der saure Magensaft, der sich auf die genossenen Speisen im Magen ergießt, die Fäulnis der Speisen. |
427 |
Für billiges Geld habt ihr euch langes Leben erkauft, tragt euer Glück in der Tasche. Und all das von wegen der Bakterien, die ihr im Kampfe gegen die bösen, todbringenden Bakteriengeister in euerm Dickdarm wohl gebrauchen könnt. |
428 |
Zweifellos können manche krankhafte Zustände, manche Erkrankungen der inneren Organe und wohl namentlich die leichteren Störungen des Nervensystems auf einer Überschwemmung unseres Zellenstaates mit den Stoffwechselprodukten der Darmbakterien beruhen. |
429 |
Und es ist heute sicher, dass der Genuss von dicker Milch ein Mittel ist, seinen Körper gesund zu erhalten, weil eben, wie wir im vorigen Kapitel erfahren haben, die Bakterien der sauren Milch und die Milchsäure uns eine Waffe sind im Kampfe gegen die Darmbakterien. |
430 |
Ihr baut Bollwerke gegen Luft, Sonne und Licht. Ihr vergiftet euch mit Alkohol, schwächt euern Leib durch Arbeit über alles Maß, missachtet verbriefte Rechte der Frucht im Leibe und des Nachwuchses, der nach Lebensbejahung lechzt. |
431 |
Auch dickdarmlos in den sonnigen Gefilden des Glücks würden wir nicht ewig leben: wir würden doch altern und sterben. Man trüge schließlich doch eine sterbliche Hülle, eine Leiche zu Grabe. Aus Altersschwäche, wie man zu sagen pflegt, würden wir sterben. |
432 |
Zudem ereilt der Tod einen sehr selten auf dem Lager in der Horde, die meisten Genossen sterben im Kampfe mit dem Feind oder erliegen Verletzungen, die sie sich auf der Jagd oder auf einem längeren Marsch zugezogen haben. |
433 |
Trotz saurer Milch und aller herrlichen Dinge der Welt, trotz Licht und Sonne und Glück. Das ist ein viel weiter greifendes Problem in der Biologie, in der Lehre vom Leben, als jener Tod, den wir mit dicker Milch und tausend andern Mitteln glauben bekämpfen zu können. |
434 |
Wir sind heutzutage über die Zeit hinaus, wo man auf die Frage, was Leben ist, damit zu antworten pflegte, dass man die Meinungen von so und so viel Gelehrten darüber aufzählte, Meinungen, die in der Regel einander widersprachen. |
435 |
Wir wissen heute, dass Leben nichts anderes ist, als eine Summe sehr verwickelter chemischer Vorgänge, die sich im Rahmen einer Zelle abspielen. Im Mittelpunkt dieser Vorgänge stehen die Eiweißstoffe, so benannt, weil der Chemiker sie dem Weiß des Hühnereies sehr ähnlich gefunden hat. |
436 |
Aber die Zelle geht dabei nicht zugrunde: denn in das kleine chemische Laboratorium der Zelle werden immer wieder Stoffe von außen aufgenommen, die zu lebendiger Zellsubstanz verarbeitet werden. |
437 |
Alles Leben beruht auf diesem Stoffwechsel der lebendigen Substanz, und alle Lehre vom Leben ist nichts anderes als die Lehre vom Stoffwechsel der Zellen. Das Leben erforschen, heißt, den Stoffwechsel erkennen, der sich in der Zelle abspielt. |
438 |
Auf den chemischen Vorgängen, die man als Stoffwechsel der lebendigen Substanz zusammenfasst, beruhen alle Erscheinungen, die man Leben nennt: Bewegung, Ernährung, Fortpflanzung, Empfindung und Denken. |
439 |
Ebenso steckt hinter den Lebensäußerungen der lebendigen Substanz, und mögen diese Lebensäußerungen noch so kompliziert und auf den ersten Blick ganz unerklärlich sein, nichts anderes dahinter als ein Stoffverbrauch und Stoffersatz, nichts anderes als der Stoffwechsel der Zellen. |
440 |
Wenn alles Leben nichts anderes ist, als der Stoffwechsel der lebendigen Substanz, so bedeutet der Tod der Zelle, das Erlöschen des Lebens in ihr, dass der Stoffwechsel der Zelle aufgehört hat. Und eine Leiche ist eine Zelle, die nicht mehr den Stoffwechsel hat, den wir Leben nennen. |
441 |
Aber damit ist doch noch nicht alles über die Leiche gesagt. Und da wollen wir von einem Versuch erzählen, der uns einen Einblick gewährt in noch andere Dinge, die man über Tod und Leiche wissen muss. |
442 |
Den Tropfen mit den Pantoffeltierchen bringen wir auf ein Glasplättchen in einer geeigneten Vorrichtung unter das Mikroskop. Dann richten wir es so ein, dass Alkohol an unserem Tropfen vorbeistreicht. |
443 |
Die Pantoffeltierchen, die bisher in lebhafter Bewegung begriffen und pfeilschnell im Tropfen hin und her geschwirrt waren, sehen wir schon nach wenigen Minuten ihre Bewegungen einstellen. Und bald liegen sie regungslos an Ort und Stelle. |
444 |
Wir hatten die Tiere mit Alkohol vergiftet. Und es ist uns selbstverständlich, dass die Vergiftung unserer Pantoffeltierchen nur darin bestehen konnte, dass ihr Stoffwechsel gestört, geschädigt war. Der äußere Ausdruck dieser Schädigung des Stoffwechsels ist die Lähmung der Zelle. |
445 |
Da aber diese Lähmung, wie wir gesehen haben, rückgängig gemacht werden konnte, so müssen wir voraussetzen, dass der Stoffwechsel der Zellen bei der Alkoholvergiftung wohl beeinträchtigt, wohl geschädigt war, dass er aber nicht ganz aufgehört hatte. |
446 |
Es scheint nun auf den ersten Blick sehr leicht zu entscheiden, ob z. B. ein Pantoffeltierchen, das wir unter dem Mikroskop vor uns haben, lebendig ist oder tot, zu entscheiden, ob die Zelle eine Leiche ist. In Wahrheit ist das gar nicht so leicht. |
447 |
Aber wenn wir den Versuch zu lange ausdehnen, wenn die Pantoffeltierchen zu lange unter der Einwirkung des Alkohols gewesen sind, so gelingt es trotz Zufuhr von frischer Luft nicht mehr, sie aus dem Zustande der Lähmung zu erwecken. Sie sind tot, sie sind zu Leichen geworden. |
448 |
Und hier entsteht die Frage, in welch einem Moment die Zelle gestorben ist, wann sie aufgehört hatte zu leben und zu einer Leiche geworden ist. Mit andern Worten – die Frage, wo die Grenze liegt zwischen Leben und Tod. |
449 |
Dieser körnige Zerfall schreitet weiter und weiter vorwärts, befällt eine Wimper nach der andern und bringt sie für immer zum Stillstand. So kann man in diesen interessanten Fällen unter dem Mikroskop direkt sehen, wie der Tod über die Zelle hinkriecht. |
450 |
Der Prozess kann sich über Tage erstrecken, aber in andern Fällen verläuft er akut und eilt in wenigen Stunden über die Zelle dahin, wie der Funke über die Zündschnur, nur zerfallende Massen hinter sich lassend. |
451 |
Aber wir haben bisher nur die Leichen von Zellen gesehen, die wir getötet hatten. Stirbt die Zelle auch eines natürlichen Todes? Wir haben uns ja noch gar nicht darüber Rechenschaft abgegeben, ob es bei den Zellen einen natürlichen Tod gibt, einen Tod, der zum Leben der Zelle gehört. |
452 |
Aber doch schien es auf Grund verschiedener Beobachtungen lange Zeit, dass die Teilungsfähigkeit der Einzelligen nicht unbegrenzt sei, dass nach einer bestimmten Anzahl von Teilungen die Teilungsfähigkeit der Einzelligen sich erschöpfte. |
453 |
Man hatte gefunden, dass nach einer bestimmten Anzahl von Generationen die Einzelligen aufhörten, sich zu teilen und zugrunde gingen, starben. Wir wollen von allen diesen Dingen später sprechen, wenn wir der ganzen Lebensgeschichte eines Pantoffeltierchens zuhören werden. |
454 |
Hier interessiert uns aus dieser Geschichte nur das eine oder das andere, was wir uns von einem fleißigen Amerikaner erzählen lassen wollen, der in den letzten Jahren den kleinen Pantoffeltierchen eine ganze Menge von ihrem Leben und Weben abgeguckt hat. |
455 |
Was da bei den Einzelligen stirbt, das ist das Opfer eines Unglücks, von dem ein Pantoffeltierchen betroffen wird, das ist das Opfer ungünstiger Lebensumstände. Sind die Umstände günstig, so gibt es einen Tod im Reiche der Einzelligen nicht. |
456 |
Leben ist Veränderung, und lebendige Substanz kann nicht sein ohne Veränderung. Alles Leben beruht auf dem Stoffwechsel der Zelle, auf bestimmten chemischen Wandlungen, auf Zerfall und Wiederaufbau der lebendigen Substanz: ein unverändertes Sein der Zelle ist ein Unding. |
457 |
Die beiden Tochterzellen eines Pantoffeltierchens bestehen in Wahrheit gar nicht aus derselben lebendigen Substanz, aus der ihre Mutterzelle aufgebaut war, als sie als Tochterzelle einst ihr selbständiges Dasein begonnen hatte. |
458 |
Um den Missdeutungen aus dem Wege zu gehen, die mit der Tatsache verknüpft werden können, dass die Einzelligen unsterblich sind, müssen wir also streng festhalten, was wir unter Unsterblichkeit verstehen. |
459 |
Unsterblichkeit bedeutet für uns nur, dass im normalen Entwicklungsgang einer Zelle keine Leiche entsteht. Die lebendige Substanz ist unsterblich nur soweit, als man unter Tod die Bildung einer Leiche versteht, einer Zelle, deren Stoffwechsel unwiderruflich erloschen ist. |
460 |
Das vielzellige Tier ist ein Zellenstaat, und in diesem Zellenstaat gehen stets wieder und wieder Zellen zugrunde, die zum Teil vom Körper abgestoßen, abgeworfen werden. In allen Klassen des Tier- und Pflanzenreiches ist das der Fall. |
461 |
Die obersten Schichten unserer Haut z. B. sind abgestorbene verhornte Zellen, die mit der Zeit von unserer Haut losgelöst und abgestoßen werden, während an ihre Stelle von unten her jüngere Zellen vorrücken, und das Schicksal dieser Jungen ist ebenso besiegelt wie das ihrer Vorgänger. |
462 |
Auch unsere Haare und unsere Nägel sind zum großen Teil tote Zellen der Haut. Ebenso die Federn der Vögel. Und wenn die Vögel mausern, so werfen sie schon recht beträchtliche Mengen von toter Zellsubstanz ab, sie werfen Zelleichen ab. |
463 |
So tun es auch zahlreiche Gliederfüßler bei der Häutung. Dieses Sterben einzelner Zellen im Zellverband beginnt schon sehr frühzeitig, indem z. B. schon die Haut des Tieres im Mutterleibe eine Hornschicht und ein Haarkleid besitzt. |
464 |
Und schon im Mutterleibe werden abgestorbene Zellen der Hornschicht und der Haare abgestoßen. Auch von den Schleimhäuten des Mundes und des Darmes werden andauernd Zellen, und sogar intakte Zellen, aus dem Zellverbande gelockert, um dann dem Tode zu verfallen. |
465 |
Verwendung zu finden. Rote Blutkörperchen, die um vierzehn Tage jünger sind, treten aus dem Knochenmarke, das die Bildungsstätte der roten Blutzellen in unserem Körper ist, an die Stelle ihrer toten Vorgänger. Auch in den Drüsen gehen ständig Zellen zugrunde. |
466 |
Auch beim Weibe findet periodisch eine Abstoßung von lebendigen Zellen statt, die dem Tode verfallen. Und bei den höheren Tieren ist die Geburt des Kindes damit verknüpft, dass ein Teil des mütterlichen Organismus, der Mutterkuchen, sich vom Körper loslöst und mit all seinen Zellen stirbt. |
467 |
Da sind die verholzten Zellen, aus denen die vielgestaltigen Elemente der Leitung in der Pflanze aufgebaut sind, wo von den Zellen schließlich nur verholzte Wände zurückgeblieben sind, und auch diese durchlöchert und durchbrochen. |
468 |
Das Protoplasma dieser Zellen ist ganz geschwunden. Da sind die toten Zellen der Rinde, der Oberhaut der Blätter. Millionen von Zellen des Pflanzenkörpers gehen ferner während des Laubfalls zugrunde, und ihre vielen, vielen Leichen bestimmen das Bild unserer herbstlichen Landschaft. |
469 |
Die toten Zellen der vielzelligen Pflanzen und Tiere – sie sind jede für sich eine Leiche, sie sind Zelleichen. Aber es wird doch niemandem einfallen zu behaupten, ein vielzelliger Organismus sei gestorben, weil ein Teil der Zellen, aus denen er besteht, abgestorben ist. |
470 |
Das wäre eine ganz unsinnige Behauptung. Denn diese toten Zellen gehören ja zum Teil mit zum Zellenstaat von Pflanze und Tier, ohne diese toten Zellen können Pflanze und Tier nicht leben. Die einzelnen Zelleichen schlechtweg machen also den Zellenstaat noch nicht zu einer Leiche. |
471 |
Aber doch, wie wir gleich sehen werden, es ist der Tod der Zellen, was den Zellenstaat zur Leiche macht. Wenn der vielzellige Organismus aufhört zu leben, so wird sein Stoffwechsel stillgestanden sein. |
472 |
Nun ist das Leben des vielzelligen Organismus nichts anderes als das Leben, das Zusammenleben der Zellen, aus denen er aufgebaut ist. Der Stoffwechsel des vielzelligen Organismus beruht auf dem Stoffwechsel seiner Zellen. |
473 |
Und da ist es uns klar, dass Zellen gestorben sein müssen, wenn einmal der Zellenstaat zu leben aufhört. Aber wir wissen ja schon, dass nicht der Tod einer jeden Zellgruppe im Zellenstaat diesen zur Leiche macht. |
474 |
Bestimmte Zellgruppen vielmehr müssen gestorben sein, wenn der große Zellenstaat zu einer Leiche werden soll. Ja, noch mehr: schon wenn bestimmte Zellen im Zellenstaat nicht mehr so recht auf ihrem Posten sind, ohne tot zu sein, auch dann schon kann der Zellenstaat zugrunde gehen. |
475 |
Wir verstehen es wohl, dass dem Leben eines vielzelligen Tieres noch kein Ziel gesetzt ist, wenn das Tier z. B. Arme und Beine eingebüßt hat. Aber stellen wir uns vor, wir haben einem Versuchstier, z. B. einem Frosch, das Herz herausgeschnitten. |
476 |
Innerhalb eines kürzeren oder längeren Zeitraumes wird unser Versuchstier sterben. Die Zellen seines Gehirnes, seiner Muskeln, seiner Leber usw. werden nach Entfernung des Herzens keinen Sauerstoff mehr bekommen und sie werden ersticken. |
477 |
Ihr Stoffwechsel wird erlöschen, die Zellen werden Leichen sein. Und schließlich wird ein Zeitpunkt kommen, wo sämtliche Zellen des Zellenstaates, der der Frosch ist, tot sein werden. Wir sagen, jetzt ist das Versuchstier tot, jetzt ist es eine Leiche. |
478 |
Und alle Zellen des Körpers werden unter der schlechten Arbeit der Nierenzellen zu leiden haben, und es wird die Stunde kommen, wo die Zellen des Herzens oder die Zellen des Gehirnes versagen werden. Sie werden sterben – und es beginnt das große Sterben der Zellen im Zellenstaat. |
479 |
Alles in allem: der vielzellige Organismus stirbt, wenn bestimmte Zellen im Zellenstaat in ihrer gewohnten Tätigkeit versagen und damit den normalen Ablauf des Stoffwechsels in allen anderen Zellen des Zellenstaates stören. |
480 |
Und dann kommt noch hinzu, dass von den hunderttausend Menschen, die über sechzig Jahre alt geworden und angeblich an Altersschwäche verstorben sind, in Wirklichkeit nur die wenigsten an Altersschwäche zugrunde gegangen sind. |
481 |
Untersucht man die Organe von alten Leuten, gleichgültig, ob sie aus Altersschwäche oder an irgendeiner Krankheit gestorben sind, so findet man in ihnen stets Veränderungen ganz charakteristischer Art. |
482 |
Denken und Handeln des alternden Menschen haben sich auch verändert. Man denkt und handelt langsamer, träger. Man humpelt, wenn das Alter gekommen, auch im Denken, genau so wie man mühsam mit Krücken sich fortbewegt, über Pflaster und Stiege geht. |
483 |
Sehen wir uns die inneren Organe eines alten Menschen an, so finden wir, dass sie kleiner sind als bei einem jüngeren Menschen. Man kann direkt von einem Schwund der Organe im Alter sprechen. Wir haben schon des äußerlich sichtbaren Schwundes vom Unterkiefer gedacht. |
484 |
Die Windungen des Gehirnes, die aus Nervenzellen bestehen, sind schmäler geworden, weit klaffen die Furchen zwischen den Windungen. Aber nicht nur kleiner, auch härter sind die Organe im Alter geworden. Derb und zähe fühlt sie der Arzt in der Hand, wenn er die Leichenschau übt. |
485 |
Da haben wir eine ganze Menge darüber erfahren, wie die Organe im Alter verändert werden. Aber all das können wir erst verstehen, wenn wir das Mikroskop zu Hilfe nehmen, die Organe alter Leute mikroskopisch untersuchen. |
486 |
Sehen wir uns z. B. ein Stückchen Niere von einem Menschen an, der aus Altersschwäche gestorben ist. Da sind an einer Stelle noch gut erhaltene Nierenzellen zu sehen, die ein Nierenkanälchen bilden, wie es sich für eine normale Niere nicht besser gehörte. |
487 |
Aber wir finden auch Nierenkanälchen, die ganz zusammengefallen sind, wo sogar die Lichtung der Kanälchen geschwunden ist. Die Zellen dieser Kanälchen sind verkleinert, "atrophisch", wie man sagt. Diese Zellen haben einen Altersschwund erfahren. |
488 |
Genau so ist es mit den Zellen der Leber, der Drüsen, des Gehirnes und der Organe sonst. Weil die Zellen der Organe klein, atrophisch geworden sind, sind eben bei dem alten Menschen die Organe kleiner als in jüngeren Jahren. |
489 |
Das Bindegewebe ist natürlich auch in lebensfrischen Organen, in Nieren, Leber usw. stets vorhanden. Es bildet gewissermaßen die weichen Daunen, in denen die Zellen der Organe gebettet liegen. Das Bindegewebe nun kommt im Alter zu üppiger Entwicklung. Das wäre noch nicht so schlimm. |
490 |
Wir sehen das namentlich an der Krümmung der Wirbelsäule im Alter. Verhängnisvoll ist dieses Versagen des Bindegewebes bei den Blutgefäßen. Die Verteilung des Blutes im Körper kann nämlich nur dann regelrecht vonstatten gehen, wenn die Blutröhren gut elastisch sind. |
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Die elastischen Röhren gehören mit zum Pumpapparat des Blutkreislaufes, sie arbeiten bei der Verteilung des Blutes im Körper dem Herzen in die Hand. Ein Pumpwerk nämlich, das eine Flüssigkeit durch starre Röhren treibt, gibt einen unterbrochenen Strom, einen Strom in einzelnen Stößen. |
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Wären sie starr, so käme das Blut an die Zellen nur in einzelnen Stößen heran, alle Sekunde, mit jedem Herzschlag einmal. Nun haben aber im Alter die Blutröhren an Elastizität eingebüßt, wenn das Bindegewebe, in dem sie gebettet sind, härter geworden ist. |
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Die Zufuhr des Blutes zu den Zellen im Körper wird beeinträchtigt. Der Stoffwechsel der Zellen wird geschädigt. Und es kommt noch hinzu, dass die Blutpumpe selber, die Zellen des Herzens, einen Altersschwund erfahren. |
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Auch das Herz wird im Alter kleiner und kann dann nicht mehr so kräftige Arbeit leisten wie in jungen Tagen. All das trägt dazu bei, dass die Atrophie der lebendigen Substanz aller Zellen im Körper noch beschleunigt wird. |
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Der Altersschwund der Zellen im Zellenstaat bedeutet, dass nunmehr weniger lebendige Substanz im Organismus enthalten ist – die Zellen sind kleiner geworden und es wird jetzt im Körper weniger lebendige Substanz im Stoffwechsel verbrannt. |
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Das ist uns selbstverständlich: im alternden Organismus brennt das Feuer des Lebens – ganz wörtlich zu verstehen – nicht mehr wie einst im Mai, es brennt nicht mehr in lodernder Glut wie früher, wie in der Jugend des Menschen. |
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Man hat gefunden, dass der Stoffwechsel bei Greisen und Greisinnen eine Abnahme erfährt. So sind die Verbrennungsvorgänge bei Leuten im Alter von etwa 68 bis 86 Jahren um rund 20% geringer als bei Leuten, die im mittleren Lebensalter stehen. |
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Wir haben bloß gesehen, dass sämtliche Zellen des Zellenstaates einen Altersschwund erleiden. Wir wollen aber doch wissen, warum mehr oder weniger plötzlich der Zeitpunkt kommt, wo ein schnelles Hinsterben aller Zellen des Zellenstaates beginnt. |
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Darüber sagt uns das, was wir über den Altersschwund der Zellen im Zellenstaat und über die Abnahme ihres Stoffwechsels erfahren haben, noch nichts aus. Wollen wir hier Aufschluss gewinnen, so müssen wir einen anderen Weg einschlagen. |
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Den Mut dazu gibt mir die Erwägung, dass der elementaren Gewalt dieses Problems kein Denkender sich entziehen kann. Handelt es sich doch um eine unentrinnbare Frage, die jeden, ohne Ausnahme, persönlichst angeht. |
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Die erkrankten Lungen können die Atmung nicht mehr so gut besorgen. Die Zellen des Körpers bekommen nun nicht genug Sauerstoff zugeführt, und die Kohlensäure wird aus ihnen nicht prompt genug herausgeschwemmt. |
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Vor allem wird das die Nervenzellen treffen, die gegenüber Sauerstoffmangel außerordentlich empfindlich sind. Die Sinne des Kranken umnebeln sich, und schließlich wird unser Patient bewusstlos. Aber noch steht die Atmung nicht ganz still und das Herz tut noch seine Arbeit. |
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Doch auch das Herz beginnt schließlich zu erlahmen. Denn die Herzmuskelzellen können nur dann tüchtig Arbeit leisten, wenn sie genug Sauerstoff mit dem Blute zugeführt bekommen und wenn sie nicht mit Stoffwechselprodukten überladen bleiben. |
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Für das Herz aber war die mangelhafte Sauerstoffzufuhr so ungenügend, dass es seine Arbeit nicht mehr tun konnte. Unser Patient ist tot. Wir sagen, er sei an Lungenentzündung gestorben. Das ist insofern richtig, als die Lungenentzündung ihn krank gemacht hatte. |
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Und noch mehr: es kommt vor, dass ein diphtheriekrankes Kind stirbt, bevor es noch überhaupt zu Atemnot gekommen war. Das Herz war stillgestanden. Die Stoffe, welche die Diphtheriebazillen ins Blut ausscheiden, haben das Herz vergiftet. |
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Auch bei Typhus, Influenza, Scharlach und andern Infektionskrankheiten sieht man infolge der Bakteriengiftwirkung in gleicher Weise das Herz erlahmen, während die Veränderungen in den andern Organen bei allen diesen Krankheiten so verschieden sind. |
507 |
Ein Patient geht an einer Erkrankung der Niere zugrunde. Sein Körper ist mit Stoffen überschwemmt, die normalerweise in den Stoffhaushalt seines Organismus nicht hineingehören. Der Kranke liegt bewusstlos da. Aber solange das Herz noch arbeitet, ist noch nicht alle Hoffnung geschwunden. |
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Doch die Stoffe, die aus den kranken Nieren in das Blut gelangen, wirken auch auf das Herz, und das Herz ist im Laufe der Zeit, wo die Nieren krank sind, geschwächt worden. Schließlich versagt das Herz, das Herz steht still. Der Kranke stirbt. Das Herz hat sein Machtwort gesprochen. |
509 |
Der Arzt kennt diese Tatsachen, und das erste, worüber er sich bei einem Patienten zu vergewissern sucht, den man seiner Kunst anvertraut hat, ist der Zustand des Herzens. Je kräftiger, je widerstandsfähiger das Herz, desto geringer die Todesgefahr. |
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So können wir mit Nothnagel sagen: Der Mensch stirbt fast immer vom Herzen aus. So lange dieses in der Brust sich zusammenzieht, und sei es noch so schwach, noch so mühsam, so lange lebt der Mensch – der letzte Herzschlag, und erst dann ist alles unwiederbringlich zu Ende. |
511 |
Da ist es nach dem, was wir eben erfahren, wohl plausibel, dass die Herzmuskelzellen die Künder des Todes im Zellenstaat sind. Wo das Herz stillsteht, da sind die Zellen des ganzen Zellenstaates ohne Sauerstoff – da hat der Zellenstaat ausgelebt. Das ist uns klar. |
512 |
Gut, das Herz steht still, und die Zellen im Zellenstaat beginnen zu sterben. Aber die Herzmuskelzellen sind noch nicht tot, wenn das Herz zu schlagen aufhört. Dass dem so ist, haben in schöner Weise Versuche gezeigt, die vor mehr als zehn Jahren der russische Physiologe Kuljabko ausgeführt hat. |
513 |
Aber wir kennen auch Fälle, wo die Herzmuskelzellen vollkommen gesund sind, und doch das Herz plötzlich seinen Dienst versagt und stillsteht. Das kommt zuweilen nach heftigen Gemütsbewegungen vor, nach einem heftigen Schlag auf den Kopf, nach starken Erschütterungen, denen der Körper ausgesetzt war. |
514 |
Wie mannigfaltig auch die Krankheiten sind, die uns treffen, wir sterben alle so, dass das Herz infolge von Veränderungen in den Herzmuskelzellen oder infolge von Störungen in den Nervenzellen, die der Herzarbeit vorstehen, seinen Dienst im Zellenstaat versagt. |
515 |
Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt – aber es war doch besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. |
516 |
Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps. Draußen quietschte das Tor. Ich zerriss den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. |
517 |
Ein schlechtes Vorzeichen! Passt aber zu deinem Horoskop. Habe es gestern gestellt. Du bist ein Kind des Schützen, unzuverlässig, schwankend, ein Rohr im Winde, mit verdächtigen Saturntrigonen und einem lädierten Jupiter in diesem Jahr. |
518 |
Köster hatte den Wagen, eine hochbordige, alte Kiste, seinerzeit auf einer Auktion für ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zögern als interessantes Stück für ein Verkehrsmuseum. |
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Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. |
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Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Köster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annähme – Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe für Ottos Wagen. Köster nahm die Wette an. |
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Aber Otto tat noch mehr; er lehnte die Vorgabe ab und erhöhte die Wette mit unbewegter Miene auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies fragte ihn entgeistert, ob er ihn in eine Irrenanstalt bringen solle. Köster ließ als Antwort nur seinen Motor an. |
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Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstört zurück, als hätte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. |
523 |
Wir hatten für den täglichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade passte, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflügel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hätten das alles besser machen können – aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. |
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Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kühler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lässig herüber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen. |
525 |
Er rückte sich etwas zurecht, blickte uns amüsiert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack. |
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Der Mann fasste das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, dass er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, dass der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. |
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Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl hässlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, dass bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. |
528 |
Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick musste hinter uns zurück, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er musste abermals zurück. |
529 |
Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ärgerlich, die Lippen zusammengepresst, saß er vorgebeugt da – das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plötzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Kläffer neben sich klein beizugeben. |
530 |
Der Buick existierte für uns gar nicht. Köster blickte ruhig auf die Straße, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bündel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe, als gerade jetzt zu lesen. |
531 |
Ein paar Minuten später blinzelte Köster uns zu. Karl verlor unmerklich an Tempo, und der Buick rückte langsam vor. Seine breiten, blinkenden Kotflügel drückten sich an uns vorbei. Der Auspuff donnerte uns blauen Qualm in die Gesichter. |
532 |
Allmählich gewann er ungefähr zwanzig Meter – da erschien auch schon das Gesicht des Besitzers im Fenster und grinste offenen Triumph. Er glaubte gewonnen zu haben. Aber der Mann tat noch ein übriges. Er konnte sich eine Revanche nicht verkneifen. |
533 |
Der Himmel war gelb wie Messing und noch nicht verqualmt vom Rauch der Schornsteine. Hinter den Dächern der Fabrik leuchtete er sehr stark. Die Sonne musste gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war noch vor acht. Eine Viertelstunde zu früh. |
534 |
Ich schloss das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen, das klang, als ob unter der Erde ein rostiges Gewinde hochgedreht würde. |
535 |
Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß. |
536 |
Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokühlern hin- und hertorkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. |
537 |
Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte: Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. |
538 |
An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie musste über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und musste deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. |
539 |
Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflügeln, ein siegreicher Dreckfink. |
540 |
Diese Jagden waren der Grund, weshalb wir Karls Karosserie nicht änderten. Er brauchte nur auf der Straße zu erscheinen – sofort versuchte jemand, ihn abzuhängen. Auf andere Wagen wirkte er wie eine flügellahme Krähe auf ein Rudel hungriger Katzen. |
541 |
Er reizte die friedlichsten Familienkutschen zum Überholen, und selbst die behäbigsten Vollbärte wurden unwiderstehlich vom Rennehrgeiz gepackt, wenn sie sein klappriges Fahrgestell vor sich auf und nieder tanzen sahen. |
542 |
Lenz behauptete, Karl wirke erzieherisch. Er lehre die Leute Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, das immer in einer unscheinbaren Hülle stecke. Das sagte Lenz, der von sich ebenfalls behauptete, er wäre der letzte Romantiker. |
543 |
Der Abend war schön und still. Die Furchen der aufgebrochenen Äcker schimmerten violett. Die Kanten leuchteten golden und braun. Wie große Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrünen Himmel und behüteten zwischen sich die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. |
544 |
Ein Haselnuss-Strauch hielt Dämmerung und Ahnung in seinen Armen, rührend kahl und schon voll Knospenhoffnung. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. Uns schwoll das Herz. |
545 |
In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran. Wie angenagelt blieben wir stehen. Es war der Buick. Er hielt mit scharfem Ruck neben Karl. "Hoppla!" sagte Lenz. Wir hatten schon öfter Schlägereien wegen ähnlicher Sachen gehabt. |
546 |
Aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich plötzlich, wie durch eine Geisterhand, die zweite Tür des Buick – ein schmaler Fuß glitt heraus, ein schmales Knie folgte –, dann stieg ein Mädchen aus und schritt langsam auf uns zu. |
547 |
Überrascht blickten wir uns an. Wir hatten vorher nicht gesehen, dass noch jemand im Wagen war. Lenz veränderte sofort seine Haltung. Er lächelte über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lächelten auf einmal alle, weiß der Kuckuck, warum. |
548 |
Der Dicke schaute uns verblüfft an. Er wurde unsicher und wusste scheinbar nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte. "Binding", sagte er schließlich, mit einer halben Verbeugung, als könne er sich an seinem Namen festhalten. |
549 |
Das Mädchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dämmerung stehen. Ich erwartete, dass Gottfried die Gelegenheit ausnützen und losgehen würde wie eine Bombe. Er war für solche Situationen. |
550 |
Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. |
551 |
Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blass, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich – aber ich dachte mir nichts weiter dabei. |
552 |
Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war völlig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glänzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfällen los und beherrschte mit Bindung zusammen den Tisch. |
553 |
Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die Auskunft musste gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloss sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde später. |
554 |
Lenz hatte, wenn er in guter Laune war, immer so etwas Hinreißendes, dass man ihm schwer widerstehen konnte. Er konnte sich selbst dann auch nicht widerstehen. Jetzt überflutete er Binding einfach, und bald sangen beide in der Laube draußen Soldatenlieder. |
555 |
Wir drei blieben allein in der Wirtsstube. Es war plötzlich sehr still. Die Schwarzwälderuhr tickte. Die Wirtin räumte ab und blickte mütterlich auf uns herunter. Am Ofen dehnte sich ein brauner Jagdhund. Manchmal bellte er im Schlaf, leise, hoch und klagend. |
556 |
Draußen strich der Wind am Fenster vorbei. Er wurde überweht von den Fetzen der Soldatenlieder, und mir war, als ob der kleine Raum sich höbe und mit uns durch die Nacht und durch die Jahre schwebe, vorbei an vielen Erinnerungen. |
557 |
Es war eine merkwürdige Stimmung. Die Zeit schien aufgehoben zu sein – sie war nicht mehr ein Strom, der aus dem Dunkel kam und ins Dunkel ging –, sie war ein See, in dem sich lautlos das Leben spiegelte. Ich hielt mein Glas in der Hand. Der Rum schimmerte. |
558 |
Ich dachte an den Zettel, den ich morgens in der Werkstatt geschrieben hatte. Ich war etwas traurig gewesen. Ich war es jetzt nicht mehr. Es war alles gleich – solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. |
559 |
Ich spürte den weichen Glanz der ersten Trunkenheit, der das Blut wärmer machte und den ich liebte, weil er über das Ungewisse den Schein des Abenteuers breitete. Draußen sangen Lenz und Binding das Lied vom Argonnerwald. |
560 |
Neben mir sprach das unbekannte Mädchen – es sprach leise und langsam mit dieser dunklen, erregenden, etwas rauen Stimme. Ich trank mein Glas aus. Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. |
561 |
Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. |
562 |
Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz. Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand. |
563 |
Dann ließen wir Karl losheulen. Er fegte durch den leichten Märznebel, wir atmeten rasch, die Stadt kam uns entgegen, feurig und schwankend im Dunst, und aus den Schwaden hob sich wie ein erleuchtetes, buntes Schiff Freddys Bar. |
564 |
Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riss die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. |
565 |
Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte. Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. |
566 |
Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Cafe International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. |
567 |
In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern Abend irgendwo gelassen haben musste, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. |
568 |
So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde. |
569 |
Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. |
570 |
Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände. "Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!" In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Körper. |
571 |
Wahrscheinlich hatte die Frau ihm ihr Dasein vorgeworfen. Sie war zweiundvierzig, etwas schwammig und verblüht, aber natürlich noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlusspanik. Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen. |
572 |
Bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muss weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute Nachmittag mit Ihrer Frau doch mal raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. |
573 |
Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, dass man es draußen hören konnte. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Ema Bönig, Privatsekretärin. |
574 |
Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld. |
575 |
Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrenspieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. |
576 |
Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. |
577 |
Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war Pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger und atmete schon auf. |
578 |
Drei Tage später wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmützen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklärten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hätten selbst genug Arbeitslose. |
579 |
Er ging trotzdem am nächsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen müssen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum drittenmal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. |
580 |
Da gab er es auf. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und büffelte wie verrückt, als hätte es noch Zweck. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. |
581 |
Die Küche. Ein ausgestopfter Wildschweinschädel. Erinnerung an den verstorbenen Zalewski. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. |
582 |
Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. |
583 |
Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schräg durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy glühte wie ein Rubin. |
584 |
Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Den Beinamen hatte sie, weil sie so unverwüstlich war. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen. |
585 |
Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Das ging, trotz ihres Berufes, weil nebenan ein kleiner Verschlag war. |
586 |
Wenn sie dann mit einem Kavalier abends ankam, ließ sie ihn unter irgendeinem Vorwand einen Augenblick draußen warten, ging rasch voran, schob den Kinderwagen in den Verschlag, schloss die Tür und ließ den Kavalier eintreten. |
587 |
Aber im Dezember musste die Kleine zu oft aus dem warmen Zimmer in den ungeheizten Verschlag. So kam es, dass sie sich erkältete und oft weinte, wenn gerade jemand da war. Rosa musste sich von ihr trennen, so schwer es ihr auch wurde. Sie gab sie in ein teures Kinderheim. |
588 |
Ich saß noch eine Weile. Aber ich hatte nicht die richtige schläfrige Ruhe wie sonst, wenn das International so eine Art Sonntagsheimat für mich war. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann. |
589 |
Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. |
590 |
Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schliff. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. |
591 |
Ich schlenderte nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wusste ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Unschlüssig wanderte ich umher. Ich verstand jetzt nicht mehr, weshalb ich eigentlich hierher gewollt hatte. Schließlich ging ich über den Korridor, um Georgie zu besuchen. |
592 |
Ich hielt mich nicht lange bei Georgie auf. Nach einer Viertelstunde ging ich zurück. Ich überlegte, ob ich etwas trinken wollte. Aber ich wollte nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf die Straße. Die Dämmerung wehte mit Fledermausflügeln über den Friedhof. |
593 |
Der Himmel hinter dem Gewerkschaftshause war grün wie ein unreifer Apfel. Draußen brannten schon die Laternen; aber es war noch nicht dunkel genug – sie sahen aus, als frören sie. Ich kramte unter meinen Büchern nach dem Zettel mit der Telefonnummer. |
594 |
Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Während ich auf Antwort wartete, fühlte ich, wie eine weiche Welle, eine leichte Erwartung aus der schwarzen Muschel sich hob. Das Mädchen war da. |
595 |
Als ihre dunkle, etwas raue Stimme geisterhaft plötzlich in Frau Zalewskis Vorzimmer zwischen Wildschweinsköpfen, Fettgeruch und Küchengeklirr sprach, leise und etwas langsam, als dächte sie vor jedem Worte nach, verschwand auf einmal meine Unzufriedenheit. |
596 |
Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so stumpf. Verrückt, dachte ich und schüttelte den Kopf. Dann hob ich noch einmal den Hörer auf und rief Köster an. |
597 |
Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die nächtliche Stadt. Die Straßen waren hell und leer. Die Firmenschilder leuchteten. In den Schaufenstern brannte zwecklos das Licht. In einem standen nackte Wachspuppen mit gemalten Köpfen. Sie sahen gespenstisch und pervers aus. |
598 |
Daneben glitzerte Schmuck. Dann kam ein Warenhaus, weiß bestrahlt wie eine Kathedrale. Die Fenster schäumten über von bunter, glänzender Seide. Vor einem Kino hockten blasse, verhungerte Gestalten. Neben ihnen glänzte die Auslage eines Lebensmittelgeschäftes. |
599 |
Wir setzten uns auf eine Bank in der Nähe der Anlagen. Es war kühl. Der Mond stand wie eine Bogenlampe über den Häusern. Es war schon weit nach Mitternacht. In der Nähe hatten Arbeiter auf dem Fahrdamm ein Zelt aufgerichtet. Sie arbeiteten an den Straßenbahnschienen. |
600 |
Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfasst hatte. |
601 |
Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte. Köster erklärte, wenn Jupp aus einem Flugzeug fiele, könnte ihm nichts geschehen. Er käme durch die Ohren in sanftem Gleitflug zur Erde. |
602 |
Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. |
603 |
Wir standen glänzend mit ihm. Als Ingenieur war er zwar ein scharfer Satan, der nichts durchgehen ließ, aber als Schmetterlingsfachmann war er weich wie Butter. Er hatte eine große Sammlung, und wir hatten ihm einmal einen dicken Schwärmer geschenkt, der nachts in unsere Werkstatt geflogen war. |
604 |
Es war ein Totenkopf, eine unerhörte Seltenheit, die ihm in seiner Sammlung noch gefehlt hatte. Er vergaß uns das nie und besorgte uns seitdem Reparaturen, wo es ging. Wir fingen ihm dafür jede Motte, die wir erwischen konnten. |
605 |
Es gab Makkaroni mit Schinken und geriebenem Parmesankäse. Emil futterte wie ein Scheunendrescher. Nur manchmal setzte er ab und blickte zur Mutter hinüber, als fürchte er, sie könne ihm, so kurz vor dem Abschied, seinen Appetit übel nehmen. |
606 |
Hier sind hundertvierzig Mark. Ein Hundertmarkschein und zwei Zwanzigmarkscheine. Hundertzwanzig Mark gibst du der Großmutter und sagst ihr, sie solle nicht böse sein, dass ich voriges Mal nichts geschickt hätte. Da wäre ich zu knapp gewesen. |
607 |
Und dafür brächtest du es diesmal selber. Verstanden? Die zwanzig Mark, die übrig bleiben, behältst du. Davon kaufst du dir die Fahrkarte, wenn du wieder heimfährst. Das macht ungefähr zehn Mark. Genau weiß ich's nicht. |
608 |
Und von dem Rest bezahlst du, wenn ihr ausgeht, was du isst und trinkst. Außerdem ist es immer gut, wenn man ein paar Mark in der Tasche hat, die man nicht braucht und für alle Fälle parat hält. Ja. Und hier ist das Kuvert von Tante Marthas Brief. Da stecke ich das Geld hinein. |
609 |
Emil war geradezu beleidigt. Ihm so eine Dummheit zuzutrauen! Frau Tischbein tat noch etwas Geld in ihr Portemonnaie. Dann trug sie den Blechkasten wieder zum Schrank und las rasch noch einmal den Brief, den sie von ihrer Schwester aus Berlin erhalten hatte. |
610 |
Andere Kinder sind traurig, weil sie keinen guten Anzug haben. So hat jeder seine Sorgen... Ehe ich's vergesse: heute Abend lässt du dir von Tante Martha einen Kleiderbügel geben und hängst den Anzug ordentlich auf. Vorher wird er mir aber ausgebürstet. |
611 |
Vergiss es nicht! Und morgen kannst du schon wieder deinen Pullover, dieses Räuberjackett, anziehen. Sonst noch was? Der Koffer ist gepackt. Die Blumen für die Tante sind eingewickelt. Das Geld für Großmutter gebe ich dir nachher. Und nun wollen wir essen. |
612 |
Aber, falls ihr es nicht wissen solltet: Die meisten Leute verdienen viel, viel weniger. Und wer pro Woche fünfunddreißig Mark verdient, der muss, ob es euch gefällt oder nicht, hundertvierzig Mark, die er gespart hat, für sehr viel Geld halten. |
613 |
Für zahllose Menschen sind hundert Mark fast so viel wie eine Million, und sie schreiben hundert Mark sozusagen mit sechs Nullen. Und wie viel eine Million in Wirklichkeit ist, das können sie nicht einmal vorstellen, wenn sie träumen. |
614 |
Emil hatte keinen Vater mehr. Doch seine Mutter hatte zu tun, frisierte in ihrer Stube, wusch blonde Köpfe und braune Köpfe und arbeitete unermüdlich, damit sie zu essen hatten und die Gasrechnung, die Kohlen, die Miete, die Kleidung, die Bücher und das Schulgeld bezahlen konnten. |
615 |
Nur manchmal war sie krank und lag zu Bett. Der Doktor kam und verschrieb Medikamente. Und Emil machte der Mutter heiße Umschläge und kochte in der Küche für sie und sich. Und wenn sie schlief, wischte er sogar die Fußböden mit dem nassen Scheuerlappen. |
616 |
Könnt ihr es begreifen und werdet ihr nicht lachen, wenn ich euch jetzt erzähle, dass Emil ein Musterknabe war? Seht, er hatte seine Mutter sehr lieb. Und er hätte sich zu Tode geschämt, wenn er faul gewesen wäre, während sie arbeitete, rechnete und wieder arbeitete. |
617 |
Da hätte er seine Schularbeiten verbummeln oder von Naumanns Richard abschreiben sollen? Da hätte er, wenn es sich machen ließ, die Schule schwänzen sollen? Er sah, wie sie sich bemühte, ihn nichts von dem entbehren zu lassen, was die andern Realschüler bekamen und besaßen. |
618 |
Aber er war keiner von der Sorte, die nichts anders kann, weil sie feig ist und geizig und nicht richtig jung. Er war ein Musterknabe, weil er einer sein wollte! Er hatte sich dazu entschlossen, wie man sich etwa dazu entschließt, nicht mehr ins Kino zu gehen oder keine Bonbons mehr zu essen. |
619 |
Er liebte das Lob, das er in der Schule und überall erhielt, nicht deshalb, weil es ihm, sondern weil es seiner Mutter Freude machte. Er war stolz darauf, dass er ihr, auf seine Weise, ein bisschen vergelten konnte, was sie für ihn, ihr ganzes Leben lang, ohne müde zu werden, tat. |
620 |
Also, die Pferdebahn ist, zunächst mal, ein tolles Ding. Ferner, sie läuft auf Schienen, wie eine richtige erwachsene Straßenbahn und hat ganz ähnliche Wagen, aber es ist eben doch nur ein Droschkengaul vorgespannt. |
621 |
Bis jetzt konnte also von Elektrizität gar keine Rede sein, und der Wagenführer hatte nicht das Geringste mit irgendwelchen Kurbeln und Hebeln zu tun, sondern er hielt in der linken Hand die Zügel und in der rechten die Peitsche. |
622 |
Und wenn jemand in der Rathausstraße 12 wohnte, und er saß in der Pferdebahn und wollte aussteigen, so klopfte er ganz einfach an die Scheibe. Dann machte der Herr Schaffner "Brrr!" und der Fahrgast war zu Hause. |
623 |
Das war der Polizeiwachtmeister Jeschke. Die Mutter antwortete: "Nein, mein Junge fährt für eine Woche nach Berlin zu Verwandten." Und Emil wurde es dunkelblau, beinahe schwarz vor Augen. Denn er hatte ein sehr schlechtes Gewissen. |
624 |
Neulich hatte ein Dutzend Realschüler, nach der Turnstunde auf den Flusswiesen, dem Denkmal des Großherzogs, der Karl mit der schiefen Backe hieß, heimlich einen alten Filzhut aufs kühle Haupt gedrückt. |
625 |
Und dann war Emil, weil er gut zeichnen konnte, von den anderen hochgestemmt worden, und er hatte dem Großherzog mit Buntstiften eine rote Nase und einen pechschwarzen Schnurrbart ins Gesicht malen müssen. |
626 |
Dann kam der Personenzug nach Berlin, mit Heulen und Zischen, und hielt. Emil fiel der Mutter noch ein bisschen um den Hals. Dann kletterte er mit seinem Koffer in ein Abteil. Die Mutter reichte ihm die Blumen und das Stullenpaket nach und fragte, ob er Platz hätte. Er nickte. |
627 |
So wäre es wahrscheinlich noch stundenlang fortgegangen, wenn es nicht den Eisenbahnfahrplan gegeben hätte. Der Zugführer mit dem roten Ledertäschchen rief: "Alles einsteigen! Alles einsteigen!" Die Wagentüren klappten. Die Lokomotive ruckte an. Und fort ging's. |
628 |
Dann drehte sie sich langsam um und ging nach Hause. Und weil sie das Taschentuch sowieso schon in der Hand hielt, weinte sie gleich ein bisschen. Aber nicht lange. Denn zu Hause wartete schon Frau Fleischermeister Augustin und wollte gründlich den Kopf gewaschen haben. |
629 |
Dass es Leute gibt, die immer sagen: Gott, früher war alles besser, das wusste Emil längst. Und er hörte überhaupt nicht mehr hin, wenn jemand erklärte, früher sei die Luft gesünder gewesen, oder die Ochsen hätten größere Köpfe gehabt. |
630 |
Er tastete die rechte Jackentasche ab und gab erst Ruhe, als er das Kuvert knistern hörte. Die Mitreisenden sahen so weit ganz vertrauenerweckend und nicht gerade wie Räuber und Mörder aus. Neben dem schrecklich schnaufenden Mann saß eine Frau, die an einem Schal häkelte. |
631 |
Und wenn man kein Geld hat, geht man auf die Bank und lässt sein Gehirn als Pfand dort, und da kriegt man tausend Mark. Der Mensch kann nämlich nur zwei Tage ohne Gehirn leben; und er kriegt es von der Bank erst wieder, wenn er zwölfhundert Mark zurückzahlt. |
632 |
Emil lachte gezwungen. Und zwischen den Herren kam es zu einer längeren Auseinandersetzung. Emil dachte: Ihr könnt mich gern haben! und packte seine Wurststullen aus, obwohl er eben erst Mittag gegessen hatte. |
633 |
Als er die dritte Stulle kauerte, hielt der Zug auf einem großen Bahnhof. Emil sah kein Stationsschild, und er verstand auch nicht, was der Schaffner vor dem Fenster brüllte. Fast alle Fahrgäste stiegen aus: der schnaufende Mann, die häkelnde Dame und auch Frau Jakob. |
634 |
Und dann waren er und der Herr mit dem steifen Hut allein. Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und verrückte Geschichten erzählt, ist nichts Genaues. Emil wollte, zur Abwechslung, wieder einmal nach dem Kuvert fassen. |
635 |
Er wagte es aber nicht, sondern ging, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, holte dort das Kuvert aus der Tasche, zählte das Geld - es stimmte immer noch - und war ratlos, was er machen sollte. Endlich kam ihm ein Gedanke. |
636 |
Er nahm eine Nadel, die er im Jackettkragen fand, steckte sie erst durch die drei Scheine, dann durch das Kuvert und schließlich durch das Anzugfutter durch. Er nagelte sozusagen sein Geld fest. So, dachte er, nun kann nichts mehr passieren. |
637 |
Herr Grundeis hatte es sich in einer Ecke gemütlich gemacht und schlief. Emil war froh, dass er sich nicht zu unterhalten brauchte, und blickte durchs Fenster. Bäume, Windmühlen, Felder, Fabriken, Kuhherden zogen draußen vorbei. |
638 |
Warum der Mann nur immer den Hut aufbehielt? Und ein längliches Gesicht hatte er, einen ganz schmalen schwarzen Schnurrbart und hundert Falten um den Mund, und die Ohren waren sehr dünn und standen weit ab. |
639 |
Wenn doch wenigstens noch irgendjemand zugestiegen wäre! Der Zug hielt ein paarmal, aber es kam kein Mensch. Dabei war es erst vier Uhr, und Emil hatte noch über zwei Stunden zu fahren. Er kniff sich in die Beine. In der Schule half das immer, wenn Herr Bremser Geschichte gab. |
640 |
Er versuchte es mit Knopfzählen. Er zählte von oben nach unten und dann noch einmal von unten nach oben. Von oben nach unten waren es dreiundzwanzig Knöpfe. Und von unten nach oben vierundzwanzig. Emil lehnte sich zurück und überlegte, woran das wohl liegen könnte. |
641 |
Plötzlich war es Emil, als führe der Zug immer im Kreise herum, wie die kleinen Eisenbahnen tun, mit denen die Kinder im Zimmer spielen. Er sah zum Fenster hinaus und fand das sehr seltsam. Der Kreis wurde immer enger. Die Lokomotive kam dem letzten Wagen immer näher. |
642 |
Und es schien, als täte sie das mit Absicht! Der Zug drehte sich um sich selber wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißen will. Und in dem schwarzen rasenden Kreise standen Bäume und eine Mühle aus Glas und ein großes Haus mit zweihundert Stockwerken. |
643 |
Es ist bei Lebensgefahr verboten, auf den Fußboden zu spucken. Er blickte wieder aus dem Fenster. Die Lokomotive kam dem letzten Wagen immer näher. Und er hatte große Angst. Denn wenn die Lokomotive gegen den letzten Wagen fuhr, gab es natürlich ein Zugunglück. |
644 |
Nirgends saß jemand. Der Zug war leer. Nur einen einzigen Mann sah Emil, der hatte einen steifen Hut aus Schokolade auf, brach ein großes Stück von der Hutkrempe ab und verschlang es. Emil pochte an die Scheibe und zeigte nach der Lokomotive. |
645 |
Endlich war Emil am Kohlentender. Dann kletterte er, mit einem tüchtigen Klimmzug, zum Lokomotivführer hinauf. Der hockte auf einem Kutschbock, schwang die Peitsche und hielt Zügel, als seien Pferde vor den Zug gespannt. |
646 |
Da hielt es Emil nicht länger aus und sprang aus dem Zug. Er schlug zwanzig Purzelbäume den Abhang hinunter, aber es schadete ihm nichts. Er stand auf und hielt nach dem Zug Umschau. Der stand still, und die neun Pferde drehten die Köpfe nach Emil um. |
647 |
Emil überlegte nicht lange, sondern rannte, was er konnte, davon. Über eine Wiese, an vielen Bäumen vorbei, durch einen Bach, dem Wolkenkratzer zu. Manchmal sah er sich um; der Zug donnerte hinter ihm her, ohne abzulassen. Die Bäume wurden über den Haufen gerannt und zersplitterten. |
648 |
Er rannte hinein und hindurch und am andern Ende wieder hinaus. Der Zug kam hinter ihm her. Emil hätte sich am liebsten in eine Ecke gesetzt und geschlafen, denn er war so schrecklich müde und zitterte am ganzen Leibe. Aber er durfte nicht einschlafen! Der Zug ratterte schon durchs Haus. |
649 |
Emil sah eine Eisenleiter. Die ging am Hause hoch, bis zum Dach. Und er begann zu klettern. Zum Glück war er ein guter Turner. Während er kletterte, zählte er die Stockwerke. In der 50. Etage wagte er es, sich umzudrehen. |
650 |
Die Bäume waren ganz klein geworden, und die gläserne Mühle war kaum noch zu erkennen. Aber, o Schreck! die Eisenbahn kam das Haus hinauf gefahren! Emil kletterte weiter und immer höher. Und der Zug stampfte und knatterte die Leitersprossen empor, als wären es Schienen. |
651 |
Emil stand auf dem Dach und wusste nicht mehr, was er beginnen sollte. Schon war das Wiehern der Pferde zu hören. Da lief der Junge über das Dach hin bis zum anderen Ende, zog sein Taschentuch aus dem Anzug und breitete es aus. |
652 |
Und als die Pferde schwitzend über den Dachrand krochen und der Zug hinterher, hob Emil sein ausgebreitetes Taschentuch hoch über den Kopf und sprang ins Leere. Er hörte noch, wie der Zug die Schornsteine über den Haufen fuhr. Dann verging ihm für eine Weile Hören und Sehen. |
653 |
Erst blieb er müde liegen, mit geschlossenen Augen, und hatte eigentlich Lust, einen schönen Traum zu träumen. Doch weil er noch nicht ganz beruhigt war, blickte er an dem großen Hause hinauf und sah, wie die zwölf Pferde oben auf dem Dach Regenschirme aufspannten. |
654 |
Und der Wachtmeister Jeschke hatte auch einen Schirm und trieb damit die Pferde an. Sie setzten sich auf die Hinterbeine, gaben sich einen Ruck und sprangen in die Tiefe. Und nun segelte die Eisenbahn auf die Wiese herab und wurde immer größer und größer. |
655 |
Emil sprang wieder auf und rannte quer über die Wiese auf die gläserne Mühle los. Sie war durchsichtig, und er sah seine Mutter drinnen, wie sie gerade Frau Augustin die Haare wusch. Gott sei Dank, dachte er, und rannte durch die Hintertür in die Mühle. |
656 |
Emils Mutter drückte am Tisch einen Hebel herunter, und da begannen sich die vier Mühlenflügel zu drehen, und weil sie aus Glas waren und weil die Sonne schien, schimmerten und glänzten sie so sehr, dass man überhaupt kaum hinblicken konnte. |
657 |
Und als die zwölf Pferde mit ihrer Eisenbahn angerannt kamen, wurden sie scheu, bäumten sich hoch auf und wollten keinen Schritt weiter. Wachtmeister Jeschke fluchte, dass man es durch die gläsernen Wände hörte. Aber die Pferde wichen nicht von der Stelle. |
658 |
Als er aufwachte, setzte sich die Bahn eben wieder in Bewegung. Er war, während er schlief, von der Bank gefallen, lag jetzt am Boden und war sehr erschrocken. Er wusste nur noch nicht recht, weswegen. |
659 |
Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer. Da hockte er nun in der Eisenbahn und hatte fast vergessen, wo er war. Dann fiel es ihm, portionsweise, wieder ein. Richtig, er fuhr nach Berlin. Und war eingeschlafen. Genau wie der Herr im steifen Hut. |
660 |
Emil setzte sich mit einem Ruck bolzengerade und flüsterte: "Er ist ja fort!" Die Knie zitterten ihm. Ganz langsam stand er auf und klopfte sich mechanisch den Anzug sauber. Jetzt war die nächste Frage: Ist das Geld noch da? Und vor dieser Frage hatte er eine unbeschreibliche Angst. |
661 |
Lange Zeit stand er an die Tür gelehnt und wagte nicht, sich zu rühren. Dort drüben hatte der Mann, der Grundeis hieß, gesessen und geschlafen und geschnarcht. Und nun war er fort. Natürlich konnte alles in Ordnung sein. |
662 |
Denn eigentlich war es albern, gleich ans Schlimmste zu denken. Es mussten ja nun nicht gleich alle Menschen nach Berlin-Friedrichstraße fahren, nur weil er hinfuhr. Und das Geld war gewiss noch an Ort und Stelle. |
663 |
Erstens steckte es in der Tasche. Zweitens steckte es im Briefumschlag. Und drittens war es mit einer Nadel am Futter befestigt. Also, er griff sich langsam in die rechte innere Tasche. Die Tasche war leer! Das Geld war fort. |
664 |
Emil durchwühlte die Tasche mit der linken Hand. Er befühlte und presste das Jackett von außen mit der rechten. Es blieb dabei: die Tasche war leer, und das Geld war weg. Emil zog die Hand aus der Tasche. Und nicht bloß die Hand, sondern die Nadel dazu, mit der er das Geld vorhin durchbohrt hatte. |
665 |
Er wickelte das Taschentuch um den Finger und weinte. Natürlich nicht wegen des lächerlichen bisschen Bluts. Vor vierzehn Tagen war er gegen den Laternenpfahl gerannt, dass der bald umgeknickt wäre, und Emil hatte noch jetzt einen Buckel auf der Stirn. Aber geheult hatte er keine Sekunde. |
666 |
Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, und wäre er noch so tapfer, dem ist nicht zu helfen. Emil wusste, wie seine Mutter monatelang geschuftet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. |
667 |
Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und zu guter Letzt raubte er sie aus. |
668 |
In Schnellzügen konnte man wenigstens durch die Wagen laufen, von einem Ende des Zuges zum andern, bis ins Dienstabteil, und Diebstähle melden. Aber hier! In so einem Bummelzug! Da musste man bis zur nächsten Station warten, und inzwischen war der Mensch im steifen Hut über alle Berge. |
669 |
Nicht einmal die Station, wo der Kerl ausgestiegen war, wusste Emil. Wie spät mochte es sein? Wann kam Berlin? An den Fenstern des Zuges wanderten große Häuser vorbei und Villen mit bunten Gärten und dann wieder hohe schmutzigrote Schornsteine. |
670 |
Auch das noch. Jetzt kriegte er es auch noch mit der Polizei zu tun. Nun konnte Wachtmeister Jeschke natürlich nicht mehr schweigen, sondern musste dienstlich melden: Ich weiß nicht, aber der Realschüler Emil Tischbein aus Neustadt gefällt mir nicht. |
671 |
Erst schmiert er ehrwürdige Denkmäler voll. Und dann lässt er sich hundertvierzig Mark stehlen. Vielleicht sind sie ihm gar nicht gestohlen worden? Wer Denkmäler beschmiert, der lügt auch. Da habe ich meine Erfahrungen. |
672 |
Wahrscheinlich hat er das Geld im Walde vergraben oder verschluckt und will damit nach Amerika? Den Dieb zu verfolgen hat nicht den mindesten Sinn. Der Realschüler Tischbein ist selber der Dieb. Bitte, Herr Polizeipräsident, verhaften Sie ihn. Schrecklich. |
673 |
Das stand fest. Inzwischen verlangsamte der Zug seine Geschwindigkeit. Emil sah draußen viele Gleise glänzen. Dann fuhr man an Bahnsteigen vorbei. Ein paar Gepäckträger liefen, weil sie was verdienen wollten, neben den Wagen her. |
674 |
Da erblickte er, in einiger Entfernung und zwischen vielen Menschen, einen steifen schwarzen Hut. Wenn das der Dieb war? Vielleicht war er, nachdem er Emil bestohlen hatte, gar nicht ausgestiegen, sondern nur in einen anderen Wagen gegangen. |
675 |
Im nächsten Augenblick stand Emil auf dem Bahnsteig, setzte den Koffer hin, stieg noch einmal ein, weil er die Blumen, die im Gepäcknetz lagen, vergessen hatte, stieg wieder aus, packte den Koffer kräftig an, hob ihn hoch und rannte, so sehr er konnte, dem Ausgang zu. |
676 |
Am liebsten wäre er auf den Kerl losgerannt, hätte sich vor ihm aufpostiert und gerufen: Her mit dem Geld! Doch der sah nicht so aus, als würde er dann antworten: aber gern, mein gutes Kind. Hier hast du's. Ich will es bestimmt nicht wieder tun. Ganz so einfach lag die Sache nicht. |
677 |
Emil versteckte sich hinter einer großen, breiten Dame, die vor ihm ging, und guckte manchmal links und manchmal rechts an ihr vorbei, ob der andere noch zu sehen war und nicht plötzlich im Dauerlauf davonrannte. |
678 |
Der Mann war mittlerweile am Bahnhofsportal angelangt, blieb stehen, blickte sich um und musterte die Leute, die hinter ihm drängten, als suche er wen. Emil presste sich ganz dicht an die große Dame und kam dem andern immer näher. |
679 |
Da drehte der Mann seinen Kopf glücklicherweise wieder weg und trat ins Freie. Der Junge sprang blitzrasch hinter die Tür, stellte seinen Koffer nieder und blickte durch die vergitterte Scheibe. Alle Wetter, tat ihm der Arm weh. |
680 |
Der Dieb ging langsam über die Straße, sah noch einmal rückwärts und spazierte ziemlich beruhigt weiter. Dann kam eine Straßenbahn, mit der Nummer 177, von links angefahren und hielt. Der Mann überlegte einen Augenblick, stieg auf den Vorderwagen und setzte sich an einen Fensterplatz. |
681 |
Emil packte wieder seinen Koffer an, lief geduckt an der Tür vorbei, die Halle entlang, fand eine andere Tür, rannte auf die Straße und erreichte, von hinten her, den Anhängewagen gerade, als die Bahn losfuhr. |
682 |
So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. |
683 |
Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin. Emil hätte sich gern alles in größter Ruhe betrachtet. Aber er hatte keine Zeit dazu. Im vorderen Wagen saß ein Mann, der hatte Emils Geld, konnte jeden Augenblick aussteigen und im Gedränge verschwinden. |
684 |
Da hielt die Straßenbahn zum ersten Mal. Emil ließ den Triebwagen nicht aus den Augen. Doch es stieg niemand aus. Nur viele neue Fahrgäste drängten in die Bahn. Auch an Emil vorbei. Ein Herr zankte, weil der Junge den Kopf herausstreckte und im Wege war. |
685 |
Emil stellte sich wieder in seine Ecke, wurde gedrückt und auf die Füße getreten und dachte erschrocken: Ich habe ja kein Geld! Wenn der Schaffner herauskommt, muss ich einen Fahrschein lösen. Und wenn ich es nicht kann, schmeißt er mich 'raus. Und dann kann ich mich gleich begraben lassen. |
686 |
Er sah sich die Leute an, die neben ihm standen. Konnte er einen von ihnen am Mantel zupfen und sagen: Borgen Sie mir doch, bitte, das Fahrgeld? Ach, die Menschen hatten so ernste Gesichter! Der Eine las Zeitung. Zwei andere unterhielten sich über einen großen Bankeinbruch. |
687 |
Ganz genau so wird es mir gehen, dachte Emil traurig. Ich werde sagen, Herr Grundeis hat mir hundertvierzig Mark gestohlen. Und niemand wird es mir glauben. Und der Dieb wird sagen, das sei eine Frechheit von mir, und es wären nur drei Mark fünfzig gewesen. So eine verdammte Geschichte. |
688 |
Und die Straßenbahn fuhr. Und sie hielt. Und sie fuhr weiter. Emil las den Namen der schönen breiten Straße. Kaiserallee hieß sie. Er fuhr und wusste nicht, wohin. Im andern Wagen saß ein Dieb. Und vielleicht saßen und standen noch andere Diebe in der Bahn. |
689 |
Niemand kümmerte sich um ihn. Ein fremder Herr hatte ihm zwar einen Fahrschein geschenkt. Doch nun las er schon wieder Zeitung. Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wusste, wo er aussteigen sollte. |
690 |
Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des andern etwas wissen. Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen und Freuden genug zu tun. |
691 |
Und wenn man sagt: Das tut mir aber wirklich leid, so meint man meistens gar nichts weiter als: Mensch, lass mich bloß in Ruhe! Was würde werden? Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein. |
692 |
Sie hatten sich am Blumenkiosk, wie es ausgemacht war, aufgestellt und blickten dauernd nach der Uhr. Viele Leute kamen vorüber. Mit Koffern und Kisten und Schachteln und Ledertaschen und Blumensträußen. Doch Emil war nicht dabei. |
693 |
Pony Hütchen nahm natürlich ihr Rad mit. "Können Sie mir nicht erklären, wo der Zug aus Neustadt bleibt, Herr Inspektor?" fragte sie den Beamten, der mit einer Lochzange an der Sperre stand und Obacht gab, dass jeder, der an ihm vorbei wollte, ein Billett mitbrachte. |
694 |
Jetzt hieß es wieder einmal vorsichtig sein. Wie ein Detektiv, der Flöhe fängt. Emil orientierte sich flink, entdeckte an der Ecke einen Zeitungskiosk und lief, so rasch er konnte, dahinter. Das Versteck war ausgezeichnet. Es lag zwischen dem Kiosk und einer Litfaßsäule. |
695 |
Der Mann hatte sich auf die Terrasse gesetzt, dicht ans Geländer, rauchte eine Zigarette und schien seelenvergnügt. Emil fand es abscheulich, dass ein Dieb überhaupt vergnügt sein kann und dass der Bestohlene betrübt sein muss, und wusste sich keinen Rat. |
696 |
Wenn der Kerl jetzt aufstand, konnte die Rennerei weitergehen. Blieb er aber, dann konnte Emil hinter dem Kiosk stehen, bis er einen langen grauen Bart kriegte. Es fehlte wirklich nur noch, dass ein Schupomann angerückt kam und sagte: Mein Sohn, du machst dich verdächtig. |
697 |
Er behielt den Dieb scharf im Auge, der sich's - wahrscheinlich noch dazu von Mutters Erspartem - gut schmecken ließ, und hatte nur eine Angst: dass der Lump dort aufstehen und fortlaufen könne. Dann waren Gustav und die Hupe und alles umsonst. |
698 |
Aber Herr Grundeis tat ihm den Gefallen und blieb. Wenn er freilich von der Verschwörung etwas geahnt hätte, die sich über ihm wie ein Sack zusammen zog, dann hätte er sich mindestens ein Flugzeug bestellt. Denn nun wurde die Sache langsam brenzlich. |
699 |
Er drehte sich um und sah, wie mindestens zwei Dutzend Jungen, Gustav allen voran, die Trautenstraße heraufmarschiert kamen. Sie setzten sich auf die zwei weißen Bänke, die in den Anlagen stehen, und auf das niedrige eiserne Gitter, das den Rasen einzäunt, und zogen ernste Gesichter. |
700 |
Liebe Großmutter! Sicher habt Ihr Sorge, wo ich bin. Ich bin in Berlin. Kann aber leider noch nicht kommen, weil ich vorher was Wichtiges erledigen muss. Fragt nicht was. Und ängstigt Euch nicht. Wenn alles geordnet ist, komm' ich und freu' mich schon jetzt. |
701 |
Dann schob der kleine Dienstag mit Traugott, dem mürrischen Verbindungsmann, ab und wünschte den Detektiven Hals- und Beinbruch. Der Professor rief ihm noch nach, er möge doch für ihn zu Hause anrufen und dem Vater sagen, er, der Professor, habe was Dringendes vor. |
702 |
Es sind noch eine Mark und fünfzig Pfennige. Hier, Gerold, nimm und zähle nach! Proviant ist da. Geld haben wir. Die Telefonnummer weiß jeder. Noch eins, wer nach Hause muss, saust ab! Aber mindestens fünf Leute müssen da bleiben. Wir werden inzwischen unser Möglichstes tun. |
703 |
Der Dieb stand, auf der anderen Seite der Straße, vor dem Cafe Josty und betrachtete sich die Gegend, als wäre er in der Schweiz. Dann kaufte er einem Zeitungsverkäufer ein Abendblatt ab und begann zu lesen. |
704 |
Sie standen hinter dem Kiosk, drängten die Köpfe an der Wand vorbei und zitterten vor Spannung. Der Dieb nahm darauf nicht die mindeste Rücksicht, sondern blätterte mit bewundernswerter Ausdauer in seiner Zeitung. |
705 |
Der Mann im steifen Hut faltete die Zeitung wieder zusammen, musterte die Vorübergehenden, winkte dann, blitzartig, einer leeren Autodroschke, die an ihm vorbeifuhr. Das Auto hielt, der Mann stieg ein, das Auto fuhr weiter. |
706 |
Tatsächlich hielten beide Wagen und warteten hintereinander, bis das grüne Licht wieder aufleuchtete und die Durchfahrt freigab. Aber niemand konnte merken, dass die zweite Autodroschke besetzt war. Sie schien leer. |
707 |
Dann stiegen die anderen Jungen aus. Emil zahlte. Es kostete eine Mark. Der Professor führte seine Leute rasch durch das eine Tor, das an einem Lichtspieltheater vorbei in einen großen Hof führt, der sich hinter dem Kino und dem Theater am Nollendorfplatz ausbreitet. |
708 |
Wir haben ihnen natürlich nichts erzählt. Ich habe bloß Bleuer noch vors Haus gebracht und bin ein bisschen mit ihm ausgekratzt. Aber ich muss gleich wieder nach Haus. Sonst alarmieren sie das Überfallkommando. |
709 |
Der Professor und Emil traten vors Tor und erzählten sich von ihren Lehrern. Dann erklärte der Professor dem andern die verschiedenen in- und ausländischen Automarken, die vorbeifuhren, bis Emil ein bisschen Bescheid wusste. Und dann aßen sie gemeinsam eine Stulle. |
710 |
Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hochbahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder vollführten ein tolles Konzert. Im Cafe Woerz wurde Tanzmusik gespielt. |
711 |
Und wenn sie mir erlaubt, mit Prötzsch aus der ersten Etage bis neun Uhr abends in die Heide zu gehen, bin ich gegen sieben wieder zurück. Weil ich nicht will, dass sie allein in der Küche sitzt und Abendbrot isst. |
712 |
Dabei verlangt sie unbedingt, dass ich mit den andern bleiben soll. Ich hab's ja auch versucht. Aber da macht mir das Vergnügen gar kein Vergnügen mehr. Und im Grunde freut sie sich ja doch, dass ich früh heimkomme. |
713 |
Man verabschiedete sich. Alle schüttelten sich, wie kleine ernste Männer, die Hände. Die einen marschierten heim. Gustav und Emil zogen ins Hotel. Der Professor ging quer über den Nollendorfplatz, um vom Cafe Hahnen aus den kleinen Dienstag anzurufen. |
714 |
Und als Herr Grundeis, am nächsten Morgen, während er sich die Haare kämmte, hinuntersah, fiel ihm auf, dass sich zahllose Kinder herumtrieben. Mindestens zwei Dutzend Jungen spielten gegenüber, vor den Anlagen, Fußball. |
715 |
Inzwischen hielt der Professor im Kinohofe eine Funktionärversammlung ab und schimpfte wie ein Rohrspatz: Da zerbricht man sich Tag und Nacht den Schädel, wie man den Mann erwischen kann, und ihr Hornochsen mobilisiert unterdessen ganz Berlin. |
716 |
So plauderten sie und waren denkbar guter Laune. Die Jungen benahmen sich äußerst aufmerksam. Der Professor hielt Ponys Rad. Krummbiegel ging, die Thermosflasche und die Tasse auszuspülen. Mittenzwey senior faltete das Brötchenpapier fein säuberlich zusammen. |
717 |
Emil schnallte den Korb wieder an die Lenkstange. Gerold prüfte, ob noch Luft im Radreifen wäre. Und Pony Hütchen hüpfte im Hof umher, sang sich ein Lied und erzählte zwischendurch alles Mögliche. "Halt!" rief sie plötzlich und blieb auf einem Beine stehen. |
718 |
Der Mann im steifen Hut wurde sichtlich nervös. Er ahnte dunkel, was ihm bevorstünde, und stiefelte mit Riesenschritten. Aber es war umsonst. Er entging seinen Feinden nicht. Plötzlich blieb er wie angenagelt stehen, drehte sich um und lief die Straße, die er gekommen war, wieder zurück. |
719 |
Herr Grundeis dachte nicht daran zu rufen, im Gegenteil. Ihm wurde die Geschichte immer unheimlicher. Er bekam förmlich Angst und wusste nicht mehr, wohin. Schon sahen Leute aus allen Fenstern. Schon rannten die Ladenfräuleins mit ihren Kunden vor die Geschäfte und fragten, was los wäre. |
720 |
Und dann kam auch schon ein Schupo im Dauerlauf daher, den Pony Hütchen mit ihrem kleinen Rade geholt hatte. Und der Bankvorsteher forderte ihn ernst auf, den Mann, der sowohl Grundeis wie auch Müller hieße, festzunehmen. Denn er sei, wahrscheinlich, ein Eisenbahndieb. |
721 |
Der Zug marschierte zur nächsten Polizeiwache. Der Schupo meldete einem Wachtmeister, was geschehen sei. Emil ergänzte den Bericht. Dann musste er sagen, wann und wo er geboren wurde, wie er heiße und wo er wohne. Und der Wachtmeister schrieb alles auf. Mit Tinte. |
722 |
Wenige Minuten später kam das Kriminalauto. Und Herr Grundeis-Müller-Kießling musste einsteigen. Der Wachtmeister gab einem Schupo, der im Wagen saß, den schriftlichen Bericht und die hundertvierzig Mark. |
723 |
Die Stecknadel auch. Und dann gondelte die Grüne Minna fort. Die Kinder, die auf der Straße standen, schrien hinter dem Dieb her. Aber der rührte sich nicht. Wahrscheinlich war er zu stolz, weil er in einem Privatauto fahren durfte. |
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Emil gab dem Wachtmeister die Hand und bedankte sich. Dann teilte der Professor den Kindern, die vor der Wache gewartet hatten, mit, das Geld erhalte Emil am Alex und die Jagd wäre erledigt. Da zogen die Kinder, in großen Trupps, wieder heim. |
725 |
Nur die engeren Bekannten brachten Emil zum Hotel und zum Bahnhof Nollendorfplatz. Und er bat sie, am Nachmittag den kleinen Dienstag anzurufen. Der würde dann wissen, wie alles verlaufen wäre. Und er hoffe sehr, sie noch einmal zu sehen, ehe er nach Neustadt zurückführe. |
726 |
Und dann fuhren die drei zum Alexanderplatz ins Polizeipräsidium, mussten durch viele Korridore laufen und an unzähligen Zimmern vorbei. Und schließlich fanden sie den Kriminalwachtmeister Lurje. Der frühstückte gerade. Emil meldete sich. |
727 |
Dann verfrachtete Herr Kästner Emil, Gustav und den Professor in einem Auto und fuhr mit ihnen erst mal in eine Konditorei. Unterwegs hupte Gustav. Und sie freuten sich, als Herr Kästner erschrak. In der Konditorei waren die Jungen sehr fidel. |
728 |
Sie aßen Kirschtorte mit viel Schlagsahne und erzählten, was ihnen gerade einfiel: von dem Kriegsrat am Nikolsburger Platz, von der Autojagd, von der Nacht im Hotel, von Gustav als Liftboy, von dem Skandal in der Bank. |
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Ihr gegenüber las ein Herr Zeitung. Frau Tischbein blickte nervös aus einer Ecke in die andere, zählte die Telegrafenmasten, die vorm Fenster vorbeizogen, und wäre am liebsten hinter den Zug gerannt, um zu schieben. |
730 |
Und dann folgte ein ausführlich spannender Bericht über Emils Erlebnisse vom Bahnhof in Neustadt bis ins Berliner Polizeipräsidium. Frau Tischbein wurde richtig blass. Und die Zeitung raschelte, als wäre es windig. |
731 |
Und dabei waren die Fenster verschlossen. Der Herr konnte es kaum erwarten, dass sie den Artikel zu Ende las. Doch der war sehr lang und füllte fast die ganze erste Seite aus. Und mittendrin saß Emils Bild. |
732 |
Gegen Abend verabschiedeten sich die Jungen. Und Emil musste ihnen hoch und heilig versprechen, am nächsten Nachmittag mit Pony Hütchen zum Professor zu kommen. Dann lief Onkel Heimbold ein, und es wurde gegessen. |
733 |
Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. |
734 |
Warum diese Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, obgleich der Parallelismus derselben mit der spekulativen das erstere zu erfordern scheint, darüber gibt diese Abhandlung hinreichenden Aufschluss. |
735 |
Wenn es ihr hiermit gelingt, so bedarf sie das reine Vermögen selbst nicht zu kritisieren, um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem solchen, als einer bloßen Anmaßung, nicht übersteige (wie es wohl mit der spekulativen geschieht). |
736 |
Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus, und alle anderen Begriffe. |
737 |
Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. |
738 |
Folglich kann und muss ihre Möglichkeit in dieser praktischen Beziehung angenommen werden, ohne sie doch theoretisch zu erkennen und einzusehen. Für die letztere Forderung ist in praktischer Absicht genug, dass sie keine innere Unmöglichkeit (Widerspruch) enthalten. |
739 |
Es wäre allerdings befriedigender für unsere spekulative Vernunft, ohne diesen Umschweif jene Aufgaben für sich aufzulösen, und sie als Einsicht zum praktischen Gebrauche aufzubewahren; allein es ist einmal mit unserem Vermögen der Spekulation nicht so gut bestellt. |
740 |
Diejenigen, welche sich solcher hohen Erkenntnisse rühmen, sollten damit nicht zurückhalten, sondern sie öffentlich zur Prüfung und Hochschätzung darstellen. Sie wollen beweisen; wohlan! so mögen sie denn beweisen, und die Kritik legt ihnen, als Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füßen. |
741 |
Ein solcher Übergang macht aber eine Vergleichung des älteren mit dem neuern Gebrauche notwendig, um das neue Gleis von dem vorigen wohl zu unterscheiden und zugleich den Zusammenhang derselben bemerken zu lassen. |
742 |
Neue Worte zu künsteln, wo die Sprache schon so an Ausdrücken für gegebene Begriffe keinen Mangel hat, ist eine kindische Bemühung, sich unter der Menge, wenn nicht durch neue und wahre Gedanken, doch durch einen neuen Lappen auf dem alten Kleide auszuzeichnen. |
743 |
Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, dass es überall gar kein Erkenntnis a priori gebe, noch geben könne. Allein es hat hiermit keine Not. |
744 |
Indessen, da es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt, so wird doch die Einteilung einer Kritik der praktischen Vernunft, dem allgemeinen Abrisse nach, der der spekulativen gemäß angeordnet werden müssen. |
745 |
Wir werden also eine Elementarlehre und Methodenlehre derselben, in jener, als dem ersten Teile, eine Analytik, als Regel der Wahrheit, und eine Dialektik, als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft haben müssen. |
746 |
Lehrsatz 1: Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben. |
747 |
Wenn die Begierde nach diesem Gegenstande nun vor der praktischen Regel vorhergeht, und die Bedingung ist, sie sich zum Prinzip zu machen, so sage ich (erstlich): dieses Prinzip ist alsdann jederzeit empirisch. |
748 |
Denn der Bestimmungsgrund der Willkür ist alsdann die Vorstellung eines Objekts, und dasjenige Verhältnis derselben zum Subjekt, wodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben bestimmt wird. |
749 |
Man muss sich wundern, wie sonst scharfsinnige Männer einen Unterschied zwischen dem unteren und oberen Begehrungsvermögen darin zu finden glauben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen, oder dem Verstande ihren Ursprung haben. |
750 |
Beruht die Willensbestimmung auf dem Gefühle der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die er aus irgend einer Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche Vorstellungsart er affiziert werde. |
751 |
Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei es auf Island, sei es auf Java zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. |
752 |
Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt. Und Stechlin heißt ebenso das langgestreckte Dorf, das sich, den Windungen des Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht. |
753 |
Etwa hundert Häuser und Hütten bilden hier eine lange, schmale Gasse, die sich nur da, wo eine von Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee die Gasse durchschneidet, platzartig erweitert. An ebendieser Stelle findet sich denn auch die ganze Herrlichkeit von Dorf Stechlin zusammen. |
754 |
Neben diesem Kirchhof samt Kirche setzt sich dann die von Kloster Wutz her heranführende Kastanienallee noch eine kleine Strecke weiter fort, bis sie vor einer über einen sumpfigen Graben sich hinziehenden und von zwei riesigen Findlingsblöcken flankierten Bohlenbrücke haltmacht. |
755 |
Etliche hundert Jahre zurück stand hier ein wirkliches Schloss, ein Backsteinbau mit dicken Rundtürmen, aus welcher Zeit her auch noch der Graben stammt, der die von ihm durchschnittene, sich in den See hinein erstreckende Landzunge zu einer kleinen Insel machte. |
756 |
Er hörte gern eine freie Meinung, je drastischer und extremer, desto besser. Dass sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Paradoxen waren seine Passion. |
757 |
Dieser sein Eintritt ins Regiment fiel so ziemlich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. zusammen, und wenn er dessen erwähnte, so hob er, sich selbst persiflierend, gerne hervor, dass alles Große seine Begleiterscheinungen habe. |
758 |
Seine Jahre bei den Kürassieren waren im wesentlichen Friedensjahre gewesen; nur anno vierundsechzig war er mit in Schleswig, aber auch hier, ohne zur Aktion zu kommen. Es kommt für einen Märkischen nur darauf an, überhaupt mit dabei gewesen zu sein; das andre steht in Gottes Hand. |
759 |
Wenig mehr als ein Jahr vor Ausbruch des vierundsechziger Kriegs war ihm ein Sohn geboren worden, und kaum wieder in seine Garnison Brandenburg eingerückt, nahm er den Abschied, um sich auf sein seit dem Tode des Vaters halb verödetes Schloss Stechlin zurückzuziehen. |
760 |
Hier warteten seiner glückliche Tage, seine glücklichsten, aber sie waren von kurzer Dauer - schon das Jahr darauf starb ihm die Frau. Sich eine neue zu nehmen, widerstand ihm, halb aus Ordnungssinn und halb aus ästhetischer Rücksicht. |
761 |
Dubslav von Stechlin blieb also Witwer. Das ging nun schon an die dreißig Jahre. Anfangs war es ihm schwer geworden, aber jetzt lag alles hinter ihm, und er lebte comme philosophe nach dem Wort und Vorbild des großen Königs, zu dem er jederzeit bewundernd aufblickte. |
762 |
Das war sein Mann, mehr als irgendwer, der sich seitdem einen Namen gemacht hatte. Das zeigte sich jedesmal, wenn ihm gesagt wurde, dass er einen Bismarckkopf habe. Nun ja, ja, den hab ich; ich soll ihm sogar ähnlich sehen. |
763 |
Gott, Isidor, ich weiß, du bist fürs Neue. Aber was ist das Neue? Das Neue versammelt sich immer auf unserm Markt, und mal stürmt es uns den Laden und nimmt uns die Hüte, Stück für Stück, und die Reiherfedern und die Straußenfedern. |
764 |
Preußen war was und die Mark Brandenburg auch; aber das Wichtigste waren doch die Stechlins, und der Gedanke, das alte Schloss in andern Besitz und nun gar in einen solchen übergehen zu sehen, war ihr unerträglich. |
765 |
Das war Engelke, sein alter Diener, der seit beinahe fünfzig Jahren alles mit seinem Herrn durchlebt hatte, seine glücklichen Leutnantstage, seine kurze Ehe und seine lange Einsamkeit. Engelke, noch um ein Jahr älter als sein Herr, war dessen Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. |
766 |
Dubslav verstand es, die Scheidewand zu ziehen. Übrigens wär' es auch ohne diese Kunst gegangen. Denn Engelke war einer von den guten Menschen, die nicht aus Berechnung oder Klugheit, sondern von Natur hingebend und demütig sind und in einem treuen Dienen ihr Genüge finden. |
767 |
Dubslav, sonst empfindlich gegen Zug, hatte die Türen aufmachen lassen, und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftstrom bis auf die mit weiß und schwarzen Fliesen gedeckte Veranda hinaus. |
768 |
Eine große, etwas schadhafte Markise war hier herabgelassen und gab Schutz gegen die Sonne, deren Lichter durch die schadhaften Stellen hindurchschienen und auf den Fliesen ein Schattenspiel aufführten. |
769 |
Rechts daneben lief ein sogenannter Poetensteig, an dessen Ausgang ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zusammengezimmerter Aussichtsturm aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen. |
770 |
Engelke hatte vor kurzen einen roten Streifen annähen wollen, war aber mit seinem Vorschlag nicht durchgedrungen. Lass. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes dran nähst, dann reißt es gewiss. |
771 |
Nur die Vereinigung der väterlichen und der ärztlichen Autorität in einer Person, das Zusammentreffen des zärtlichen Interesses mit dem wissenschaftlichen bei derselben, haben es in diesem einen Falle ermöglicht, von der Methode eine Anwendung zu machen, zu welcher sie sonst ungeeignet gewesen wäre. |
772 |
In solcher Absicht pflege ich meine Schüler und Freunde seit Jahren anzueifern, dass sie Beobachtungen über das zumeist geschickt übersehene oder absichtlich verleugnete Sexualleben der Kinder sammeln mögen. |
773 |
Ich gebe nun die Aufzeichnungen des Vaters über den kleinen Hans wieder, wie sie mir zugetragen wurden, und werde mich selbstverständlich jedes Versuches enthalten, Naivität und Aufrichtigkeit der Kinderstube durch konventionelle Entstellungen zu stören. |
774 |
Die Tiere verdanken ein gutes Stück der Bedeutung, die sie im Mythus und im Märchen haben, der Offenheit, mit der sie dem kleinen, wissbegierigen Menschenkinde ihre Genitalien und ihre sexuellen Funktionen zeigen. |
775 |
Nach einer Weile setzt er nachdenklich hinzu: Ein Hund und ein Pferd hat einen Wiwimacher; ein Tisch und ein Sessel nicht. So hat er ein wesentliches Kennzeichen für die Unterscheidung des Lebenden vom Leblosen gewonnen. |
776 |
Alle seine Aussprüche zeigen, dass er das Ungewöhnliche der Situation mit der Ankunft des Storches in Zusammenhang bringt. Er macht zu allem, was er sieht, eine sehr misstrauische, gespannte Miene, und zweifellos hat sich das erste Misstrauen gegen den Storch bei ihm festgesetzt. |
777 |
Hans war im Sommer 1906 in Gmunden, wo er sich den Tag über mit den Hausherrnkindern herumtrieb. Als wir von Gmunden abreisten, glaubten wir, dass ihm der Abschied und die Übersiedlung in die Stadt schwerfallen würden. |
778 |
Dies war überraschenderweise nicht der Fall. Er freute sich offenbar über die Abwechslung und erzählte durch mehrere Wochen sehr wenig von Gmunden. Erst nach Ablauf von Wochen stiegen öfter lebhaft gefärbte Erinnerungen an die in Gmunden verbrachte Zeit in ihm auf. |
779 |
Seit etwa 4 Wochen verarbeitet er diese Erinnerungen zu Phantasien. Er phantasiert, dass er mit den Kindern Berta, Olga und Fritzl spielt, spricht mit ihnen, als ob sie gegenwärtig wären, und ist imstande, sich stundenlang so zu unterhalten. |
780 |
Jeder Forscher ist in Gefahr, gelegentlich dem Irrtume zu verfallen. Ein Trost bleibt es, wenn er, wie unser Hans im nächsten Beispiele, nicht allein irrt, sondern sich zur Entschuldigung auf den Sprachgebrauch berufen kann. |
781 |
Ein etwa gleichzeitiger Traum unseres Hans kontrastiert recht auffällig mit der Dreistigkeit, die er gegen die Mutter gezeigt hat. Es ist der erste durch Entstellung unkenntliche Traum des Kindes. Dem Scharfsinne des Vaters ist es aber gelungen, ihm die Lösung abzugewinnen. |
782 |
Die Antwort ist natürlich eine falsche. Der Wiwimacher kam ihm eben komisch vor. Es ist übrigens das erste Mal, dass er den Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Genitale in solcher Weise anerkennt, anstatt ihn zu verleugnen. |
783 |
Ich sende Ihnen wieder ein Stückchen Hans, diesmal leider Beiträge zu einer Krankengeschichte. Wie Sie daraus lesen, hat sich bei ihm in den letzten Tagen eine nervöse Störung entwickelt, die mich und meine Frau sehr beunruhigt, weil wir kein Mittel zu ihrer Beseitigung finden konnten. |
784 |
Am 7. Jänner geht er mit dem Kindermädchen wie gewöhnlich in den Stadtpark, fängt auf der Straße an zu weinen und verlangt, dass man mit ihm nach Hause gehe, er wolle mit der Mammi schmeicheln. Zu Hause befragt, weshalb er nicht weiter gehen wollte und geweint hat, will er es nicht sagen. |
785 |
Am 8. Jänner will die Frau selbst mit ihm spazierengehen, um zu sehen, was mit ihm los ist, und zwar nach Schönbrunn, wohin er sehr gerne geht. Er fängt wieder an zu weinen, will nicht weggehen, fürchtet sich. Schließlich geht er doch, hat aber auf der Straße sichtlich Angst. |
786 |
Die Störung setzt mit ängstlich-zärtlichen Gedanken und dann mit einem Angsttraum ein. Inhalt des letzteren: Die Mutter zu verlieren, so dass er mit ihr nicht schmeicheln kann. Die Zärtlichkeit für die Mutter muss sich also enorm gesteigert haben. |
787 |
Dies das Grundphänomen des Zustandes. Erinnern wir uns noch zur Bestätigung der beiden Verführungsversuche, die er gegen die Mutter unternimmt, von denen der erste noch in den Sommer fällt, der zweite, knapp vor dem Ausbruche der Straßenangst, einfach eine Empfehlung seines Genitales enthält. |
788 |
Wir wissen noch nicht, woher der Anstoß zur Verdrängung stammt; vielleicht erfolgt sie bloß aus der für das Kind nicht zu bewältigenden Intensität der Regung, vielleicht wirken andere Mächte, die wir noch nicht erkennen, dabei mit. Wir werden es weiterhin erfahren. |
789 |
Er sagt, was er weiß, dass ihm die Mama auf der Straße fehlt, mit der er schmeicheln kann, und dass er nicht von der Mama weg will. Er verrät da in aller Aufrichtigkeit den ersten Sinn seiner Abneigung gegen die Straße. |
790 |
Auch seine, an zwei Abenden hintereinander vor dem Schlafengehen wiederholten, ängstlichen und noch deutlich zärtlich getönten Zustände beweisen, dass zu Beginn der Erkrankung eine Phobie vor der Straße oder dem Spaziergange oder gar vor den Pferden noch gar nicht vorhanden ist. |
791 |
Wahrscheinlich aus jenen noch unbekannten Komplexen, die zur Verdrängung beigetragen haben und die Libido zur Mutter im verdrängten Zustand erhalten. Das ist noch ein Rätsel des Falles, dessen weitere Entwicklung wir nun verfolgen müssen, um die Lösung zu finden. |
792 |
Eine dumme Angstidee eines kleinen Kindes, wird man sagen. Aber die Neurose sagt nichts Dummes, so wenig wie der Traum. Wir schimpfen immer dann, wenn wir nichts verstehen. Das heißt, sich die Aufgabe leicht machen. |
793 |
Vor dieser Versuchung müssen wir uns noch in einem andern Punkte hüten. Hans hat gestanden, dass er sich jede Nacht vor dem Einschlafen zu Lustzwecken mit seinem Penis beschäftigt. Nun, wird der Praktiker gerne sagen, nun ist alles klar. Das Kind masturbiert, daher also die Angst. |
794 |
Ich verabrede mit dem Vater, dass er dem Knaben sagen solle, das mit den Pferden sei eine Dummheit, weiter nichts. Die Wahrheit sei, dass er die Mama so gern habe und von ihr ins Bett genommen werden wolle. |
795 |
Mein Eindruck geht dahin, dass das Bild des kindlichen Sexuallebens, wie es aus der Beobachtung des kleinen Hans hervortritt, in sehr guter Übereinstimmung mit der Schilderung steht, die ich in meiner Sexualtheorie nach psychoanalytischen Untersuchungen an Erwachsenen entworfen habe. |
796 |
Sonderbar; ich weiß mich zu erinnern, als ich mich vor 22 Jahren in den Streit der wissenschaftlichen Meinungen einzumengen begann, mit welchem Spotte damals von der älteren Generation der Neurologen und Psychiater die Aufstellung der Suggestion und ihrer Wirkungen empfangen wurde. |
797 |
Den kleinen Hans schildern seine Eltern als ein heiteres, aufrichtiges Kind, und so dürfte er auch durch die Erziehung geworden sein, die ihm die Eltern schenkten, die wesentlich in der Unterlassung unserer gebräuchlichen Erziehungssünden bestand. |
798 |
Solange er in fröhlicher Naivität seine Forschungen pflegen konnte, ohne Ahnung der aus ihnen bald erwachsenden Konflikte, teilte er sich auch rückhaltlos mit, und die Beobachtungen aus der Zeit vor seiner Phobie unterliegen auch keinem Zweifel und keiner Beanstandung. |
799 |
Das schwächt die Beweiskraft der Analyse; aber in jeder verfährt man so. Eine Psychoanalyse ist eben keine tendenzlose, wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein therapeutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas ändern. |
800 |
Jedesmal gibt der Arzt in der Psychoanalyse dem Patienten die bewussten Erwartungsvorstellungen, mit deren Hilfe er imstande sein soll, das Unbewusste zu erkennen und zu erfassen, das eine Mal in reichlicherem, das andere in bescheidenerem Ausmaße. |
801 |
Ich muss hier das Geständnis ablegen, dass ich dem Vater die Erwartung dieses Zusammenhanges völlig verschwiegen habe, aus theoretischem Interesse, um nur die Beweiskraft eines sonst schwer erreichbaren Beleges nicht verkümmern zu lassen. |
802 |
Bei weiterer Vertiefung in das Detail der Analyse würden sich noch reichlich neue Beweise für die Unabhängigkeit unseres Hans von der Suggestion ergeben, aber ich breche hier die Behandlung des ersten Einwandes ab. |
803 |
In seinem Verhältnisse zu Vater und Mutter bestätigt Hans aufs grellste und greifbarste alles, was ich in der Traumdeutung und in der Sexualtheorie über die Sexualbeziehungen der Kinder zu den Eltern behauptet habe. |
804 |
Unser Hans ist aber wahrlich kein Bösewicht, nicht einmal ein Kind, bei welchem die grausamen und gewalttätigen Neigungen der menschlichen Natur um diese Zeit des Lebens noch ungehemmt entfaltet sind. |
805 |
In der sieghaften Schlußphantasie zieht er dann die Summe aller seiner erotischen Wunschregungen, der aus der autoerotischen Phase stammenden und der mit der Objektliebe zusammenhängenden. Er ist mit der schönen Mutter verheiratet und hat ungezählte Kinder, die er nach seiner Weise pflegen kann. |
806 |
Wir waren bestrebt, dir die Arbeitsgrundsätze mitzuteilen (wir wollen sie nicht ins Detail ausarbeiten) und überlassen es dir selbst, sie anzuwenden. Bist du ein wahrer Schüler, dann wirst du fähig sein, die Grundsätze auszuarbeiten und anzuwenden. |
807 |
Von seiner Geheimlehre haben alle Nationen geborgt. Indien, Persien, Chaldäa, Medea, China, Japan, Assyrien, das alte Griechenland und Rom und andere alte Länder nahmen an dem Fest der Wissenschaften teil, welches die Hierophanten und Meister aus dem Lande der Isis freigebig bereiteten. |
808 |
Die ägyptischen Meister ließen freilich nur solche daran teilnehmen, die dazu vorbereitet waren, von den großen Schätzen an mystischem und okkultem Wissen zu genießen, von diesen Schätzen, welche die Meister dieses alten Landes gesammelt hatten. |
809 |
Ihre Tempeltore wurden von den Neophyten betreten, die dann als Hierophanten, Adepten und Meister an alle vier Enden der Welt reisten und das kostbare Wissen mit sich trugen, das sie gerne an Würdige weitergeben wollten. |
810 |
Alle Schüler des Okkultismus anerkennen es, dass sie tief in der Schuld dieser ehrwürdigen Meister des alten Ägypten stehen. Einmal aber weilte unter diesen großen Meistern des alten Ägypten einer, von dem sie als dem Meister der Meister sprachen. |
811 |
Die größten Autoritäten sehen ihn als einen Zeitgenossen Abrahams an und manche jüdische Traditionen gehen so weit, zu behaupten, dass Abraham einen Teil seines mystischen Wissens von Hermes erhalten habe. |
812 |
Als die Jahre nach seinem Scheiden von diesem Daseinsplan vergingen (die Überlieferung erzählt, dass er dreihundert Jahre im Körper lebte), vergötterten die Ägypter Hermes und machten ihn unter dem Namen Thoth zu einem ihrer Götter, und nannten ihn Hermes, den Gott der Weisheit. |
813 |
Beide Sätze aber wurden schon Jahrhunderte vor der christlichen Zeit im alten Ägypten angewendet. Und diese Politik der Vorsicht in der Verbreitung der Wahrheit hat die Hermetiker zu allen Zeiten charakterisiert, auch noch in unseren Tagen. |
814 |
Dies ist deshalb so, weil die alten Lehrer immer davor warnten, die Geheimlehre in einem Glaubensbekenntnis erstarren zu lassen. Für jeden Geschichtsforscher ist die Weisheit dieser Vorsicht offenkundig. |
815 |
Ebenso war es im alten Griechenland und Rom. So war es auch mit den hermetischen Lehren der Gnostiker und der ersten Christen; sie gingen zur Zeit Konstantins verloren. Konstantin erstickte die Philosophie durch die Theologie. |
816 |
Aber es hat immer einige treue Seelen gegeben, welche das Licht erhielten, es sorglich pflegten und nicht verlöschen ließen. Dank diesen starken Herzen, diesen furchtlosen Geistern besitzen wir noch heute die Wahrheit. Diese Wahrheit ist jedoch nur selten in Büchern zu finden. |
817 |
Die genaue Bedeutung dieses Wortes ist seit Jahrhunderten verloren gegangen. Diese Lehren jedoch sind vielen bekannt, denen sie im Lauf der Jahrhunderte mündlich überliefert worden sind. So viel wir wissen, sind Kybalions Regeln niemals niedergeschrieben oder gedruckt worden. |
818 |
Das Kybalion war nur eine Sammlung von Maximen, Axiomen und Regeln, die jedem Außenstehenden unverständlich waren, sie wurden aber von den Schülern wohl verstanden, nachdem all die Axiome, Maxime und Regeln den Neophyten von den Eingeweihten erklärt und erläutert worden waren. |
819 |
Diese Lehren bildeten tatsächlich die Grundlagen für die "Kunst der hermetischen Alchimie" welche - im Gegensatz zu den allgemeinen Ansichten - in der Bemeisterung der mentalen Kräfte bestand, viel mehr als in der Beherrschung der materiellen Elemente. |
820 |
Wir teilen euch in diesem Buch viele von den Maximen, Axiomen und Regeln aus dem Kybalion mit und versehen sie mit Erklärungen und erläuternden Beispielen, da wir glauben, dass diese das Verständnis erleichtern werden. |
821 |
Der Originaltext ist für den modernen Schüler schwer verständlich, da er von dunklen Ausdrücken absichtlich verschleiert ist. Die originalen Maxime, Axiome und Regeln aus dem Kybalion erscheinen unter Anführungszeichen und sind im Text eingerückt, unsere eigenen Worte sind normal gedruckt. |
822 |
Das Verständnis dieses großen hermetischen Prinzips befähigt das Individuum, die Gesetze des mentalen Universums zu erfassen und zu seinem Nutzen und Fortschritt anzuwenden. Der hermetische Schüler kann die großen mentalen Gesetze intelligent anwenden, statt sie zufällig zu benützen. |
823 |
Vor langen Jahren schrieb ein alter hermetischer Meister: "Wer die Wahrheit von der mentalen Natur des Universums erfasst hat, ist wohl vorgeschritten auf dem Pfade der Meisterschaft." Und diese Worte sind heute ebenso wahr wie zu der Zeit, da sie niedergeschrieben wurden. |
824 |
Er ist ein kleiner, korpulenter Mann mit einem strohigen Schnurrbart und staubigen, gestreiften Hosen, die durch Radfahrklammern unten zusammengehalten werden. Mit leichter Missbilligung streifen seine Augen Georg und mich. |
825 |
Er ist unverwüstlich. Mit dem Morgengrauen zieht er jeden Tag zum Bahnhof und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten Dörfer, wenn unsere Agenten, die Totengräber oder Lehrer, eine Leiche gemeldet haben. |
826 |
Er ist nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswürdig; deshalb hält er sie durch fleißige Früh- und Dämmerschoppen auf der Höhe. Bauern haben kleine Dicke lieber als verhungert aussehende Dünne. Dazu kommt sein Anzug. |
827 |
Es war ein glücklicher Verzicht; auch Napoleon hätte lächerlich in einem Schwalbenschwanz ausgesehen. So, in der heutigen Aufmachung, wirkt Heinrich Kroll wie ein kleiner Empfangschef des lieben Gottes - und das ist genau, wie es sein soll. |
828 |
Heinrich legt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Es ist draußen ziemlich kühl, und er schwitzt nicht; er tut es nur, um uns zu zeigen, was für ein Schwerarbeiter er gegen uns Schreibtischwanzen ist. |
829 |
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komödie aufführe. Lisa ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die gern ein paar Millionen zahlen würden, um jeden Morgen einen solchen Anblick zu genießen. |
830 |
Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich, weil diese faule Kröte, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer Wirkung so unverschämt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, dass nicht jeder sofort mit ihr schlafen möchte. |
831 |
Dabei ist ihr das im Grunde ziemlich gleichgültig. Sie steht am Fenster mit ihrer schwarzen Ponyfrisur und ihrer frechen Nase und schwenkt ein Paar Brüste aus erstklassigem Carrara-Marmor herum wie eine Tante vor einem Säugling eine Spielzeugklapper. |
832 |
Georg und ich wechseln einen Blick. Wir wissen, dass wir Heinrich von Riesenfeld fernhalten werden, selbst wenn wir ihn besoffen machen oder ihm Rizinusöl in seinen Sonntagsfrühschoppen mischen müssen. |
833 |
Der treue, altmodische Geschäftsmann würde Riesenfeld zu Tode langweilen mit Kriegserinnerungen und Geschichten aus der guten alten Zeit, als eine Mark noch eine Mark und die Treue das Mark der Ehre war, wie unser geliebter Feldmarschall so treffend geäußert hat. |
834 |
Heinrich hält große Stücke auf solche Plattitüden; Riesenfeld nicht. Riesenfeld hält Treue für das, was man von anderen verlangt, wenn es nachteilig für sie ist - und von sich selbst, wenn man Vorteile davon hat. |
835 |
Die Konkurrenz starb fast vor Neid, als wir mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts als einfache Lagerphotographien, und auch Heinrich fand die Idee damals großartig, besonders die Anwendung des Blattgoldes. |
836 |
Das war nicht ohne Berechtigung - der Mann hatte mich stark geschunden und mich im Felde zweimal auf Patrouillen geschickt, von denen ich nur durch Zufall lebendig zurückgekommen war. Da konnte man ihm schon allerhand wünschen. |
837 |
Wir fühlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht. Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz für unsere Denkmäler. Da stehen sie, angeführt wie eine Kompanie von einem dünnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tür seinen Posten hat. |
838 |
Hinter ihm kommen zuerst die billigen kleinen Hügelsteine aus Sandstein und gegossenem Zement, die Grabsteine für die Armen, die brav und anständig gelebt und geschuftet haben und dadurch natürlich zu nichts gekommen sind. |
839 |
Wir verkaufen mehr davon als von den ganz einfachen, und man weiß nicht, ob man diesen verspäteten Ehrgeiz der Hinterbliebenen rührend oder absurd finden soll. Das nächste sind die Hügelsteine aus Sandstein mit eingelassenen Platten aus Marmor, grauem Syenit oder schwarzem schwedischem Granit. |
840 |
Sie ist plötzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und hässlich, und sie lächelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel schimmert ungewiss im Zwielicht. |
841 |
Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nähe des großen Saales für die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Esszimmer; Bücherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar Stühle und Sessel und ein runder Tisch. |
842 |
Ich gehe nach der Andacht mit Isabelle in der Allee spazieren. Es regnet hier unregelmäßiger - als hockten Schatten in den Bäumen, die sich mit Wasser besprengen. Isabelle trägt einen hochgeschlossenen dunklen Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. |
843 |
Isabelle geht dicht neben mir, ich höre ihre Schritte durch den Regen und spüre ihre Bewegungen und ihre Wärme, und es scheint die einzige Wärme zu sein, die in der Welt übriggeblieben ist. Sie bleibt plötzlich stehen. Ihr Gesicht ist blass und entschlossen. |
844 |
Ich habe es erfahren, denke ich. Wie oft habe ich den Tag verlassen müssen, und die Stunde, und das Dasein, und den Baum im Morgenlicht, und meine Hände, und meine Gedanken, und es war jedesmal für immer, und wenn ich zurückkam, war ich ein anderer. |
845 |
Man kann viel verlassen und muss stets alles hinter sich lassen, wenn man dem Tode entgegentreten muss, man ist immer nackt vor ihm, und wenn man zurückfindet, muss man alles neu erwerben, was man zurückgelassen hat. |
846 |
Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfängt uns ein Sprühregen, den der Wind in kurzen Stößen wie einen nassen Schleier umherfegt. Isabelle drückt sich an mich. Ich blicke den Hügel hinunter zur Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. |
847 |
Isabelle geht neben mir, als gehörte sie für immer zu mir und als hätte sie kein Gewicht, und es scheint mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden und Träumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im täglichen Dasein. |
848 |
Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und das Leder beiseitegeschoben worden, und überall, wo es geht, sind Stühle und ein paar Sessel verteilt. Ein Fass Bier ist aufgelegt, und ein paar Flaschen Schnaps sind schon leer. |
849 |
Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die Bundesbrüder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt ein Glas Bier und einen doppelten Steinhäger Schnaps auf das Klavier. |
850 |
Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt Karl an die Wand, setzt ihn in der Höhe eines menschlichen Gesäßes an und schlägt ihn zu einem Drittel ein. Er schlägt weniger stark, als seine Gebärden es vermuten lassen. |
851 |
Sie ist eine imposante Figur mit dem Kopf eines Bullenbeißers, aber eines eher hübschen Bullenbeißers. Sie hat reiches, krauses schwarzes Haar und glänzende Kirschenaugen - der Rest ist bullenbeißerisch besonders das Kinn. |
852 |
Der Körper ist mächtig und völlig aus Eisen. Ein Paar steinharter Brüste ragt wie ein Bollwerk hervor, dann kommt eine im Verhältnis zierliche Taille und dann das berühmte Gesäß, um das es hier geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. |
853 |
Selbst einem Schmied soll es angeblich unmöglich sein, hineinzukneifen, wenn Frau Beckmann es anspannt; er bricht sich eher die Finger. Karl Brill hat auch damit schon Wetten gewonnen, allerdings nur im intimsten Freundeskreise. |
854 |
Ich breche den Marsch ab und beginne zwei tiefe Triller, die klingen sollen wie die Trommeln beim Todessprung im Zirkus Busch. Frau Beckmann strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich noch zweimal Karl Brill wird nervös. |
855 |
Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht vergessen können. Angefeuert durch eine Anzahl Schnäpse hat er Karl Brill ein dreifaches Angebot gemacht: fünf Millionen für einen Nachmittag mit Frau Beckmann. |
856 |
Die Tür öffnet sich. Der Dicke erscheint; waagerecht vornübergebeugt stolpert er herein, hinter ihm, im lachsfarbenen Kimono, Frau Beckmann. Sie hat ihm die Arme nach hinten hochgedreht und stößt ihn in die Werkstatt. Mit einem kräftigen Schubs lässt sie los. |
857 |
Der Dicke fällt vornüber in die Abteilung für Damenschuhe. Frau Beckmann macht eine Bewegung, als stäube sie sich die Hände ab, und geht hinaus. Karl Brill tut einen riesigen Satz. Er zerrt den Dicken hoch. "Meine Arme!" wimmert der verschmähte Liebhaber. |
858 |
Er braucht uns nichts zu erklären. Frau Beckmann ist ein ebenbürtiger Gegner für Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat ihm bereits zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie mit einer Vase oder einem Schüreisen anrichten kann. |
859 |
Es ist noch kein halbes Jahr her, dass zwei Einbrecher von ihr nachts in der Werkstatt überrascht wurden. Beide lagen hinterher wochenlang im Krankenhaus, und einer hat sich nie von einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell über den Schädel erholt, bei dem er gleichzeitig ein Ohr verlor. |
860 |
Der Dicke muss einen fürchterlichen Schlag in die Organe erhalten haben, mit denen er sündigen wollte. Er unfähig zu gehen. Karl kann ihn nicht einmal rauswerfen. Wir legen ihn in den Hintergrund auf das Abfalleder. |
861 |
Knopf stolpert zu seiner Tür hinüber. Ich gehe die Treppen hinauf und beschließe, Isabelle von dem Geld, das ich bei Karl Brill gewonnen habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas gewöhnlich nur Unglück, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. |
862 |
Oskar, der früher mit rohen Zwiebelscheiben gearbeitet hat, bevor er die Trauerhäuser betrat, behauptet jetzt, die Tränen frei wie ein großer Schauspieler erzeugen zu können. Das ist natürlich ein riesiger Fortschritt. |
863 |
Das Bier ist wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die Schädel, und auf einmal ist, trotz allen Weltschmerzes, wieder einer der Augenblicke da, wo man dem Dasein sehr dicht in die grüngoldenen Augen starrt. Ich trinke mein Bier andächtig aus. |
864 |
Still und mit allen Sternen hängt die Nacht über der Stadt. Ich hocke am Fenster meines Zimmers und warte auf Knopf, für den ich die Regenröhre vorbereitet habe. Sie reicht gerade ins Fenster hinein und läuft von da über den Toreingang bis an das Knopfsche Haus. |
865 |
Gestern gab es nur einen Selbstmord, dafür aber zwei Streiks. Die Beamten haben nach langem Verhandeln endlich eine Lohnerhöhung erhalten, die inzwischen bereits so entwertet ist, dass sie jetzt kaum noch einen Liter Milch in der Woche dafür kaufen können. |
866 |
Nächste Woche wahrscheinlich nur noch eine Schachtel Streichhölzer. Die Arbeitslosenziffer ist um weitere hundertfünfzigtausend gestiegen. Unruhen mehren sich im ganzen Reich. Neue Rezepte für die Verwertung von Abfällen in der Küche werden angepriesen. |
867 |
Man erwartet in einigen Monaten einen Bericht darüber. Die Rentner und Invaliden versuchen sich in der Zwischenzeit durch Betteln oder durch Unterstützungen von Bekannten und Verwandten vor dem Verhungern zu schützen. |
868 |
Plötzlich höre ich Knopfs Schritte in der Gasse. Ich sehe auf die Uhr. Es ist halb drei; der Schleifer vieler Generationen unglücklicher Rekruten muss also schwer geladen haben. Ich drehe das Licht ab. Zielbewusst steuert Knopf sofort auf den schwarzen Obelisken zu. |
869 |
Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken. |
870 |
Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke. |
871 |
Sie reißen mir förmlich das Ergebnis jedesmal aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiß nicht was. |
872 |
Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität. Und doch, es tut mir leid, dass alles nicht stimmt. |
873 |
Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt - und sie kommt zweimal am Tage -, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. |
874 |
Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilieren, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden. |
875 |
Sie soll nicht ahnen, auf welche ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den Haufen wirft, und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen braunen Haaren und den zarten Füßen in ihre Eisdiele marschieren, und sie soll viel Trinkgeld bekommen. Ich liebe sie. |
876 |
Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt und die Autos zählen muss, hat mich früh genug gewarnt, und ich habe höllisch aufgepasst, Ich habe gezählt wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. |
877 |
Meine kleine Geliebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben werde ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur transponieren lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. |
878 |
Pferdewagen ist natürlich die Masche. Pferdewagen ist ein Lenz wie nie zuvor. Pferdewagen gibt es höchstens fünfundzwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem Geheim die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz! Pferdewagen wäre herrlich. |
879 |
Zwischen vier und acht dürfen überhaupt keine Pferdewagen über die Brücke, und ich könnte Spazierengehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange anschauen oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine ungezählte Geliebte. |
880 |
Nach den hermetischen Lehren ist das All immanent in seinem Universum und in jedem Teil, Partikel, in jeder Einheit und Verbindung im Universum. Diese Tatsache wird von den Lehrern gewöhnlich durch Bezugnahme auf das Prinzip der Entsprechung erläutert. |
881 |
Ihr gelegentliches Dazwischentreten und ihr gelegentlicher Beistand bei menschlichen Angelegenheiten haben zu den zahlreichen Legenden, Glauben, Religionen und Traditionen vergangener und gegenwärtiger Rassen geführt. |
882 |
Nur jene Menschen, die durch Jahre ihr Mind im Sinne der hermetischen Philosophie geübt haben, ja nur solche, welche aus anderen Inkarnationen früher erworbenes Wissen mitgebracht haben, können verstehen, was unter den Lehren über die spirituellen Pläne gemeint ist. |
883 |
Zum Schluss wollen wir euch noch einmal daran erinnern, dass nach dem Prinzip der Entsprechung, welches die Wahrheit enthält: "Wie oben, so unten, wie unten, so oben", alle sieben hermetischen Prinzipien auf all den zahlreichen physischen, mentalen und spirituellen Plänen in voller Wirksamkeit sind. |
884 |
Das Prinzip von der mentalen Substanz ist natürlich auf alle Pläne anwendbar, weil alle im Mind des Alls gehalten werden. Das Prinzip der Entsprechung manifestiert sich auf allen Plänen, weil zwischen den einzelnen Plänen Übereinstimmung, Harmonie und Entsprechung besteht. |
885 |
Das Prinzip des Rhythmus manifestiert sich auf jedem Plan, da die Bewegung der Phänomene ihre Ebbe und Flut, ihr Steigen und Fallen, ihr Eingehen und Ausgehen hat. Das Prinzip von Ursache und Wirkung manifestiert sich auf jedem Plan, da jede Wirkung ihre Ursache und jede Ursache ihre Wirkung hat. |
886 |
Das Prinzip des Geschlechts manifestiert sich auf jedem Plan, da sich die schöpferische Energie immer manifestiert und nach ihren männlichen und weiblichen Aspekten wirkt. Wie oben, so unten, wie unten, so oben. |
887 |
Dieses Jahrhunderte alte hermetische Axiom enthält eines der größten Prinzipien des Universums. Je weiter wir in unserer Betrachtung der übrigen Prinzipien fortschreiten, desto klarer werden wir die Wahrheit der universellen Natur dieses großen Prinzips der Entsprechung sehen. |
888 |
Dieses hermetische Prinzip wurde von einigen der alten griechischen Philosophen erkannt, welche es in ihr System einbauten. Dann aber verloren es die Denker außerhalb der hermetischen Reihen für Jahrhunderte aus den Augen. |
889 |
Im neunzehnten Jahrhundert aber wurde die Wahrheit von der physikalischen Wissenschaft wieder entdeckt, und die wissenschaftlichen Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts haben neue Beweise für die Richtigkeit und Wahrheit dieser Jahrhunderte alten Lehre geliefert. |
890 |
Die hermetischen Lehren sagen uns, dass nicht nur alles in fortwährender Bewegung und Schwingung ist, sondern dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Manifestationen der universalen Macht nur in den verschiedenen Maßen und Arten der Schwingungen bestehen. |
891 |
Die Planeten drehen sich um die Sonne und viele von ihnen drehen sich um ihre eigene Achse. Die Sonnen bewegen sich um größere Mittelpunkte, von diesen Mittel punkten glaubt man, dass auch sie sich um noch größere bewegen und so weiter, bis ins Unendliche. |
892 |
Die Moleküle, aus denen die einzelnen Arten der Materie zusammengesetzt sind, sind in einem Zustand fortwährender Schwingung und Bewegung umeinander und gegeneinander. Die Moleküle sind aus Atomen zusammengesetzt, welche gleicherweise in einem Zustand andauernder Bewegung und Schwingung sind. |
893 |
Und so ist es auch mit den verschiedenen Formen der Energie. Die Wissenschaft lehrt, dass Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität nur Formen schwingender Bewegung sind, in gewisser Weise mit dem Äther zusammenhängend, wahrscheinlich vom Äther ausgehend. |
894 |
Diese drei Energieformen werden von der Wissenschaft noch nicht verstanden, doch neigen die Fachautoren zu der Ansicht, dass auch sie Manifestationen einer Form von schwingender Energie sind, eine Tatsache, welche von den Hermetikern seit undenklichen Zeiten erkannt und gelehrt wurde. |
895 |
Man kann die Bewegung gut sehen, aber kein Laut von dieser Bewegung erreicht unser Ohr. Die Geschwindigkeit nimmt nach und nach zu. Nach einigen Augenblicken wird die Bewegung so schnell, dass ein tiefes Brummen oder eine tiefe Note hörbar wird. |
896 |
Wenn dann die Geschwindigkeit noch weiter wächst, wird ein der musikalischen Tonleiter angehörender Ton erzeugt. Bei weiterer Steigerung der Geschwindigkeit kann man den nächst folgenden Ton unterscheiden. |
897 |
Kein Laut des sich drehenden Gegenstandes wird gehört, da das Maß der Bewegung so hoch geworden ist, dass das menschliche Ohr die Schwingungen nicht mehr aufnehmen kann. Dann empfinden wir zunehmende Wärme. |
898 |
Nach einiger Zeit erreicht das Auge einen flüchtigen Schimmer des Gegenstandes, der eine trübe, stumpfe rötliche Farbe angenommen hat. Mit wachsender Geschwindigkeit wird das Rot heller und geht später in Orange über. |
899 |
Dann folgen nach und nach die Schattierungen von Grün, Blau, Indigo und schließlich Violett. Die Geschwindigkeit nimmt immer weiter zu. Es vergeht das Violett, alle Farben verschwinden, das menschliche Auge kann sie nicht aufnehmen. |
900 |
Dann beginnen sich besondere, als Röntgenstrahlen bekannte Strahlen zu manifestieren, da sich die Körperbeschaffenheit des Gegenstandes geändert hat. Wenn das zugehörige Schwingungsmaß erreicht ist, werden Elektrizität und Magnetismus ausgesendet. |
901 |
Harte Dinge können weich gemacht werden, stumpfe Dinge werden scharf, heiße Dinge werden kalt. Und so weiter, die Transmutation findet immer nur zwischen den Dingen derselben Art und verschiedenen Graden statt. Nehmen wir den Fall eines furchtsamen Menschen. |
902 |
Der Schüler wird ohne Schwierigkeit erkennen, dass in den mentalen Zuständen ebenso wohl wie bei den Phänomenen des physischen Planes die beiden Pole als positiv beziehungsweise negativ bezeichnet werden können. |
903 |
Vor einiger Zeit machte ich in Gesellschaft eines schweigsamen Freundes und eines jungen, bereits rühmlich bekannten Dichters einen Spaziergang durch eine blühende Sommerlandschaft. Der Dichter bewunderte die Schönheit der Natur um uns, aber ohne sich ihrer zu erfreuen. |
904 |
Ihn störte der Gedanke, dass all diese Schönheit dem Vergehen geweiht war, dass sie im Winter dahingeschwunden sein werde, aber ebenso jede menschliche Schönheit und alles Schöne und Edle, was Menschen geschaffen haben und schaffen könnten. |
905 |
Alles, was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm entwertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es bestimmt war. Wir wissen, dass von solcher Versenkung in die Hinfälligkeit alles Schönen und Vollkommenen zwei verschiedene seelische Regungen ausgehen können. |
906 |
Die eine führt zu dem schmerzlichen Weltüberdruss des jungen Dichters, die andere zur Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit. Nein, es ist unmöglich, dass all diese Herrlichkeiten der Natur und der Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt draußen, wirklich in Nichts zergehen sollten. |
907 |
Es wäre zu unsinnig, und zu frevelhaft daran zu glauben. Sie müssen in irgend einer Weise fortbestehen können, allen zerstörenden Einflüssen entrückt. Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg unseres Wunschlebens, als dass sie auf einen Realitätswert Anspruch erheben könnte. |
908 |
Ich konnte mich weder entschließen, die allgemeine Vergänglichkeit zu bestreiten, noch für das Schöne und Vollkommene eine Ausnahme zu erzwingen. Aber ich bestritt dem pessimistischen Dichter, dass die Vergänglichkeit des Schönen eine Entwertung desselben mit sich bringe. |
909 |
Der Vergänglichkeitswert ist ein Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung in der Möglichkeit des Genusses erhöht dessen Kostbarkeit. Ich erklärte es für unverständlich, wie der Gedanke an die Vergänglichkeit des Schönen uns die Freude an demselben trüben sollte. |
910 |
Was die Schönheit der Natur betrifft, so kommt sie nach jeder Zerstörung durch den Winter im nächsten Jahre wieder, und diese Wiederkehr darf im Verhältnis zu unserer Lebensdauer als eine ewige bezeichnet werden. |
911 |
Ich hielt diese Erwägungen für unanfechtbar, bemerkte aber, dass ich dem Dichter und dem Freunde keinen Eindruck gemacht hatte. Ich schloss aus diesem Misserfolg auf die Einmengung eines starken affektiven Moments, welches ihr Urteil trübte, und glaubte dies auch später gefunden zu haben. |
912 |
Wir sehen nur, dass sich die Libido an ihre Objekte klammert und die verlorenen auch dann nicht aufgeben will, wenn der Ersatz bereit liegt. Das also ist die Trauer. Die Unterhaltung mit dem Dichter fand im Sommer vor dem Krieg statt. |
913 |
Es steht zu hoffen, dass es mit den Verlusten dieses Krieges nicht anders gehen wird. Wenn erst die Trauer überwunden ist, wird es sich zeigen, dass unsere Hochschätzung der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Gebrechlichkeit nicht gelitten hat. |
914 |
Wenn wir jetzt an die Musterung der Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen herangehen, die das Gefühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns zu erwecken vermögen, so ist die Wahl eines glücklichen ersten Beispiels offenbar das nächste Erfordernis. |
915 |
Ohne nun von dieser Ausführung des Autors voll überzeugt zu sein, wollen wir unsere eigene Untersuchung an ihn anknüpfen, weil er uns im Weiteren an einen Dichter mahnt, dem die Erzeugung unheimlicher Wirkungen so gut wie keinem anderen gelungen ist. |
916 |
Der Student Nathaniel, mit dessen Kindheitserinnerungen die phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines Glückes in der Gegenwart die Erinnerungen nicht bannen, die sich ihm an den rätselhaft erschreckenden Tod des geliebten Vaters knüpfen. |
917 |
An gewissen Abenden pflegte die Mutter die Kinder mit der Mahnung zeitig zu Bette zu schicken: Der Sandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedesmal den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen Abend in Anspruch nimmt. |
918 |
Für den weiteren Fortgang dieser Szene macht es der Dichter bereits zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen Knaben oder mit einem Bericht zu tun haben, der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist. |
919 |
Der Vater bittet die Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange Krankheit beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deutung des Sandmannes entscheidet, wird in dieser Phantasie des Kindes den fortwirkenden Einfluss jener Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. |
920 |
Der Gastfreund ist ihm unheimlich geworden. Die Auskunft, die er selbst gibt, dass der allzu Glückliche den Neid der Götter zu fürchten habe, erscheint uns noch undurchsichtig, ihr Sinn ist mythologisch verschleiert. |
921 |
Greifen wir darum ein anderes Beispiel aus weit schlichteren Verhältnissen heraus: In der Krankengeschichte eines Zwangsneurotikers habe ich erzählt, dass dieser Kranke einst einen Aufenthalt in einer Wasserheilanstalt genommen hatte, aus dem er sich eine große Besserung holte. |
922 |
Es erübrigt uns nur noch, die Einsicht, die wir gewonnen haben, an der Erklärung einiger anderer Fälle des Unheimlichen zu erproben. Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt. |
923 |
Wir hätten eigentlich unsere Untersuchung mit diesem, vielleicht stärksten Beispiel von Unheimlichkeit beginnen können, aber wir taten es nicht, weil hier das Unheimliche zu sehr mit dem Grauenhaften vermengt und zum Teil von ihm gedeckt ist. |
924 |
Das Infantile daran, was auch das Seelenleben der Neurotiker beherrscht, ist die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen, ein Zug, welcher sich der Allmacht der Gedanken anschließt. |
925 |
Aber mit dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Unheimlichen nicht gelöst. Unser Satz verträgt offenbar keine Umkehrung. Nicht alles was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich. |
926 |
Ich glaube, es fügt sich ausnahmslos unserem Lösungsversuch, läßt jedesmal die Zurückführung auf altvertrautes Verdrängtes zu. Doch ist auch hier eine wichtige und psychologisch bedeutsame Scheidung des Materials vorzunehmen, die wir am besten an geeigneten Beispielen erkennen werden. |
927 |
Anders verhält es sich mit dem Unheimlichen, das von verdrängten infantilen Komplexen ausgeht, vom Kastrationskomplex, der Mutterleibsphantasie usw., nur dass reale Erlebnisse, welche diese Art von Unheimlichem erwecken, nicht sehr häufig sein können. |
928 |
Der Dichter kann sich auch eine Welt erschaffen haben, die minder phantastisch als die Märchenwelt, sich von der realen doch durch die Aufnahme von höheren geistigen Wesen, Dämonen oder Geistern Verstorbener scheidet. |
929 |
Wir reagieren auf seine Fiktionen so, wie wir auf eigene Erlebnisse reagiert hätten; wenn wir den Betrug merken, ist es zu spät, der Dichter hat seine Absicht bereits erreicht, aber ich muss behaupten, er hat keine reine Wirkung erzielt. |
930 |
Ich sehe voraus, dass es immer so sein wird, wenn Psychoanalyse und Okkultismus zusammenstoßen. Die erstere hat sozusagen alle seelischen Instinkte gegen sich, dem letzteren kommen starke, dunkle Sympathien entgegen. |
931 |
Von diesen und anderen Details der Begebenheit würden wir aber abhängen, wenn wir die Wahrscheinlichkeit eines dem Träumer unbewussten Abschätzens und Erratens zu erwägen hätten. Ich sagte mir auch, es würde nichts nützen, wenn ich auf einige solcher Anfragen Antwort bekäme. |
932 |
Im Laufe des angestrebten Beweisverfahrens würden doch immer neue Zweifel auftauchen, die nur beseitigt werden könnten, wenn man den Mann vor sich hätte und alle die dazugehörigen Erinnerungen bei ihm auffrischen würde, die er vielleicht als unwesentlich beiseite geschoben hat. |
933 |
Wie oft sind Sie in die Lage gekommen, die Anamnese und den Krankheitsbericht, den Ihnen ein beliebiger Neurotiker in der ersten Besprechung gab, mit dem zu vergleichen, was Sie nach einigen Monaten Psychoanalyse von ihm erfahren haben. |
934 |
Von der begreiflichen Verkürzung abgesehen, wieviel wesentliche Mitteilungen hat er ausgelassen oder unterdrückt, wieviel Beziehungen verschoben, im Grunde: wieviel Unrichtiges und Unwahres hat er Ihnen das erste Mal erzählt. |
935 |
Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, sehr kräftig und körperlich gesund, habe außer Masern und Scharlach in der Kindheit eine Nierenentzündung durchgemacht. Im fünften Jahre hatte ich eine sehr schwere Augenentzündung, nach der ein Doppeltsehen zurückblieb. |
936 |
Die Bilder stehen schräg zueinander, die Umrisse des Bildes sind verwischt, weil Narben von Geschwüren die Klarheit beeinträchtigen. Nach fachärztlichem Urteil ist am Auge aber nichts mehr zu ändern oder zu bessern. |
937 |
Ich vermag, durch Übung und Wille, die feinsten Handarbeiten zu machen; ebenso habe ich mir als sechsjähriges Kind das schiefe Sehen vor dem Spiegel weggelernt, so dass heute von dem Augenfehler äußerlich nichts zu sehen ist. |
938 |
Von sechs bis zehn Jahren besuchte ich die Gemeindeschule und dann bis sechzehn Jahre die höhere Schule der Ursulinerinnen in B. Mit zehn Jahren habe ich innerhalb vier Wochen, es waren acht Nachhilfestunden, soviel Französisch nachgeholt, als andere Kinder in zwei Jahren lernen. |
939 |
Ich hatte nur zu repetieren, es war, als ob ich es schon gelernt und nur vergessen hätte. Überhaupt habe ich auch später Französisch nie zu lernen brauchen, im Gegensatz zu Englisch, das mir zwar keine Mühe machte, das mir aber unbekannt war. |
940 |
Lese ich heute ein französisches Werk, dann denke ich auch sofort in Französisch, während mir das bei Englisch nie passiert, trotzdem ich englisch besser beherrsche. Meine Eltern sind Bauersleute, die durch Generationen nie andere Sprachen als deutsch und polnisch gesprochen haben. |
941 |
Nun etwas, was Sinnestäuschung sein soll, Ansichtssache! Ich habe eine Freundin, die sich einen Witwer mit fünf Kindern geheiratet hat, den Mann lernte ich erst durch meine Freundin kennen. In deren Wohnung sehe ich fast jedes Mal, wenn ich bei ihr bin, eine Dame aus und eingehen. |
942 |
Die Annahme lag nahe, dass das die erste Frau des Mannes sei. Ich fragte gelegentlich nach einem Bilde, konnte aber nach der Photographie die Erscheinung nicht identifizieren. Nach sieben Jahren sehe ich bei einem der Kinder ein Bild mit den Zügen der Dame. |
943 |
Es war doch die erste Frau. Auf dem ersten Bilde sah sie bedeutend besser aus, sie hatte gerade eine Mastkur durchgemacht und daher das für eine Lungenkranke veränderte Aussehen. Das sind nur Beispiele von vielen. |
944 |
Um den Stamm der Palme schlingt eine Frau ihren Arm und beugt sich ganz tief ins Wasser, wo ein Mann versucht, an Land zu kommen. Zuletzt legt sie sich auf die Erde, hält sich mit der Linken an der Palme fest und reicht, so weit wie möglich, ihre Rechte dem Manne ins Wasser, ohne ihn zu erreichen. |
945 |
Es ist ein Traum der Rettung aus dem Wasser, also ein typischer Geburtstraum. Die Sprache der Symbolik kennt, wie Sie wissen, keine Grammatik, sie ist das Extrem einer Infinitivsprache, auch das Aktivum und das Passivum werden durch dasselbe Bild dargestellt. |
946 |
Wenn im Traum eine Frau einen Mann aus dem Wasser zieht (oder ziehen will), so kann das heißen, sie will seine Mutter sein (anerkennt ihn als Sohn wie die Pharaotochter den Moses) oder auch: sie will durch ihn Mutter werden, einen Sohn von ihm haben, welcher als sein Ebenbild ihm gleichgesetzt wird. |
947 |
Am Ende dieses offenbar angstvollen Traumes fällt die Träumerin aus dem Bett. Das ist eine neuerliche Darstellung der Niederkunft. Die analytische Erforschung der Höhenphobien, der Angst vor dem Impuls, sich aus dem Fenster zu stürzen, hat Ihnen gewiss allen das nämliche Ergebnis geliefert. |
948 |
Wer ist nun der Mann, von dem sich die Träumerin ein Kind wünscht oder zu dessen Ebenbild sie Mutter sein möchte? Sie hat sich oft bemüht, sein Gesicht zu sehen, aber der Traum ließ es nicht zu, der Mann sollte inkognito bleiben. |
949 |
Unsere Träumerin war die älteste von zwölf Kindern; wie oft muss sie die Qualen der Eifersucht und Enttäuschung durchgemacht haben, wenn nicht sie, sondern die Mutter das ersehnte Kind vom Vater empfing. |
950 |
In der ersten Szene vor einem Jahr sitzt sie im Kinderwagen, neben ihr zwei Pferde, von denen eines sie groß und eindrucksvoll ansieht. Sie bezeichnet das ihr stärkstes Erlebnis, sie hatte das Gefühl, es sei ein Mensch. |
951 |
Wir aber können uns in diese Wertung nur einfühlen, wenn wir annehmen, zwei Pferde ständen hier, wie so oft, für ein Ehepaar, für Vater und Mutter. Es ist dann wie ein Aufblitzen des infantilen Totemismus. |
952 |
Könnten wir die Schreiberin sprechen, so würden wir die Frage an sie richten, ob nicht der Vater seiner Farbe nach in dem braunen Pferd, das sie so menschlich ansieht, erkannt werden darf. Die zweite Erinnerung ist mit der ersten durch das gleiche verständnisvolle Ansehen assoziativ verknüpft. |
953 |
Die nächsten beiden Erinnerungen gehören zusammen, sie bieten der Deutung noch geringere Schwierigkeiten. Das Schreien der Mutter bei ihrer Niederkunft erinnert sie direkt an das Quieken der Schweine bei einer Hausschlachtung und versetzt sie in dieselbe mitleidige Raserei. |
954 |
Mit diesen Andeutungen der Zärtlichkeit für den Vater, der genitalen Berührungen mit ihm und der Todeswünsche gegen die Mutter ist der Umriss des weiblichen Ödipuskomplexes gezogen. Die lang bewahrte sexuelle Unwissenheit und spätere Frigidität entsprechen diesen Voraussetzungen. |
955 |
Was die stärksten Einflüsse späteren Erlebens nicht zustande brachten, soll jetzt die briefliche Aufklärung eines fremden Arztes leisten. Wahrscheinlich würde es einer regelrechten Analyse in längerer Zeit gelingen. |
956 |
Wie die Verhältnisse liegen, musste ich mich damit begnügen ihr zu schreiben, ich sei überzeugt, dass sie an der Nachwirkung einer starken Gefühlsbindung an den Vater und der entsprechenden Identifizierung mit der Mutter leide, hoffe aber selbst nicht, dass diese Aufklärung ihr nützen werde. |
957 |
Doch kann versucht werden, das was zum Einteilen erforderlich ist, zum Voraus im Allgemeinen verständlich zu machen, obgleich auch dabei ein Verfahren der Methode in Anspruch genommen werden muss, das seine volle Verständigung und Rechtfertigung erst innerhalb der Wissenschaft erhält. |
958 |
Einen so massiven, mit großen schwarzen Buchstaben habe ich nie gesehen. Ist's ein Trauerring? Und was steht in der Inschrift? Die kleine alte Frau, an die ich diese Fragen richtete, war eine ältere Schwester meiner Mutter, nur Tante Klärchen von uns genannt. |
959 |
Vor siebzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, den Bankier Herz, dessen große, schwerfällige Figur mit dem feinen jüdischen Kopfe mir noch aus meiner frühesten Kinderzeit vor Augen steht, da meine Eltern, als ich zwei Jahre alt war, die Frankfurter Verwandten besucht hatten. |
960 |
Dagegen musste ich ihr von meinem Studentenleben berichten, meine kleinen romantischen Abenteuer und Herzensangelegenheiten beichten, und da es kein Geheimnis war, dass ich Verse machte, ihr auch ein und das andere dieser jugendlichen Exerzitien vorlesen. |
961 |
Gewöhnlich ruhten ihre beiden kleinen Hände regungslos auf der grünseidenen Decke, die mit kostbaren Spitzen eingefasst war. Die ungemein zarte Haut war bleich wie alter, weißer Atlas, der etwas vergilbt ist und seinen Glanz verloren hat, wie auch über ihrem Gesicht kein Schimmer von Röte lag. |
962 |
Als ich sie nach ihm fragte, hob die Tante sacht die linke Hand, die ihn trug, und hielt sie nahe vor die Augen, deren Sehkraft schon ein wenig geschwächt war. Es ist auch ein Trauerring, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, nachdem sie ihn eine Weile still betrachtet hatte. |
963 |
Der, von dem ich ihn habe, ist lange schon nicht mehr auf der Erde. Neben den anderen nimmt er sich nicht glänzend aus, und doch ist er mir der liebste von allen. Dass er so dick ist, kommt davon her, weil er eine kleine Haarlocke einschließt, die man sieht, wenn man die innere Kapsel öffnet. |
964 |
Ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr getan, will's auch jetzt nicht, es greift mich zu sehr an. Die Emailinschrift aber kannst du selbst lesen. Sie hielt mir den Ring wieder hin, und ich buchstabierte: Lebe wohl! Dann sank die Hand wieder auf die seidene Decke. Wir schwiegen eine Weile. |
965 |
Du musst viele Anbeter gehabt haben, Tante, in deiner früheren Zeit, noch da du schon große Töchter hattest. Mutter hat mir gesagt, wenn du mit ihnen in einen Ballsaal getreten seiest, habe man dich für ihre älteste Schwester gehalten. |
966 |
Sie nickte still vor sich hin. Jawohl, lieb Kind, sagte sie, ich wusste das selbst, es wäre kindisch gewesen, mir's verleugnen zu wollen. Aber Anbeter, was man so nennt, die sich einbildeten, sie könnten sich Hoffnungen machen, in besondere Gunst bei mir zu kommen, die hatte ich eigentlich nicht. |
967 |
Ich hatte ihn kaum sechsmal vorher gesehen, und schön war er ja nicht, und dass er mir immer treu bleiben würde, machte ich mir auch keine Hoffnung. Ich weiß auch nicht, wie es später damit stand, wollte es auch nicht wissen. |
968 |
Du weißt aber, bei uns Juden versteht sich's von selbst, dass die Frauen ihren Männern treu bleiben, und die etwa eine Ausnahme von der Regel machten, wurden nicht zum besten darum angesehen, selbst in der damaligen Zeit, wo die guten alten Sitten sehr ins Wackeln kamen. |
969 |
Schön sah er dann erst recht nicht aus, eher komisch, aber bei alledem auch wieder ehrwürdig, mit der großen Nase in dem glattrasierten gelblichen Gesicht, dem feinen blassen Munde und den kleinen, tiefliegenden Augen, die aber, wenn er sich einmal in Eifer sprach, ganz merkwürdig leuchteten. |
970 |
Man fühlte überhaupt, dass ein ganz eigener Geist in ihm steckte, der die Menschen gründlich durchschaute, und vor vielem, was der großen Menge imponiert, gar keinen Respekt hatte, am wenigsten vor dem goldenen Kalbe. |
971 |
Er errötete noch tiefer, verbeugte sich, ohne ein Wort zu sagen, und ich konnte nicht erkennen, ob meine Bitte ihm lieb oder leid sei. Auch vergaß ich sie selbst. Ich hatte es nur gesagt, um ihn damit zu erfreuen, dass ich mich für sein Tun und Treiben interessierte. |
972 |
Die gute Tante schwieg eine Weile. Sie hatte den Kopf gegen das Kissen zurückgelegt und die schwarzen Augen still nach der Zimmerdecke hinaufgerichtet. Ich fragte sie, ob sie das Sprechen nicht zu sehr angreife. |
973 |
Sie möge mir das übrige morgen oder ein andermal erzählen, wenn sie sich frischer fühle. Nein, lieb Kind, sagte sie, ich fühle mich morgen nicht frischer als jetzt. Alte Leute werden überhaupt nur noch ein bisschen aufgefrischt, wenn sie an ihre jungen Tage denken. |
974 |
Aber gib mir das Fläschchen dort von dem Toilettentisch! Ich reichte ihr das Kristallflacon mit dem silbernen Verschlusse, und sie goss von der Eau de Cologne über ihre Hände und hielt sie dann vors Gesicht. Meine Nase bleibt mir am längsten treu, lächelte sie. |
975 |
Die Zunge ist nicht mehr viel wert, Augen und Ohren lassen mich im Stich, aber an Blumenduft und feinem Parfüm erquick' ich mich noch. Sie behielt das Fläschchen in der Hand und sah wieder auf den Ring herab. Nun kommt erst die Geschichte, sagte sie. |
976 |
Und die Mädchen sahen wirklich wie die drei Grazien aus, das heißt, wenn deren Toilette nicht von Mutter Natur, sondern von einer Pariser Schneiderin besorgt worden wäre. Das Wort von drei Grazien aber musst' ich an dem Abend wohl ein dutzendmal hören. |
977 |
Wir waren natürlich in unserem Anzuge, wie immer, die einfachsten; Herz liebte es nicht, dass ich mich oder die Kinder "putzte", da wir an Schmuck und anderem Luxus doch nicht mit den großen Häusern rivalisieren konnten. |
978 |
In der Gesellschaft erzählte man sich, er sei in Paris als ein gefährlicher mangeur de coeurs bekannt gewesen, und man wunderte sich, dass er in Frankfurt gar keinen Abenteuern nachging. Dass er mein Haus so fleißig besuchte, erklärte man sich durch eine Verliebtheit in eine meiner Töchter. |
979 |
Ich verstand nicht, dass es Sünde hätte sein können, das Liebenswürdige zu lieben und das Schöne schön zu finden. Meinen Pflichten als Gattin und Mutter wurde ich darum nicht untreu, wenn ich in dem Umgang mit diesem reizenden jungen Freunde mein Herz lebhafter schlagen fühlte. |
980 |
Ich wollte und hoffte auch wirklich nichts weiter, als dass es immer so fortgehen möchte, er einen Tag wie den andern über meine Schwelle treten, um sich dann zu mir zu setzen und eine Stunde lang ganz ernsthaft mit mir zu plaudern. |
981 |
Ich fasste mich so gut ich konnte, stellte die Herren vor, wobei Gaston dem armen Ebi einen Blick zuwarf, wie einem todeswürdigen Verbrecher, und sagte, unser alter Hausgenosse habe mir ein selbstverfasstes Drama vorgelesen, wir seien eben zum Schlusse gelangt. |
982 |
Der Himmel schien sehr nah an die Erde gerückt, die Grenzlinien beider vermischten sich in diesem Grau, das Alles einhüllte, auflöste, aus der Erde kroch, sich herabsenkte in wattiger, flockender Schicht. |
983 |
Sie brachten einen faden Gasgeschmack in die scharfe Kälte, den Moorgeruch der aufgeweichten Felder. Seit Wochen durchschwemmte sie der Regen, unbarmherziges, Alles durchdringendes Gewässer, in dem die letzten Lebensreste des Sommers sich auflösten, verfaulten. |
984 |
Lachen hatten sich auf der Chaussee gebildet. Ihre ganze Oberschicht bestand aus einem weichen, feinen Schmutz, der sich teigig an die Stiefel ansetzte, sofort krustete; und vor allem war er kalt, von einer Kälte des Eiswassers, unterer Schichten unter dem Wasser, die nie die Sonne sahen. |
985 |
Er trug sich schwer; auf der Höhe des Straßendammes zog er sich endlos hin, kleine Teiche bildend, Runzeln und Ränder, die Spuren unzähliger Menschenfüße, Pferdehufe, die da gegangen waren. Manchmal schleppte sich ein Lastwagen müde vorüber. |
986 |
Zwei Handwerksburschen zogen auf der Chaussee entlang. Es waren Arbeitslose. Der Eine war ein Böttchergesell aus Greifenberg in Pommern, der Andere zog schon seit lange so. Er hatte Drechseln gelernt. |
987 |
Der war ein ziemlich wüster Gesell, der durch die halbe Welt gerollt war. Man wusste nicht, woher er kam, und er sprach nicht davon. Seine Papiere wiesen allerlei Bestrafungen auf, für Diebstähle, Widersetzlichkeiten. Das hatte ihn nicht gebrochen. |
988 |
Es lag Hohn und Trotz gegen die Gesellschaft in seiner Art, das Bewusstsein eines Ichs, der Kraft, in diesem Menschen, der mit klaffenden Schuhen über die Landstraße stapfte, Hass gegen die Kälte, der er den Alkohol entgegensetzte, den brennenden Rausch, der besser hitzt wie Feuer. |
989 |
Ein gewisser Galgenhumor kam über ihn, während sein Gefährte ängstlich in seine blaugefrornen Finger pustete, die besten Stellen im Matsch aussuchte, um seine Füße zu schonen, vor allem die Schuhe, die trotzdem schon barsten, Wasser einließen, das sickerte, quietschte zwischen den Sohlen. |
990 |
Der Kleine sah sich scheu um, ob Jemand die Lästerung hörte. Er war fromm erzogen, gewohnt in die Kirche zu gehen des Sonntags. Die Mutter saß da und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem goldbedruckten Gesangbuch. |
991 |
Die Mutter saß da und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem goldbedruckten Gesangbuch. Es war hart, dass man keine Arbeit fand. Aber er vertraute auf Gott. Und Berlin war nah, wo Tausende arbeiteten und aßen. Sehr müde war er und weit konnte es nicht mehr sein. |
992 |
Von beiden Seiten reihten sich dunkle, niedrige Schuppen um gemauerte Schlote, mit Latten eingezingelte Höfe. Man sah die schwarzen Eisenconstructionen zum Heben, die achatne Spiegelung der Fensterscheiben, ungeheure, stumpfe Massen aufgeschichteten Materials, die warteten, sich zersetzten. |
993 |
Aber Alles lag ganz still wegen des Festes, Alles war sehr schwarz. Der Kohlengeruch wurde bemerkbarer. Auf ihren Schienensträngen eilten die Züge der Vororte mit roten und grünen Lichtern, wie große Schlangen mit Augen, in die schweigende Ebene ausgeschickt. |
994 |
Die Lästrung verhallte in der Dunkelheit, die sich nicht rührte. Ein Wind schien sich erhoben zu haben, strich mit schriller Klage über die Telegraphendrähte, durch die Löcher der Jacke, in der der Kleine sich zusammendrückte. |
995 |
Jemand musste an ihrer Seite heraufgekommen sein. Er war wohl von rückwärts nahe gekommen. Sie hatten ihn nicht gehört, weil der weiche Schmutz alle Schritte erstickte. Und es war finster. Sie sahen, dass es ein Mann war. Er mochte in ihrer eigenen Größe sein, nicht über Mittelgröße. |
996 |
Weißt Du, wo ich herkomme? In der Gosse haben sie mich gefunden neben einer toten Katze und einem Kohlstrunk. Meine Eltern wollten nichts wissen von der Rabenbrut. Dann haben sie mich so rumgestoßen. Die hohe Polizei! Das ist eine zarte Nährmutter. |
997 |
Er war bei sich zu Hause. In der kleinen Küche war es stickend warm. Solch eine fröhliche Wärme! Der ganze Herd glühte, rotglühend mit hüpfenden, spritzenden Lichtern, obgleich es dunkel war, um Petroleum zu sparen. Aus dem Suppentopf stiegen weiße, nahrhafte Wolken. |
998 |
Von einem alten Mann mit weißem Bart erzählte er ihr. Er trug einen großen Sack mit Äpfeln und Nüssen über der Schulter. Er hatte ein rotes, freundliches Gesicht, und eine Birkenruhe hielt er in der Hand. Wenn man seine Sprüche nicht wusste, gab es Schläge. |
999 |
Sie sangen sehr laut mit hellen, schmetternden Stimmen. Alles hallte davon wider. Dieser Gesang erfüllte das ganze Gewölbe des Himmels, der eine große, dunkelblaue Glocke war, in der goldene Sterne schwangen und spannen. |
1000 |
Die ganze Glocke drehte sich, sang und schwang. Der kleine Handwerksbursche sang laut, vorwärts stolpernd im schleimigen Straßenkot, zwischen den schwarzen Fabrikschuppen mit hohen Schloten, vor der Stadt, die rings umher anfing sich zu entzünden, wie ein Halbkreis der Hölle mit feurigen Augen. |
1001 |
Eine rote Laterne hing über der Tür der Destille. Die Tür war schräg eingestellt nach der Straßenecke zu. Drei schlechte Eisenstufen führten hinauf. Sie hallten und dröhnten, wenn schwere, nägelbeschlagene Schuhe darauf traten. |
1002 |
Sonst Reklamen in großen Lettern von Wein, Bier, Rum, Punsch, Zettel in lebhaften Farben so zusammengestellt, dass sie sich möglichst schnitten, das Auge herausforderten. Aber der Straßenstaub hatte sie ausgebleicht, Alles war von derselben schmutziggrauen Schleimschicht überzogen. |
1003 |
Die Fenster hingen schief in ihren Rahmen. Gegen das Haus lagen schwarze, faulende Holzplanken aufgeschichtet von irgend einem Neubau, der nie fertig wurde. Die Fenster nach der Straße zu waren durch schwere Rollbretter geschützt. In den oberen Stockwerken hatte man die Jalousien heruntergelassen. |
1004 |
Die große Hitze hatte die besser situierten Reisenden in ihre Kajüten und Kabinen getrieben, und die meisten der Deckpassagiere lagen hinter Fässern, Kisten und andern Gepäckstücken, welche ihnen ein wenig Schatten gewährten. |
1005 |
Hinter diesem Schenktisch saß der Kellner mit geschlossenen Augen, von der Hitze ermüdet, mit dem Kopfe nickend. Wenn er einmal die Lider hob, wand sich ein leiser Fluch oder sonst ein kräftiges Wort über seine Lippen. |
1006 |
Entgegengesetzt dieser allgemeinen Vertraulichkeit gab es unter ihnen einen, dem eine gewisse Art von Respekt erwiesen wurde. Man nannte ihn Cornel, eine gebräuchliche Verstümmelung des Wortes Colonel, Oberst. |
1007 |
Dieser Mann war lang und hager; sein glatt rasiertes, scharf und spitz gezeichnetes Gesicht wurde von einem borstigen roten Kehlbarte umrahmt; fuchsrot waren auch die kurzgeschorenen Kopfhaare, wie man sehen konnte, da er den alten, abgegriffenen Filzhut weit in den Nacken geschoben hatte. |
1008 |
Um die Hüften hatte er sich ein rotes Fransentuch geschlungen, aus welchem die Griffe des Messers und zweier Pistolen blickten. Hinter ihm lag ein ziemlich neues Gewehr und ein leinener Schnappsack, welcher mit zwei Bändern versehen war, um auf dem Rücken getragen zu werden. |
1009 |
Die andern Männer waren in ähnlicher Weise sorglos und gleich schmutzig gekleidet, dafür aber sehr gut bewaffnet. Es befand sich kein einziger unter ihnen, dem man beim ersten Blicke hätte Vertrauen schenken können. |
1010 |
Sie trieben ihr Würfelspiel mit wahrer Leidenschaftlichkeit und unterhielten sich dabei in so rohen Ausdrücken, dass ein halbwegs anständiger Mensch sicher keine Minute lang bei ihnen stehen geblieben wäre. |
1011 |
Wollte es ihnen nicht raten, uns mehr, als wir gewöhnt sind, zu belästigen. Wir haben Hands genug an Bord, sie alle in den alten, gesegneten Arkansas zu werfen. Macht Euch übrigens zum Anlegen klar; denn in zehn Minuten kommt Lewisburg in Sicht. |
1012 |
Der Kapitän kehrte auf seine Brücke zurück, um die beim Landen nötigen Befehle zu erteilen. Man sah sehr bald die Häuser des genannten Ortes, welche das Schiff mit einem langgezogenen Brüllen der Dampfpfeife begrüßte. |
1013 |
Von der Landebrücke wurde das Zeichen gegeben, dass der Steamer Fracht und Passagiere mitzunehmen habe. Die bisher unter Deck befindlichen Reisenden kamen herauf, um die kurze Unterbrechung der langweiligen Fahrt zu genießen. |
1014 |
Der eine von ihnen war ein Weißer von hoher, außerordentlich kräftiger Gestalt. Er trug einen so kräftigen, dunkeln Vollbart, dass man nur die Augen, die Nase und den oberen Teil der Wangen erkennen konnte. Auf seinem Kopfe saß eine alte Bibermütze, welche im Laufe der Jahre fast kahl geworden war. |
1015 |
Ihre einstige Gestalt zu bestimmen, war ein Werk der Unmöglichkeit; höchst wahrscheinlich hatte sie schon alle möglichen Formen gehabt. Der Anzug dieses Mannes bestand aus Hose und Jacke von starkem, grauem Leinen. |
1016 |
In dem breiten Ledergürtel steckten zwei Revolver, ein Messer und mehrere kleine, dem Westmanne unentbehrliche Instrumente. Außerdem besaß er eine schwere Doppelbüchse, an deren Schaft, um beides bequemer tragen zu können, ein langes Beil gebunden war. |
1017 |
Er hatte gehofft, dass Großer sich weigern und dann durch Drohungen zum Trinken zwingen lassen werde; dieser aber war der Klügere gewesen, hatte erst getrunken und dann ganz offen gesagt, dass er zu klug sei, Veranlassung zu einem Krakehl zu geben. Das wurmte den Cornel. |
1018 |
Die unverkennbare Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge ließ vermuten, dass sie Vater und Sohn seien. Sie waren so gleich gekleidet und bewaffnet, dass der Sohn als das genaue, verjüngte Spiegelbild des Vaters erschien. |
1019 |
Die Flinten, welche sie in den Händen hielten, schienen zusammen keinen halben Dollar wert zu sein. Überhaupt sahen die beiden ganz und gar ungefährlich aus, und so seltsam dazu, dass sie, wie bereits erwähnt, das Gelächter der Trinker erregt hatten. |
1020 |
Das Gesicht des Roten war ein so ganz andres geworden, dass man es jetzt fast nicht hätte wiedererkennen mögen. Seine Gestalt schien emporgewachsen zu sein, seine Augen leuchteten auf, und über seine Züge zuckte eine plötzlich lebendig gewordene Energie. |
1021 |
Die an Deck sich befindenden Männer hatten ebenso wie der Cornel laut aufgeschrien. Nur vier von ihnen hatten mit keiner Wimper gezuckt, nämlich der Schwarzbärtige, welcher jetzt ganz vorn am Bug saß, der riesenhafte Herr, welchen der Cornel zum dritten Drink einladen wollte und die beiden Indianer. |
1022 |
Diese vier Personen hatten ebensowenig wie die andern gewusst, dass sich ein wildes Tier an Bord und zwar dort in dem Kasten befinde, aber sie besaßen eine so große und langgeübte Selbstbeherrschung, dass es ihnen nicht schwer wurde, ihre Überraschung zu verbergen. |
1023 |
Ich bin der berühmte Menageriebesitzer Jonathan Boyler und befinde mich seit einiger Zeit mit meiner Truppe in Van Büren. Da dieser schwarze Panther in New Orleans für mich angekommen war, so begab ich mich mit meinem erfahrensten Tierbändiger dorthin, um ihn abzuholen. |
1024 |
Der Kapitän dieses guten Schiffes erteilte mir gegen hohen Transport die Erlaubnis, den Panther hier zu verladen. Er machte dabei die Bedingung, dass die Passagiere möglichst nicht erfahren sollten, in welcher Gesellschaft sie sich befinden. |
1025 |
Freilich, wenn man mit Fäusten an den Kasten schlägt, so wacht er auf und lässt auch seine Stimme hören. Ich hoffe, dass die verehrten Damen und Herren nun von der Anwesenheit des Pantherchens, welche ja nicht die mindeste Störung bewirkt, keine Notiz mehr nehmen. |
1026 |
Dies jedoch darf ich ohne gewisse Gegenleistung nicht gestatten. Um den Reiz dieses seltenen Schauspiels zu erhöhen, werde ich eine Fütterung des Tieres anbefehlen. Wir arrangieren drei Plätze, den ersten zu einem Dollar, den zweiten zu einem halben und den dritten zu einem Vierteldollar. |
1027 |
Er nahm seinen Hut ab und kassierte die Dollars ein, während sein Tierbändiger, den er herbeigerufen hatte, die zu der Schaustellung nötigen Vorbereitungen traf. Die Passagiere waren meist Yankees, und als solche erklärten sie sich mit der jetzigen Wendung der Angelegenheit einverstanden. |
1028 |
Er ließ sich das Glas füllen und näherte sich dann dem Erwähnten. Die Körperformen dieses Mannes waren allerdings riesige zu nennen. Er war noch höher und breiter gebaut als der Schwarzbärtige, welcher sich Großer genannt hatte. |
1029 |
Zu erwähnen wäre noch, dass sein Gesicht glatt rasiert war, dass er vielleicht vierzig Jahre alt sein konnte, und dass er einen eleganten Reiseanzug trug. Waffen sah man nicht an ihm. Er stand bei mehreren Herren, mit denen er sich lebhaft über den Panther unterhielt. |
1030 |
Er kam nicht weiter, denn er hatte in diesem Augenblick eine so gewaltige Ohrfeige von dem Riesen erhalten, dass er niederstürzte, eine ganze Strecke auf dem Boden einschoss und sich dann sogar noch überkugelte. |
1031 |
Dort setzten sie sich nieder, verbanden ihrem Anführer die Hand, sprachen leise und angelegentlich miteinander und warfen dabei Blicke nach dem berühmten Jäger, welche zwar keineswegs freundliche waren, aber doch bewiesen, welch einen gewaltigen Respekt sie vor ihm hatten. |
1032 |
Aber nicht allein auf sie hatte der weitbekannte Name gewirkt. Es gab unter den Passagieren wohl keinen, der nicht schon von diesem kühnen Manne, dessen ganzes Leben aus gefährlichen Taten und Abenteuern zusammengesetzt war, gehört gehabt hätte. |
1033 |
Man trat unwillkürlich ganz ehrerbietig von ihm zurück, und betrachtete nun viel eingehender die hohe Gestalt, deren doch so harmonische Dimensionen und Verhältnisse jedem schon vorher aufgefallen waren. |
1034 |
Seit dem Augenblicke, dass der Cornel den Indianer in das Gesicht schlug, ist sein Tod eine beschlossene Sache. Die beiden "Bären" werden nicht eher von seiner Fährte lassen, bis sie ihn ausgelöscht haben. |
1035 |
Nun saßen die Zuschauer vor dem noch geschlossenen Kasten. Die meisten von ihnen hatten keinen richtigen Begriff von einem schwarzen Panther. Die katzenartigen Raubtiere der neuen Welt sind bedeutend kleiner und ungefährlicher als diejenigen der alten Welt. |
1036 |
Wie fühlten sie sich daher betroffen, als jetzt die Vorderwand des Kastens entfernt wurde und sie den Panther erblickten. Er hatte seit New Orleans im Dunkeln gelegen, der Kasten war nur des Nachts geöffnet worden. |
1037 |
Jetzt erblickte er zum ersten mal wieder das Tageslicht, welches seine Augen blendete. Er schloss sie und blieb noch liegen, lang ausgestreckt, so lang wie der Kasten war. Dann blinzelte er leise, dabei bemerkte er die vor ihm sitzenden Menschen. |
1038 |
Im Nu war er auf und stieß ein Brüllen aus, welches die Wirkung hatte, dass die Mehrzahl der Zuschauer aufsprangen, um zu retirieren. Ja, es war ein ausgewachsenes prächtiges Exemplar, gewiss einen Meter hoch und ohne Schwanz zweimal so lang. |
1039 |
Er fasste die Stäbe des eisernen Käfigs mit den Vordertatzen und schüttelte sie, dass der Kasten in Bewegung kam. Dabei zeigte er das fürchterliche Gebiss. Die dunkle Farbe erhöhte nur den Eindruck, den er machte. |
1040 |
Der Bändiger brachte die Hälfte eines Schafes herbei und legte sie vor dem Käfig nieder. Als der Panther das Fleisch erblickte, gebärdete er sich wie unsinnig. Er sprang auf und ab und fauchte und brüllte, dass die furchtsameren der Zuschauer sich noch weiter zurückzogen als bisher. |
1041 |
Der Kapitän sah ihn und befahl ihm, sofort an seine Arbeit zurückzukehren. Da der Schwarze nicht gleich gehorchte, ergriff der Kapitän ein nahe liegendes Tauende und versetzte ihm mit demselben einige Hiebe. |
1042 |
Nun zog sich der Gezüchtigte schnell zurück, blieb aber an der in den Maschinenraum führenden Lucke stehen, zog dem Kapitän hinter dem Rücken desselben eine drohende Grimasse und schüttelte die Fäuste gegen ihn. |
1043 |
Der Bändiger war ein starker, außerordentlich muskulöser Mensch mit einem ungewöhnlich selbstbewussten Zuge im Gesicht. Er war jedenfalls vom Gelingen seines Vorhabens vollständig überzeugt, wie seine gegenwärtige zuversichtliche Miene bewies. |
1044 |
Der Panther hatte sich über seine Mahlzeit hergemacht, deren Knochen zwischen seinen Zähnen wie Pappe zermalmt wurden. Er schien nur auf seinen Fraß zu achten, und so konnte wohl selbst der Laie der Ansicht sein, dass es keine große Gefahr auf sich habe, gerade jetzt den Käfig zu betreten. |
1045 |
Wird er von dem Panther gefressen, nun, so ist das seine und des Panthers Sache, nicht aber die meinige. Also, Gentlemen, ich behaupte, dass der Mann nicht so heil wieder herauskommt, wie er hineingeht, und setze hundert Dollar. |
1046 |
Es war nicht gesagt, ob der Tierbändiger dabei bewaffnet sein solle. Er holte seinen Totschläger, eine Peitsche, deren Knauf eine Explosionskugel enthielt. Griff das Tier ihn an, so bedurfte es nur eines kräftigen Hiebes seinerseits, den Panther augenblicklich zu töten. |
1047 |
Jetzt hielt der Bändiger eine kurze Ansprache an das Publikum, und wendete sich dann gegen den Käfig. Er öffnete die schweren Riegel und schob darauf das schmale Gitter, welches die ungefähr fünf Fuß hohe Tür bildete, zur Seite. |
1048 |
Um einzutreten, musste er sich bücken. Dabei bedurfte er beider Hände, um die Tür zu halten, und dann, wenn er sich im Käfige befand, wieder zu schließen; deshalb hatte er den Totschläger zwischen die Zähne genommen und war also, wenn auch nur für diesen kurzen Augenblick, wehrlos. |
1049 |
Zwar war er schon oft bei dem Tiere im Käfige gewesen, aber unter ganz andern Umständen. Da war dasselbe nicht tagelang im Dunkeln gewesen; es hatten sich nicht so viele Menschen in der Nähe befunden, und es hatte auch nicht das Stampfen der Maschine und das Rauschen und Brausen der Räder gegeben. |
1050 |
Diese Umstände waren weder von dem Menageriebesitzer noch von dem Bändiger genug in Betracht gezogen worden, und nun zeigten sich die Folgen. Als der Panther das Geräusch des Gitters hörte, drehte er sich um. |
1051 |
Eben schob der Bändiger den gesenkten Kopf herein - eine geradezu gedankenschnelle Bewegung des Raubtieres, ein blitzähnliches Aufzucken, und es hatte den Kopf, aus dessen Mund der Totschläger fiel, im Rachen und zerkrachte ihn mit einem einzigen Bisse in Splitter und zu Brei. |
1052 |
Der erstere wollte die Tür des Käfigs zuschieben, aber dies war unmöglich, da die Leiche sich halb in demselben und halb außerhalb befand. Dann wollte er den Toten bei den Beinen fassen und herausziehen. |
1053 |
Die Knochensplitter im blutig geifernden Rachen, hielt er die funkelnden Augen auf seinen Herrn gerichtet. Er schien die Absicht desselben zu erraten, denn er brüllte zornig auf und kroch auf der Leiche vor, dieselbe durch die Schwere seines Körpers festhaltend. |
1054 |
Der schwarze Tom sprang nach seiner Büchse. Von dem Augenblicke, in welchem der Bändiger den Käfig betreten hatte, bis zum gegenwärtigen waren kaum zehn Sekunden vergangen. Niemand hatte noch Zeit gefunden, sich vollständig in Sicherheit zu bringen. |
1055 |
Das ganze Deck bildete einen Wirrwarr von fliehenden und vor Angst schreienden Personen. Die Türen nach den Kajüten und den Unterdecks waren verstopft. Man duckte sich hinter Fässern und Kisten nieder und sprang doch wieder auf, weil man sich da nicht vollständig sicher fühlte. |
1056 |
Unterwegs fiel ihm ein, dass er das Beil mit demselben zusammengebunden hatte und es also nicht augenblicklich gebrauchen könne. Er blieb also bei den beiden Indianern, an denen er vorübergewollt hatte, stehen und riss dem alten Bär die Flinte aus der Hand. |
1057 |
Der schwarze Tom legte an und drückte ab. Der Schuss krachte, aber die Kugel traf nicht. Hastig riss er nun auch dem jungen Indianer die Flinte aus der Hand und gab die Ladung derselben auf das Tier ab - mit demselben Misserfolge. |
1058 |
Der Deutsche beachtete diese Worte nicht. Er warf die Flinte weg und eilte weiter nach vorn, wo die Gewehre der Leute des Cornel lagen. Diese Gentlemen hatten keine Lust gehabt, den Kampf mit dem Tiere aufzunehmen, sondern sich schleunigst versteckt. |
1059 |
Da ertönte in der Nähe der Kommandobrücke ein entsetzlicher Schrei. Eine Dame wollte sich auf dieselbe flüchten. Der Panther sah sie eben, als das erwähnte Brüllen beendet war. Er duckte sich nieder und sprang dann in langen, weiten Sätzen auf sie zu. |
1060 |
Im Nu hatte er sie erfasst, schwang sie zu sich empor und hob sie mit starken Armen über sich hinauf, wo der Kapitän sie an sich nahm. Das war das Werk von zwei Augenblicken gewesen, und nun befand sich der Panther an der Brücke. |
1061 |
Dieser versetzte ihm mit aller Gewalt einen Fußtritt auf die Nase und feuerte ihm dann die noch übrigen drei Kugeln seines Revolvers gegen den Kopf. Diese Art der Abwehr war eigentlich eine lächerliche. |
1062 |
Er war überzeugt, dass das Tier ihn nun packen werde; aber es geschah noch nicht, sondern der Panther drehte, in seiner an der Treppe aufgerichteten Stellung verharrend, den Kopf langsam zur Seite, als ob er sich auf etwas Besseres besinnen wolle. |
1063 |
Das Kind hatte, sich selbst auf der Flucht befindend, seine Mutter in Gefahr gesehen und war vor Entsetzen darüber da, wo es noch stand, halten geblieben, in ein helles, weithin leuchtendes Gewand gekleidet, welches dem Panther in die Augen fiel. |
1064 |
Er ließ die Tatzen von der Treppe, wendete sich ab und schnellte sich, sechs bis acht Ellen lange Sätze machend, auf das Kind zu, welches das Entsetzliche kommen sah und sich weder zu bewegen, noch einen Laut auszustoßen vermochte. |
1065 |
Der Steamer stoppte und blieb dann dadurch auf der Stelle halten, dass die Räder nur so viel Wasser griffen, als nötig war, die Rücktrift zu vermeiden. Da die Gefahr für die Passagiere jetzt vorüber war, eilten alle aus den verschiedenen Verstecken hervor und an das Geländer. |
1066 |
Niemand hörte auf ihn. Alle beugten sich über die Reling, um in den Fluss hinabzusehen. Da lag der Panther, als vortrefflicher Schwimmer, mit ausgebreiteten Pranken auf dem Wasser und sah sich nach der Beute um - vergeblich. Der kühne Knabe war mit dem Mädchen nicht zu sehen. |
1067 |
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind trotz oder vielmehr infolge ihrer freisinnigen Institutionen der Herd ganz eigenartiger sozialer Landplagen, welche in einem europäischen Staate vollständig unmöglich sein würden. |
1068 |
Als zu einer gewissen Zeit ein schwerer Druck auf Handel und Wandel lag, Tausende von Fabriken stillstanden und Zehntausende von Arbeitern beschäftigungslos wurden, begaben sich die Arbeitslosen auf die Wanderung, welche vorzugsweise in westlicher Richtung erfolgte. |
1069 |
Die am und jenseits des Mississippi liegenden Staaten wurden von ihnen förmlich überschwemmt. Dort trat bald ein Scheideprozess ein, indem die Ehrlichen unter ihnen Arbeit nahmen, wo sie dieselbe fanden, selbst wenn die Beschäftigung nur eine wenig lohnende und dabei anstrengende war. |
1070 |
Sie überfielen nicht bloß einzelne Farmen, sondern selbst kleinere Städte, um sie vollständig auszurauben. Sie bemächtigten sich sogar der Eisenbahnen, überwältigten die Beamten und bedienten sich der Züge, um schnell in ein andres Gebiet zu gelangen und dort dieselben Verbrechen zu wiederholen. |
1071 |
Der Cornel hatte seine Aufmerksamkeit natürlich auch auf die wunderliche Gestalt gerichtet, welche sich dem Schiffe auf so zerbrechlichem Flosse näherte und, nur so wie beiläufig, das mächtige Raubtier erlegte. Er hatte gelacht, als Tom den sonderbaren Namen Tante Droll aussprach. |
1072 |
Nun, da er auf dem Decke stand, ließ sich erkennen und sagen, welcher Art seine Kleidung war. Seine Kopfbedeckung war weder Hut noch Mütze noch Haube, und doch konnte man sie mit jedem dieser Worte bezeichnen. |
1073 |
Das mittlere, welches auf dem Kopfe saß, hatte die Gestalt eines umgestülpten Napfes; das vordere beschattete die Stirn, und sollte jedenfalls eine Art von Schirm oder Krempe sein; das vierte und fünfte waren breite Klappen, welche die Ohren bedeckten. |
1074 |
Er war aus lauter ledernen Flicken und Flecken zusammengesetzt, einer immer auf und über den andern genäht. Keiner dieser Flecken trug das gleiche Alter; man sah ihnen vielmehr an, dass sie so nach und nach, zu den verschiedensten Zeiten, vereinigt worden waren. |
1075 |
Diese improvisierten Hosenbeine reichten bis auf den Knöchel herab. Zwei Lederschuhe bildeten die Vervollständigung nach unten hin. Die Ärmel dieses Rockes waren auch ungewöhnlich weit und dem Manne viel zu lang. |
1076 |
Er hatte sie vorn zugenäht und weiter nach hinten zwei Löcher angebracht, aus denen er die Hände streckte. In dieser Weise bildeten die Ärmel nun zwei herabhängende Ledertaschen, in denen allerhand untergebracht werden konnte. |
1077 |
Der Knabe, welcher sich in der Gesellschaft dieses Originals befand, konnte vielleicht sechzehn Jahre zählen. Er war blond, starkknochig und schaute sehr ernst, ja trotzig drein, wie einer, welcher seinen Weg schon selbst zu gehen weiß. |
1078 |
Übrigens handelt es sich nicht um ihn allein. Ich würde sofort noch andre gegen mich haben, und wir müssen alles Aufsehen vermeiden. Droll war wieder nach hinten gegangen und stieß unterwegs auf die beiden Indianer, welche sich auf einen Tabakballen gesetzt hatten. |
1079 |
Er setzte den unterbrochenen Gang nach hinten fort. Dort war jetzt der Vater des geretteten Mädchens aus der Kajüte angekommen, um zu melden, dass seine Tochter aus ihrer Ohnmacht erwacht sei, sich verhältnismäßig wohl fühle und nun nur der Ruhe bedürfe, um sich vollständig zu erholen. |
1080 |
Habe oft, wenn von Euch die Rede war, gedacht, wie sehr ich mich freuen würde, wenn ich Euch einmal zu sehen bekäme. Ich bin nur ein einfacher Trapper, weiß aber sehr genau, was ein Mann Eures Schlages zu bedeuten hat. |
1081 |
Das war klug von Euch, denn der Panther hatte es in Wahrheit auf Euch abgesehen. Vor dem Wasser fürchtet er sich nicht, er ist ein ausgezeichneter Schwimmer und hätte das Ufer ohne alle Anstrengung erreichen können. |
1082 |
Welch ein Unglück, wenn ihm das gelungen wäre. Indem Ihr Ihn tötetet, habt Ihr jedenfalls vielen Menschen das Leben gerettet. Ich schüttle Euch die Hand und wünsche, dass wir uns näher kennen lernen. Ganz auch mein Wunsch, Sir. |
1083 |
Ich bin nicht auf diesen Steamer gekommen, um zu verdursten. Gehen wir also in den Salon. Man folgte dieser Aufforderung. Tom musste, um sich anschließen zu können, für die Kajüte nachzahlen, was er aber sehr gern tat. |
1084 |
Als die Gentlemen vom Deck verschwunden waren, kam der Neger, welcher den Panther nicht mit hatte ansehen dürfen, aus dem Maschinenraume. Er war dort von einem andern Arbeiter abgelöst worden und suchte sich nun ein schattiges Plätzchen für den Mittagsschlaf. |
1085 |
Ich habe bemerkt, dass Ihr beim Kessel angestellt seid. Das ist eine schwere und durstige Arbeit, und da ich mir denke, dass der Kapitän Euch nicht mit Hundertdollarnoten bezahlen wird, so sagte ich mir, dass Euch ein guter Schluck so gerade recht sein würde. |
1086 |
Zufälligerweise wollen auch wir nach dieser Farm, um dort Arbeit zu nehmen. Es versteht sich da ganz von selbst, dass es da eine gute Gelegenheit gibt, zu erfahren, was für Leute die sind, mit denen wir es zu tun haben werden. |
1087 |
Ich denke, sie werden von ihren Angelegenheiten sprechen, und wenn Ihr die Ohren offen haltet, kann es Euch gar nicht schwer fallen, uns zufrieden zu stellen. Ihr seht und hört, dass ich gar nichts Unrechtes und Verbotenes von Euch verlange. |
1088 |
Er weiß, dass ich kein Geld habe und doch gern einen Brandy trinke. Ich sage, dass ich Durst habe, und an seiner Stelle für ein Glas die Fenster putzen will. Da wird er kein Misstrauen fassen. Ihr braucht keine Sorge zu haben, Sir, ich werde es gewiss ermöglichen. |
1089 |
Das ist gefährlich. Man kann doch nicht dann augenblicklich fort, und wenn der Betreffende den Verlust entdeckt, so gibt es ganz sicher ein schauderhaftes Hallo, dem eine Durchsuchung sämtlicher Personen und aller Winkel des Schiffes folgen wird. |
1090 |
Wenn wir an Ort und Stelle sind, werde ich, euch unterrichten. Bis dahin müsst ihr mir vertrauen schenken und mir glauben, wenn ich euch sage, dass es da oben Reichtümer gibt, welche für uns alle lebenslang ausreichen. |
1091 |
So aber war er erst nach dem Bedienungsraume gegangen, wohl um mit dem Steward zu sprechen, und dann im Eingange zum Salon verschwunden, ohne wieder gesehen zu werden. Es verging weit über eine Stunde, ehe er auf dem Deck erschien. |
1092 |
Er hatte mehrere Wischtücher in der Hand, trug diese fort und kam dann zu der sogleich munter werdenden Gesellschaft, bei welcher er sich niederließ, ohne die vier Augen zu sehen, von denen er und die Tramps scharf beobachtet wurden. |
1093 |
Das habe ich noch nicht beobachtet und verstehe nichts davon; aber was ich gesehen habe, das habe ich gesehen. Der Ingenieur hat nämlich ein altes Bowiemesser mit einem hohlen Griffe, in welchem die Noten stecken. |
1094 |
So ein altes, schlechtes Messer nimmt selbst der ärgste Räuber seinem Opfer nicht, weil er es eben nicht selbst braucht und dem Beraubten doch wenigstens eine Waffe, ein Werkzeug lassen muss, ohne welches er im Westen verloren wäre. |
1095 |
Also diese Leute sind mir nun vollständig gleichgültig. Ich begreife nur nicht, dass dieser Ingenieur hinauf in das Felsengebirge will und doch ein junges Mädchen bei sich hat. Er hat nur dieses eine Kind. Die Tochter liebt ihn sehr und hat sich nicht von ihm trennen wollen. |
1096 |
Da er nun beabsichtigt, eine ungewöhnlich lange Zeit in den Bergen zu bleiben, wozu es sogar notwendig sein wird, Blockhäuser zu bauen, so hat er sich endlich entschlossen, sie und die Mutter mitzunehmen. |
1097 |
Ich halte Wort, obgleich ich sie vollständig umsonst bezahle. Aber da mein eigener Irrtum daran schuld ist, so sollt nicht Ihr die Folge tragen. Hier sind also die drei Dollar. Mehr könnt Ihr nicht verlangen, da Eure Gefälligkeit uns keinen Nutzen gebracht hat. |
1098 |
Ich begehre auch nicht mehr, Sir. Für diese drei Dollar bekomme ich so viel Brandy, dass ich mich tottrinken kann. Ihr seid ein nobler Gentleman. Habt Ihr wieder einen Wunsch, so wendet Euch nur an mich und nicht etwa an einen andern. |
1099 |
Wenn das Schiff sinkt, was sehr langsam geschieht, so steigt die Wasserlinie außen. Das muss der Offizier oder Steuermann bemerken, wenn er nicht blind ist. Es wird das einen solchen Lärm und Schreck geben, dass der Ingenieur zunächst gar nicht an sein Messer denken wird. |
1100 |
Wenn er dann den Verlust entdeckt, sind wir längst fort. Und wenn er doch an das Messer denkt und zwar am Ufer anlegt, aber keinen Menschen aussteigen lässt? Man muss alles überlegen. So wird man auch nichts finden. |
1101 |
Wir binden das Messer an eine Schnur, lassen es an derselben ins Wasser hinab und befestigen das andre Ende draußen am Schiffe. Wer es da findet, der muss geradezu allwissend sein. Dieser Gedanke ist freilich nicht übel. |
1102 |
Was aber dann, wenn wir vom Schiffe sind? Wir wollten doch eigentlich so weit wie möglich mit demselben fahren. Für neuntausend Dollar läuft man gern eine Strecke. Wenn wir teilen, kommt auf den Kopf eine Summe von weit über vierhundert Dollar. |
1103 |
Übrigens werben wir uns nicht zu lange auf unsre Beine zu verlassen brauchen. Ich denke, dass wir bald eine Farm oder ein Indianerlager treffen, wo wir uns Pferde kaufen können, ohne sie zu bezahlen. Das lasse ich gelten. |
1104 |
Darum legt euch jetzt aufs Ohr, damit ihr dann frisch seid und gut marschieren könnt. Dieser Weisung wurde Folge geleistet. Es herrschte überhaupt infolge der großen Hitze auf dem Schiffe eine ganz ungewöhnliche Stille und Ruhe. |
1105 |
Erst gegen Abend, als die Sonne sich dem Horizonte näherte, gab es wieder Bewegung auf dem Deck. Die Hitze hatte nachgelassen und ein leidlich frischer Luftzug war wach geworden. Die Ladies und Gentlemen kamen aus ihren Kabinen, um diese Frische zu genießen. |
1106 |
Auch der Ingenieur befand sich unter ihnen. Er hatte seine Frau und Tochter mit, welch letztere sich von ihrem Schrecken und dem unfreiwilligen Wasserbade vollständig erholt hatte. Diese drei Personen suchten die Indianer auf, da die beiden Damen denselben noch nicht gedankt hatten. |
1107 |
Der alte und der junge Bär hatten den ganzen Nachmittag mit echt indianischer Ruhe und Unbeweglichkeit auf derselben Kiste zugebracht, auf welcher sie schon gesessen hatten, als sie von Tante Droll begrüßt worden waren. |
1108 |
Er schob sich, von der dichten Finsternis begünstigt, an die Luke und setzte die Füße auf die schmale Treppe, welche hinabführte. Die zehn Stufen, welche sie hatte, waren schnell zurückgelegt. Nun untersuchte er die Diele, indem er sie betastete. |
1109 |
Er fand die Luke, welche weiter nach unten führte, und stieg die zweite Treppe hinab, welche mehr Stufen als die obere besaß. Unten angekommen, strich er ein Zündholz an und leuchtete um sich. Um sich genau zu orientieren, musste er weiter gehen und noch mehrere Hölzer verbrennen. |
1110 |
Der Raum, in welchem er sich befand, war mehr als manneshoch und führte fast bis in die Mitte des Schiffes. Durch keine Zwischenwand getrennt, hatte er die ganze Breite des untern Schiffskörpers von einer Seite zur andern. |
1111 |
Einige kleine Gepäckstücke lagen umher. Jetzt trat der Cornel an die Backbordseite und setzte den Bohrer, natürlich unter der Wasserlinie, an die Schiffswand. Unter dem kräftigen Drucke seiner Hand griff das Werkzeug ein und fraß schnell in dem Holze weiter. |
1112 |
Dann gab es einen harten Widerstand - das Blech, mit welchem der unter Wasser stehende Teil des Schiffes bekleidet war. Dieses musste mit dem Bohrer durchschlagen werden. Aber es waren zur schnelleren Füllung des Raumes wenigstens zwei Löcher nötig. |
1113 |
Der Cornel bohrte also zunächst möglichst weit hinten ein zweites, auch bis auf das Blech. Dann hob er einen der harten Steine auf, welche als Ballast dalagen, und schlug damit so lange auf den Griff des Bohrers, bis dieser durch das Blech gedrungen war. |
1114 |
Sofort drang das Wasser herein und benetzte ihm die Hand; aber als er den Bohrer mit einiger Anstrengung zurückgezogen hatte, traf ihn ein starker, kräftiger Wasserstrahl, so dass er schnell weichen musste. |
1115 |
Das Klopfen war bei dem Geräusch, welches die Maschine machte, ganz unmöglich zu hören gewesen. Nun schlug er auch das Blech des ersten Loches, welches der Treppe näher war, durch und kehrte nach oben zurück. |
1116 |
Er hatte den Bohrer in der Hand behalten und warf ihn erst, als er sich vor der oberen Treppe befand, weg. Warum sollte er ihn erst noch mit hinaufnehmen! Bei den Seinen angekommen, wurde er leise gefragt, ob es gelungen sei. |
1117 |
Er antwortete bejahend und erklärte, nun sofort nach der Kabine Nummer eins zu schleichen. Der Salon und das daran stoßende Rauchzimmer lagen auf dem Hinterdeck, an beiden Seiten die Kabinen. Jede derselben hatte eine eigene, in den Salon führende Tür. |
1118 |
Die Außenwände, aus leichtem Holzgetäfel bestehend waren mit ziemlich großen Fenstern versehen, deren Öffnungen jetzt nur mit Gaze verschlossen waren. Zwischen jeder Kabinenseite und dem betreffenden Schiffsborde führte ein schmaler Gang hin, der leichteren Passage wegen. |
1119 |
Die Kabine Nummer eins war die erste, lag also an der Ecke. Er legte sich auf den Boden und kroch vorsichtig nach vorn, hart an der Reling, also am Schiffsrande, um von dem hin und her spazierenden Offizier nicht bemerkt zu werden. Er erreichte sein Ziel glücklich. |
1120 |
Durch die Gaze des ersten Fensters fiel ein leiser Schein heraus. Es brannte Licht in der Kabine. Sollte Butler noch wach sein, vielleicht lesen? Aber der Cornel überzeugte sich, dass auch in den andern Kabinen Licht war, und das beruhigte ihn. |
1121 |
Er hätte vor Freude über das, was er sah, laut aufjubeln mögen. An der linken Wand hing über dem Bette ein brennendes, nach unten, um den Schläfer nicht zu stören, verhülltes Nachtlämpchen. Darunter lag, fest schlafend, mit dem Gesichte nach der Wand gekehrt, der Ingenieur. |
1122 |
Man kann sich den Eindruck, den diese Worte hervorbrachten, denken. Es kam ein Neuer dazu. Der Ingenieur hatte vor allen Dingen Frau und Tochter ans Ufer gebracht; dann war er auf das Schiff zurückgekehrt, um seinen Anzug zu vervollständigen. |
1123 |
Daraus erklärte sich nun alles. Der Cornel war der Dieb und hatte das Schiff angebohrt, um noch vor der Entdeckung des Diebstahles mit seinen Leuten an das Land entkommen zu können. Dem Neger sollte sein Verrat nicht ungestraft hingehen. |
1124 |
Die Passagiere kehrten also von dem unwirtlichen Ufer an Bord zurück und machten es sich bequem. Der Zeitverlust kümmerte sie nicht, ja, viele freuten sich sogar über die interessante Unterbrechung der langweiligen Reise. |
1125 |
Neben dem Feuer standen zwei ausgehöhlte Riesenkürbisse mit gegorenem Honigwasser, also Met. Wer Lust dazu hatte, schöpfte sich einen solchen Trunk oder nahm sich einen Becher voll Fleischbrühe aus dem Kessel. |
1126 |
Die Gesellschaft schien sich sehr sicher zu fühlen, denn keiner gab sich die Mühe, leise zu sprechen. Hätten diese Leute die Nähe eines Feindes angenommen, so wäre das Feuer wohl nach indianischer Weise genährt worden, so dass es eine nur kleine, nicht weit sichtbare Flamme gab. |
1127 |
An der Wand des Hauses lehnten Äxte, Beile, große Sägen und andres Handwerkszeug, aus welchem sich erraten ließ, dass man eine Gesellschaft von Rafters, also von Holzhauern und Flößern, vor sich habe. Diese Rafters sind eine ganz eigene Art der Hinterwäldler. |
1128 |
Sie stehen zwischen den Farmern und Fallenstellern mitten inne. Während der Farmer zur Zivilisation in näherer Beziehung steht und zu den sesshaften Leuten gehört, führt der Trapper, der Fallensteller ein beinahe wildes Leben, ganz ähnlich dem Indianer. |
1129 |
Auch der Rafter ist nicht an die Scholle gebunden und führt ein freies, fast unabhängiges Dasein. Er streift aus einem Staate in den andern und aus einer County in die andre. Menschen und deren Wohnungen sucht er nicht gern auf, weil das Gewerbe, welches er treibt, eigentlich ein ungesetzliches ist. |
1130 |
Der Rafter ist ein nicht gern gesehener Gast. Zwar ist es wahr, dass manchem neuen Ansiedler der dichte Wald, den er vorfindet, zu schaffen macht, und dass er froh wäre, denselben gelichtet vorzufinden, aber der Rafter lichtet nicht. |
1131 |
Dennoch bleibt der Rafter meist unbelästigt, denn er ist ein kräftiger und kühner Gesell, mit welchem in der Wildnis, fern von aller Hilfe, nicht so leicht jemand anzubinden wagt. Allein kann er natürlich nicht arbeiten, sondern es tun sich stets mehrere, meist vier bis acht oder zehn zusammen. |
1132 |
Es war mir, als ob ich einen erschrockenen Ruf meines Sohnes hörte, aber ich achtete leider nicht darauf. Beim Eintritte in die Stube sah ich meine Leute gebunden und geknebelt am Herde liegen, und zu gleicher Zeit wurde ich gepackt und niedergerissen. |
1133 |
Die Halunken hatten sich übrigens über meinen Brandy hergemacht; sie tranken sich einen solchen Rausch an, dass sie nicht mehr Menschen, auch nicht Tiere waren, sondern zur Bestie wurden. Sie beschlossen, uns sterben zu lassen. |
1134 |
Als Extrastrafe für den Schlag, den der Anführer von mir erhalten hatte, verlangte er, dass auch wir geschlagen, das heißt tot gepeitscht werden sollten. Zwei stimmten ihm bei, drei waren dagegen; er setzte es aber durch. Wir wurden hinaus an die Fenz geschafft. |
1135 |
Die Frau kam zuerst daran. Man band sie fest und schlug mit Knütteln auf sie los. Einer fühlte doch eine Art von Mitleid mit ihr und gab ihr eine Kugel in den Kopf. Den Söhnen erging es schlimmer als ihr, sie wurden buchstäblich totgeprügelt. |
1136 |
Ich lag dabei und musste es mit ansehen, denn ich sollte der letzte sein. Leute, ich sage euch, dass jene Viertelstunde mir zur Ewigkeit geworden ist. Es kann mir nicht einfallen, zu versuchen, euch meine Gedanken und Gefühle zu beschreiben. |
1137 |
Die Worte Wut und Grimm sagen gar nichts, es gibt eben kein passendes Wort. Ich war wie wahnsinnig und konnte mich doch nicht rühren, nicht bewegen. Also endlich kam ich an die Reihe. Ich wurde aufgerichtet und angebunden. |
1138 |
Nein, denn es war nur einer. Er kannte natürlich die Verhältnisse nicht und hatte gemeint, dass ein Dieb oder sonstiger Verbrecher gezüchtigt werde. Aus der Haltung meines Kopfes hatte er schon von weitem gesehen, dass mein Leben keinen Penny wert sei, wenn er nicht schon aus der Ferne Einhalt tue. |
1139 |
Oder hättest du es etwa anders gemacht? Aus ihrer eiligen Flucht erkannte er zwar, dass sie ein böses Gewissen hatten, aber die eigentlichen Umstände wusste er doch nicht. Dann sah er mich hängen und die losgebundenen Leichen, die er vorher nicht hatte bemerken können, am Boden liegen. |
1140 |
Nun wusste er freilich, dass ein Verbrechen geschehen war; aber er konnte den Fliehenden nicht nach, weil er sich vor allen Dingen meiner anzunehmen hatte. Dabei war auch gar nichts versäumt, denn ein Winnetou weiß seine Leute auch später mit Sicherheit zu finden. |
1141 |
Als ich erwachte, kniete er neben mir, gerade wie der Samariter in der heiligen Schrift. Er hatte mich von den Fesseln und dem Knebel befreit, verbot mir aber, zu sprechen, eine Untersagung, auf welche ich nicht achtete. Ich fühlte wahrhaftig keine Schmerzen und wollte auf und fort, um mich zu rächen. |
1142 |
Er fand ihn doch, obgleich er erst des Abends dort ankam, und brachte ihn und den Knecht gegen Morgen zu mir. Dann verließ er mich, um die Spuren der Mörder zu verfolgen. Ich musste ihm heilig versprechen, nicht eigenmächtig zu handeln, da dies zwecklos sei. |
1143 |
Er blieb über eine Woche aus. Ich hatte indessen meine Toten begraben und dem Nachbar Auftrag gegeben, meinen Besitz zu verkaufen. Meine zerschlagenen Glieder waren noch nicht heil; aber ich hatte mit wahren Schmerzen auf die Rückkehr des Apachen gewartet. |
1144 |
Nun legten sie sich auf die Erde nieder und krochen nach dem Feuer hin. Dabei benutzten sie als Deckung die Büsche, welche auf der Lichtung standen. Die Tramps saßen nahe am Bache, dessen Ufer mit dichtem Schilfe bewachsen war; das letztere reichte bis an das Lager hin. |
1145 |
Es galt, durch die hohen, dürren Halme zu kommen, ohne das im Schilfe fast unvermeidliche Geräusch zu verursachen. Auch durften sich die Spitzen desselben nicht bewegen, weil dadurch leicht die Entdeckung herbeigeführt werden konnte. |
1146 |
Der alte Bär vermied diese Gefahr dadurch, dass er sich einfach den Weg schnitt. Er legte mit dem scharfen Messer das Schilf vor sich nieder und hatte dabei noch Aufmerksamkeit für den Missourier übrig, um diesem das Nachfolgen zu erleichtern. |
1147 |
Wir hätten auf sie warten sollen, und es wäre uns sehr leicht gewesen, Tom sein Geld abzunehmen. Statt aber das zu tun, haben wir diesen weiten Ritt gemacht und sitzen nun hier am Bärenflusse, ohne zu wissen, ob wir es bekommen werden. |
1148 |
Plötzlich hörte ich einen Schrei, so entsetzlich, so fürchterlich, dass er mir durch Mark und Bein ging. Er kam von der Blockhütte her, hinter welcher Bruns steckte. Mir wurde bange um ihn, und ich schlich mich also um das Lager nach der Hütte. |
1149 |
Es war so dunkel, dass ich mich vorwärts tasten musste. Dabei traf ich mit der Hand auf einen menschlichen Körper, welcher in einer Blutlache lag. Ich fühlte an der Kleidung, dass es Bruns war, und erschrak auf das heftigste. |
1150 |
Er hatte im Rücken einen Stich, welcher gerade ins Herz gedrungen sein muss, war also tot. Was konnte ich tun? Ich leerte seine Taschen, nahm sein Messer und seinen Revolver zu mir und ließ ihn liegen. |
1151 |
Warum? Habt ihr denn nicht gehört, dass diese Roten unsern Lagerplatz kennen? Natürlich werden sie uns überfallen wollen, wahrscheinlich am Morgen. Da sie sich aber sagen müssen, dass wir den Toten vermissen und infolgedessen Verdacht schöpfen werden, so ist es möglich, dass sie noch eher kommen. |
1152 |
Bei dem Worte vorwärts, welches er nun laut ausrief, drehte er sich blitzschnell um und tat einen Sprung nach der Stelle, an welcher er den Kopf gesehen hatte. Der Tonkawahäuptling war ein äußerst vorsichtiger, erfahrener und scharfsinniger Mann. |
1153 |
Der Indianer hatte sein Messer gezogen, um dem Alten beizustehen, er musste aber einsehen, dass er gegen diese Übermacht nichts auszurichten vermöge. Er konnte nichts weiter tun, als sehen, was mit dem Missourier geschehen werde, und dann die Rafters benachrichtigen. |
1154 |
Er ging die Umgebung des Feuers ab und bemerkte zu seiner Beruhigung keinen Menschen. Dann gebot er, den Mann an das Feuer zu bringen. Dieser hatte alle seine Kräfte angestrengt, sich loszumachen, doch vergebens. Er sah ein, dass er sich in sein Schicksal fügen müsse. |
1155 |
Allzu schlimm konnte dasselbe nicht sein, da er den Tramps ja bis jetzt nichts zuleide getan hatte. Übrigens musste ihn der Gedanke an den Indianer beruhigen. Dieser ging gewiss schnell fort, um Hilfe herbeizuholen. |
1156 |
Während vier Mann den Gefangenen am Boden festhielten, beugte sich der Cornel nieder, um ihm in das Gesicht zu sehen. Es war ein langer, langer, scharf und nachdenklich forschender Blick, mit dem er dies tat. |
1157 |
Ja, gerade so, wie ihr unsern Kameraden ermordet habt. Es handelt sich nur darum, ob du, gerade so wie er, durch das Messer stirbst oder ob wir dich da im Flusse ersäufen. Große Zeremonien aber werden keinesfalls gemacht. |
1158 |
Der Indianer rannte fort. Die vier befestigten die Zügel ihrer Pferde an die Bäume und schritten dann so schnell wie möglich dem Lager der Tramps zu. Schon nach kurzer Zeit wurde es vor ihnen heller, und bald sahen sie das Feuer zwischen den Stämmen der Bäume leuchten. |
1159 |
Rechts erblickten sie auf der Lichtung die Pferde. Sie hatten sich bis jetzt keine Mühe gegeben, nicht gehört und gesehen zu werden. Nun aber legten sie sich nieder und näherten sich dem Feuer kriechend. |
1160 |
Er erhob sich und sprang nach dem Feuer zu und warf drei, vier Tramps zur Seite, um zu dem Roten zu kommen, welcher eben, wie schon berichtet, zum Schlage ausholte. Er kam gerade noch zur rechten Zeit und hieb den Cornel mit dem Kolben nieder. |
1161 |
Zwei, drei Tramps, welche beschäftigt waren, den Missourier zu binden und zu knebeln, um ihn dann in den Fluss zu werfen, fielen unter seinen nächsten Streichen. Dann zog er, das noch nicht abgeschossene Gewehr wegwerfend, die Revolver und feuerte auf die übrigen Feinde. |
1162 |
Der wundersame Jäger schrie und wetterte geradezu für hundert Personen. Seine Bewegungen waren so ungemein schnell, dass keiner der Feinde mit Sicherheit auf ihn zu schießen vermocht hätte. Aber es gab auch keinen, der dies beabsichtigte. |
1163 |
Als sie die Schüsse unten am Flusse fallen hörten, glaubten sie diese beiden in Gefahr. Um sie womöglich zu retten, griffen sie zu den Waffen, verließen das Haus und rannten, so gut die Finsternis es ihnen gestattete, der Gegend zu, in welcher die Schüsse gefallen waren. |
1164 |
Dabei schrien sie aus Leibeskräften, um dadurch die Tramps von den Bedrohten abzuschrecken. Ihnen voran lief der junge Bär, da er die Stelle, an welcher die Tramps lagerten, genau kannte. Er ließ von Zeit zu Zeit seine Stimme hören, um die Rafters in der rechten Richtung zu erhalten. |
1165 |
Da legte man den Cornel auf ihn, und sofort kam ihm der Gedanke, diesen auch zu befreien. Als der Rothaarige aufgerichtet wurde, rollte sich der angeblich Tote nach, so dass er hinter ihm zu liegen kam, dem die Hände hinten zusammengebunden waren. |
1166 |
Als er mich niederwarf und mit Füßen trat, stach ich ihm mit dem Messer in die Wade, hüben hinein und drüben heraus, so, dass das Messer stecken blieb. Er mag den Unterschenkel entblößen. Ist er der Richtige, was ich gar nicht bezweifle, so müssen die zwei Narben noch zu sehen sein. |
1167 |
Dabei kam ihm der Gedanke, welchen Vorteil ihm die Blockhütte biete. Er war schon dort gewesen und konnte sie also gar nicht verfehlen. Gewiss enthielt sie den größten Teil des Eigentums der Rafter; er konnte sich an ihnen rächen. |
1168 |
Darum beschleunigte er seine Schritte, soweit die Dunkelheit dies zuließ. Oben angekommen, blieb er zunächst lauschend stehen. Es war ja doch möglich, dass ein Rafter oder einige hier zurückgeblieben waren. |
1169 |
Da alles still war, näherte er sich dem Blockhause, horchte abermals und tappte sich nach der Tür. Eben war er dabei, die Vorrichtung, durch welche dieselbe verschlossen wurde, zu untersuchen, als er plötzlich bei der Kehle gepackt und niedergerissen wurde. |
1170 |
Wir fanden uns ganz zufällig da unten zusammen, drei Personen nur; wo die andern sind, das wissen wir nicht. Wir sahen, dass die Rafters am Feuer blieben, und kamen auf den Gedanken, uns hierher zu machen und ihnen einen Streich zu spielen. |
1171 |
Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, machte er Licht und leuchtete in dem Raume umher. Über den Lagerstätten waren Bretter angebracht, und auf denselben lagen Hirschtalglichter, wie sie von den Westmännern eigenhändig gegossen werden. |
1172 |
Jeder der vier brannte eines für sich an, und nun wurde in aller Eile nach brauchbaren Gegenständen gesucht. Es gab da einige Gewehre, gefüllte Pulverhörner, Äxte, Beile, Sägen, Messer, Pulver, Kartons mit Patronen, Fleisch und andern Proviant. |
1173 |
Jeder nahm davon zu sich, was er brauchte und was ihm gefiel; dann wurden die brennenden Lichter in das Schilfrohr gesteckt, aus welchen die Lagerstätten bestanden. Diese fassten im Nu Feuer, und die Brandstifter eilten hinaus. |
1174 |
Sie ließen die Tür offen, damit der nötige Zug vorhanden sei, und blieben draußen stehen, um zu lauschen. Es war nichts zu hören, als das Knistern des Feuers und das Rauschen der Luft in den Wipfeln der Bäume. |
1175 |
Er wird zu finden sein. Da seht, hier führt die Rutschbahn hinab. Wollen untersuchen, ob wir hinab können. Soeben schlug die Flamme durch das Dach und erleuchtete den ganzen Platz. Am Rande des Waldes, nach dem Flusse zu, war eine Lücke zwischen den Bäumen zu bemerken. |
1176 |
Die Tramps eilten auf dieselbe zu und sahen, dass ihr Anführer ganz richtig vermutet hatte. Es führte eine gerade, steile, schmale Bahn hinab, neben welcher ein Seil befestigt war, an welchem man sich halten konnte. |
1177 |
Die drei ließen sich hinab. Als sie unten am Flussufer ankamen, hörten sie von ferne das Geschrei dreier Stimmen, welches von dem alten Missourier und dessen beiden Begleitern, die nach dem Blockhause vorangegangen waren, herrührte. |
1178 |
Nun schnell, dass wir ein Boot finden! Sie brauchten nicht lange zu suchen, denn gerade da, wo sie standen, lagen drei Fahrzeuge angebunden. Es waren auf indianische Weise aus Baumrinde gebaute und mit Harz gedichtete Kanoes, jedes vier Personen fassend. |
1179 |
Dann, als sie die Grenze desselben unten erreicht hatten, steuerte der Cornel nach der Mitte des Flusses, gerade als die Rafters mit den Pferden und Gefangenen die brennende Hütte erreichten. Diese erhoben kein geringes Klagen, als sie ihre Habe im Feuer zu Grunde gehen sahen. |
1180 |
Ich weiß, dass es da oben reiche, sehr reiche Minen gibt, alte Minen, aus den Zeiten der Vorindianer, welche den Reichtum gar nicht ausbeuteten, und Erzgänge und Erzlager, welche niemals in Angriff genommen worden sind. |
1181 |
Ich kenne mehrere dieser Gänge und Lager und will jetzt mit einem tüchtigen Bergingenieur hinauf, damit wir uns die Sache ansehen, ob sie im großen betrieben werden kann, und ob wir die nötige hydraulische Kraft dem See zu entnehmen vermögen. |
1182 |
Ich will Euch nicht mit meiner Lebensgeschichte belästigen, das könnt Ihr später und gelegentlich erfahren; aber Ihr sollt mit mir zufrieden sein. Ich will es Euch Zeit meines Lebens danken, wenn Ihr mir zwei Wünsche erfüllt. |
1183 |
Vergebt mir nicht nur scheinbar, sondern in Wirklichkeit, dass Ihr mich in so schlechter Gesellschaft gefunden habt, und gebt mir die Erlaubnis, morgen früh meinen erschossenen Bruder zu begraben. Er soll nicht im Wasser verfaulen und von den Fischen zerrissen werden. |
1184 |
Die Haltung dieses Mannes war diejenige eines geübten Reiters; sein Gesicht - ja, dieses Gesicht war eigentlich ein sehr sonderbares. Der Ausdruck desselben war geradezu dumm zu nennen, und zwar nicht etwa ausschließlich durch die Nase, welche zwei ganz verschiedene Seiten hatte. |
1185 |
Auf der linken Seite war sie weiß und hatte die leicht gebogene Gestalt einer gewöhnlichen Adlernase; auf der rechten Gesichtsseite war sie dick, wie geschwollen und von einer Farbe, welche man weder rot noch grün noch blau nennen konnte. |
1186 |
Eingerahmt wurde dieses Gesicht von einem Kehlbarte, dessen lange dünne Haare vom Halse aus bis über das Kinn hervorstarrten. Der Bart wurde gestützt durch zwei riesige Vatermörder, deren bläulicher Glanz verriet, dass der Reiter es in der Prairie vorzog, Gummiwäsche zu tragen. |
1187 |
An die Steigbügelriemen war rechts und links je ein Gewehr, dessen Kolben neben dem Fuße des Reiters auf dem schuhartigen Bügel stand, geschnallt. Quer vor dem Sattel hing eine lange Blechrolle oder Kapsel, deren Zweck wohl kaum zu erraten war. |
1188 |
Auf dem Rücken trug der Mann einen Ledertornister mittlerer Größe und darauf einige blecherne Gefäße und sonderbar geformte Eisendrähte. Der Gürtel war breit, auch von Leder, und glich einer sogenannten Geldkatze. |
1189 |
Vor ihm hingen mehrere Beutel nieder, vorn blickten die Kolben oder Griffe eines Messers und mehrerer Revolver heraus, und hinten waren zwei Taschen, welche man für Patronenbehälter halten musste, daran befestigt. |
1190 |
Das Pferd, war ein gewöhnlicher Gaul, nicht zu gut und nicht zu schlecht für die Strapazen des Westens; es war an ihm gar nichts Besonderes zu bemerken, als dass er als Schabracke eine Decke trug, welche sicherlich viel Geld gekostet hatte. |
1191 |
Jetzt wurden auf der Höhe des nächsten Wellenhügels zwei Gestalten, welche dort im Grase gelegen hatten, sichtbar, eine lange und eine sehr kleine. Beide waren ganz gleich gekleidet, ganz in Leder wie echte, richtige Westmänner, selbst ihre breitkrempigen Hüte waren von Leder. |
1192 |
Die Gestalt des Langen stand steif wie ein Pfahl auf dem Hügel; der Kleine war buckelig und hatte eine Habichtsnase, deren Rücken fast so scharf wie ein Messer war. Auch ihre Gewehre waren von gleicher Konstruktion, alte, sehr lange Rifles. |
1193 |
Nach kurzer Zeit begannen die Pferde zu schnauben, und gleich darauf sah man den Indianer kommen. Er befand sich in den besten Mannesjahren und trug die gewöhnliche indianische Lederkleidung, welche an einigen Stellen zerrissen und an andern mit frischem Blute befleckt war. |
1194 |
Waffen hatte er keine. Auf jede seiner Wangen war eine Sonne tätowiert; an seinen beiden Handgelenken war die Haut aufgeschunden. Er musste gebunden gewesen sein und die Fesseln gesprengt haben. Jedenfalls befand er sich auf der Flucht und wurde verfolgt. |
1195 |
Wir kamen vorgestern dort an, suchten die Gegend ab und überzeugten uns, dass kein feindliches Wesen vorhanden sei. Wir fühlten uns also sicher und schlugen unser Lager bei den Gräbern auf. Gestern jagten wir, um Fleisch zur Speise zu haben, und heute nahmen wir die Feier vor. |
1196 |
Sie hatten die Spuren gesehen, welche während der Jagd von unsern Füßen und den Hufen unsrer Pferde zurückgelassen worden waren, und fielen während des Tanzes so plötzlich über uns her, dass wir nur wenige Augenblicke zum Widerstande fanden. |
1197 |
Sie waren mehrere hundert Köpfe stark; wir töteten einige von ihnen; sie erschossen acht von uns; ich wurde mit den übrigen vier überwältigt und gebunden. Man hielt Gericht über uns, und wir erfuhren, dass wir heute Abend am Feuer gemartert und dann verbrannt werden sollten. |
1198 |
Sie lagerten sich bei den Gräbern und trennten mich von meinen Kriegern, damit ich nicht mit denselben sprechen könne. Man band mich an einem Baume fest und stellte einen weißen Wächter zu mir; aber der Riemen, welcher mich hielt, war zu schwach; ich zerriss ihn. |
1199 |
Keinen Schritt weiter, oder ihr hört meine Büchse reden! Sie hielten überrascht an und schauten nach oben, ohne aber jemand zu erblicken, da der Buckelige im tiefen Grase lag. Doch gehorchten sie seinem Befehle, und der Vorderste antwortete. |
1200 |
Man koppelte also die ledigen Pferde zusammen, stieg auf und ritt davon, zunächst gerade nordwärts, um dann nach Osten umzubiegen. Der Häuptling machte den Führer, da er den Lagerplatz der Tramps kannte. |
1201 |
Nun wurde aufgebrochen; aber man ritt nicht bis ganz an den Wald heran. Die Vorsicht gebot, die Pferde im Freien zu lassen. Hölzerne Pflöcke, um die Pferde mittels der Zügel an den Boden zu fesseln, führt jeder Westmann mit sich. |
1202 |
Auf diese Weise band man die Tiere an und wendete sich dann im Gänsemarsch dem Walde zu. Der Rote schritt voran. Sein Fuß berührte den Boden so leise, dass das Ohr nichts davon zu vernehmen vermochte. |
1203 |
Während er mit der ausgestreckten einen Hand sich vorwärts tastete, zog er mit der andern die Weißen hinter sich her. Dem Lord wurde die Zeit sehr lang, denn in solchen Lagen dehnen die Minuten sich zu Stunden aus. |
1204 |
Endlich blieb der Häuptling stehen und flüsterte: Meine Brüder mögen lauschen. Ich habe die Stimmen der Tramps vernommen. Sie horchten und bemerkten bald, dass der Rote sich nicht geirrt hatte. Man hörte sprechen, wenn auch aus weiter Ferne, so dass die Worte nicht verstanden werden konnten. |
1205 |
Er sagte, der Reichtum sei ein Raub an den Armen und man müsse also den Reichen alles nehmen, was sie haben. Er behauptete, der Staat dürfe von dem Untertan keine Steuern erheben und man müsse ihm also alles Geld, welches er in den Kassen habe, wieder wegnehmen. |
1206 |
Ich habe nicht weiter auf seine Worte geachtet. Er sprach noch von der großen, vollen Kasse einer Eisenbahn, welche leer gemacht werden müsse. Dann aber habe ich nicht mehr auf seine Worte gehört, denn ich sah den Ort, an welchem sich meine roten Brüder befinden. |
1207 |
Das ist sehr gut, denn nun sind sie vorbereitet und werden, wenn wir ihnen nahe kommen, uns nicht etwa durch eine Bewegung der Freude und Überraschung verraten. Diese Tramps sind keine Westmänner. Es ist eine ungeheure Dummheit von ihnen, die Gefangenen nicht in ihre Mitte zu nehmen. |
1208 |
Der Häuptling voran, huschten die vier von Baum zu Baum und gaben sich dabei Mühe, möglichst im Schatten der Stämme zu bleiben. So näherten sie sich schnell dem Lagerplatze, auf welchem sie jetzt acht Feuer zählen konnten. |
1209 |
Wir würden in einigen Augenblicken ihre Wächter niedergemacht und ihre Banden zerschnitten haben; dann schnell fort durch den Wald und zu den Pferden. Möchte den Tramp sehen, welcher das verhindern wollte! Also ich schleiche mich hin. |
1210 |
Auch die andern drei Wächter bewegten sich, einer nach dem andern, und sonderbarerweise so, dass ihre Köpfe in den Schatten der betreffenden Bäume zu liegen kamen. Dabei war kein Laut, nicht das leiseste Geräusch zu hören gewesen. |
1211 |
Mein Messer traf die Wächter mitten in das Herz, und dann habe ich ihnen die Skalps genommen. Jetzt schleiche ich mich wieder hin, um mit meinen roten Brüdern zu den Pferden zu gehen, bei denen sich auch die unsrigen noch befinden. |
1212 |
Es gab eine Scene ganz unbeschreiblicher Verwirrung. Alles rannte durcheinander, aber es war kein Feind zu sehen, und erst als man sich nach längerer Zeit einigermaßen beruhigt hatte, stellte es sich heraus, dass nur die erbeuteten Indianerpferde fehlten. |
1213 |
Unbegreiflich war es den Tramps, dass die Ermordung der Wächter so vollständig lautlos hatte vor sich gehen können. Wie hätten sie sich aber gewundert, wenn sie gewusst hätten, dass es nur ein einziger gewesen war, der dieses indianische Meisterstück fertig gebracht hatte. |
1214 |
Aber sie sind wohl auf dem Rückwege von der Nacht überrascht worden und haben sich verirrt. Oder haben sie sich gelagert, um sich nicht zu verirren, und stoßen morgen früh zu uns. Jedenfalls werden wir ihre Fährte treffen, denn sie nahmen genau die Richtung, welche wir einhalten müssen. |
1215 |
Der Himmel oder vielmehr die Wolken sorgten dafür, dass die betreffende Spur verwischt wurde, denn es stellte sich später ein, wenn auch leichter, aber mehrere Stunden anhaltender Regen ein, welcher alle Huf- und Fußeindrücke verwischte. |
1216 |
So ein Roter riecht die Richtung und den Weg förmlich. Und, was die Hauptsache ist, jetzt hat er sein eigenes Pferd wieder. Dieses Tier weicht sicher keinen Schritt von der Fährte ab, welche sein Herr heute gelaufen ist. Darauf könnt Ihr Euch verlassen. |
1217 |
Bill wollte gar nicht glauben, dass man eine so bedeutende Strecke zurückgelegt habe. Aber mit dem Regen hatte sich ein scharfer Luftzug erhoben, welcher die Reiter von hinten traf und den Pferden das Laufen wesentlich erleichterte. |
1218 |
Schon kurze Zeit nach der erwähnten Frage und Antwort fiel das Pferd des Häuptlings plötzlich aus dem Galopp in einen langsamen Schritt, blieb dann sogar, ohne von dem Reiter angehalten worden zu sein, stehen und stieß ein leises Schnauben aus. |
1219 |
Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist dieses Land bei der öffentlichen Vermessung übersehen worden und verdankt den erwähnten Vorzug einem Fehler in der Bestimmung der Grenzlinien der benachbarten Territorien. |
1220 |
Es ist infolgedessen keinem Staate und keinem Territorium zugeteilt, ohne Regierung irgendwelcher Form, und also auch der Jurisdiktion keines Gerichtes unterworfen. Gesetz, Recht und Steuern sind dort unbekannte Dinge. |
1221 |
Die Männer gehorchten dieser Aufforderung mit löblicher Bereitwilligkeit und begaben sich in einen Raum, in welchem auf Holzrahmen gespannte Häute hingen, die den Bediensteten der Farm sowohl als Hängematten, wie auch als Schlafstellen dienten. |
1222 |
Für Bequemlichkeit war durch weiche Unterlagen und Decken gesorgt. In diesen echt westlichen Bettstellen schliefen die Männer auf das prächtigste. Siebentes Kapitel. Im Kampf um Butlers Farm In früher Morgenstunde wurden die Verteidiger der Farm wieder geweckt. |
1223 |
Es war für viele Bewohner eingerichtet, aus Backsteinen gebaut, sehr lang und tief, und bestand aus dem Parterre und einem oberen Stockwerke mit plattem Dache. Die Fenster waren sehr hoch, doch so schmal, dass ein Mensch nicht hindurchkriechen konnte. |
1224 |
Diese Vorsichtsmaßregel war in einer Gegend, welche oft von räuberischen Indianern durchzogen wird, sehr geboten. In jenen Gegenden kommt, oder wenigstens kam es oft vor, dass ein einsames Haus, eine Farm, mehrere Tage lang von den Bewohnern gegen solches Gesindel verteidigt werden musste. |
1225 |
Es gibt im ganzen Westen keinen Farmer, welcher einen Hungrigen von sich weist. Bei allen Naturvölkern, und in allen Gegenden, wo es keine Hotels und Gasthäuser gibt, wird dieser Mangel durch die schöne Sitte der Gastfreundschaft ausgeglichen, so auch im fernen Westen. |
1226 |
Es wäre nicht nur grausam gegen den Bedürftigen sondern auf der andern Seite auch eine Schande für die Farm, vielmehr für den Besitzer, einen Fremden, welcher um Aufnahme bittet, dieselbe zu verweigern. |
1227 |
Die Leute wurden also eingelassen, und nachdem das Thor wieder verriegelt worden war, zu den Sitzen gewiesen, welche sich an der Seite des Hauses befanden. Dieses letztere schien aber nicht nach ihrer Absicht zu sein. |
1228 |
Sie gaben sich zwar den Anschein der Unbefangenheit, doch konnte es nicht entgehen, dass sie das Haus und dessen Umgebung mit scharf forschenden Blicken betrachteten, und sich dann gegenseitig in bezeichnender Weise anschauten. |
1229 |
Einer schob den andern dem Verderben entgegen, denn sobald ein Pferd landete, wurde der Reiter desselben von der Farm aus durch eine Kugel aus dem Sattel geholt. In der Zeit von kaum zwei Minuten gab es zwanzig bis dreißig ledige Pferde, welche hüben führerlos umhersprangen. |
1230 |
Der Lord, welcher zwei Gewehre besaß, gab noch zwei Schüsse ab; die andern bekamen Zeit, rasch zu laden, wenn auch nur einen Lauf, und feuerten nun nicht salvenmäßig, sondern ad libitum und unaufhörlich in den Wirrwarr hinein. |
1231 |
Das vermochten die Tramps nicht auszuhalten; sie stoben auseinander und ließen ihre Toten und Verwundeten liegen, da es höchst gefährlich für sie war, sich bei und mit denselben aufzuhalten. Die ledigen Pferde rannten instinktmäßig dem Farmhause zu, und man öffnete das Tor, um sie hereinzuholen. |
1232 |
Als dann die Tramps doch den Versuch machten, sich ihrer Verwundeten anzunehmen, wurden sie nicht belästigt, da es einem Akt der Menschlichkeit galt. Man sah, dass sie dieselben unter eine ferne Baumgruppe schafften, um sie dort, so gut die Verhältnisse es erlaubten, zu verbinden. |
1233 |
Währenddessen war es Mittag geworden, und es wurde Speise und Trank unter die tapferen Verteidiger verteilt. Dann sah man, dass die Tramps sich entfernten, indem sie die Beschädigten unter den Bäumen liegen ließen; sie ritten nach Westen. |
1234 |
Von dieser Stelle aus nun waren sowohl die Angreifer als auch diejenigen, welche angegriffen werden sollten, mit unbewaffnetem Auge zu erkennen. Die ersteren schienen ziemlich betroffen zu sein, eine solche Anzahl von Indianern zum Schutze der Tiere vorzufinden. |
1235 |
Wie kam es, dass rote Männer dazu engagiert worden waren, und noch dazu in solcher Anzahl? Die Tramps stutzten. Bald aber bemerkten sie, dass die Indianer nur mangelhaft, weil nicht mit Feuergewehren, bewaffnet waren, und das beruhigte sie. |
1236 |
Die Anführer hielten eine kurze Beratung, und dann erfolgte der Befehl zum Angriff. Es war aus der Art und Weise desselben sofort zu ersehen, dass man sich nicht mit einem langen Fernkampfe aufhalten, sondern die Roten einfach niederreiten wollte. |
1237 |
Sie schienen sich in der Tragweite der Indianerwaffen zu irren und sich vor denselben sicher zu fühlen. Einer ihrer Anführer sprach auf sie ein, jedenfalls, um ihnen einen andern Plan mitzuteilen. Diese Pause benutzte der Osage. |
1238 |
Wenn ich Euch sage, dass die drei Personen, welche jetzt da draußen gefangen genommen worden sind, in keinerlei Gefahr schweben, so könnt Ihr meinen Worten glauben. Dennoch aber ersuche ich Euch, Ms. Butler nicht wissen zu lassen, was geschehen ist. |
1239 |
Die Sonne hatte jetzt den Horizont erreicht und ihre wie flüssiges Gold über die weite Ebene flutenden Strahlen trafen die Gruppe der Tramps in der Weise, dass man von der Farm aus jeden einzelnen deutlich zu erkennen vermochte. |
1240 |
Sie trafen keinerlei Vorbereitungen, weder zur Abreise, noch zum Nachtlager. Daraus war zu vermuten, dass sie die Gegend nicht zu verlassen gedachten, aber auch nicht da, wo sie sich jetzt befanden, bleiben wollten. |
1241 |
Die Flammen wurden nach Bedarf fort und fort durch die Schießscharten gespeist, weil dies diejenige Art und Weise war, bei welcher man sich nicht den Kugeln der Feinde bloßzustellen brauchte. Nun verging weit über eine Stunde, und nichts schien draußen sich zu regen. |
1242 |
Wir würden allerdings schlimm daran sein, wenn die Tramps auf den klugen Gedanken kämen, sich auf die Mauer zu werfen; aber ich traue ihnen die Schlauheit nicht zu, anzunehmen, dass wir so verwegen sind, gerade diesen Hauptverteidigungspunkt preiszugeben. |
1243 |
Doch blieb ein Knecht zurück, um zu wachen, und es sofort zu schließen, falls die Tramps sich nähern sollten. Die andern Knechte, und auch die Mägde standen an der nach dem Flusse zu liegenden Mauer bereit, einen etwaigen Angriff nach Kräften abzuwehren. |
1244 |
Diese hatten inzwischen den Kanal passiert, dessen Wasser nicht so kalt war, dass es ihnen hätte beschwerlich werden können. Unweit der Mündung, noch im Innern des Kanales, lag das kleine Boot, welches an einen Eisenhaken befestigt war. |
1245 |
Das Wasser ist uns nicht hinderlich, da es draußen auch nicht tiefer ist, als hier; aber die Finsternis, welche zwischen den Büschen und Bäumen herrscht, machte mir zu schaffen. Es war gar nichts zu sehen, und ich musste mich geradezu mit den Händen fortgreifen. |
1246 |
Das Ufer war hier nicht hoch. Er kroch leise hinauf. Jenseits der Büsche brannten an den beiden Mauerecken die Feuer, gegen die sich die Gegenstände in leidlich erkennbaren Umrissen abhoben. Höchstens zehn Schritte vom Ufer entfernt saßen vier Personen, die Gefangenen mit ihrem Wächter. |
1247 |
Weiter zurück sah der Kleine die Tramps in allen möglichen Stellungen ruhen. Er kroch, ohne das Gewehr wegzulegen, weiter, bis er sich hinter dem Wächter befand. Nun erst legte er es weg und griff zum Messer. Der Tramp musste sterben, ohne einen Laut ausstoßen zu können. |
1248 |
Die Kerle werden natürlich sofort hierher kommen, um sich der Gefangenen zu versichern, und das könnte für uns gefährlich werden. Kriechen wir also zunächst eine Strecke fort, nach rechts hinauf, um dem zu entgehen. |
1249 |
Die fünf bewegten sich vorsichtig am Ufer hin, bis sie eine geeignete Stelle fanden. Dort richteten sie sich auf, und jeder stellte sich hinter einen Baum, der ihm Deckung gewährte. Sie befanden sich im vollständigen Dunkel und hatten die Tramps deutlich genug vor sich, um genau zielen zu können. |
1250 |
Da legte Droll die Hand an den Mund und ließ ein kurzes, müdes Krächzen hören, wie von einem Raubvogel, welcher für einen Augenblick aus dem Schlaf erwacht. Dieser in der Prairie so häufige Ton konnte den Tramps nicht auffallen. |
1251 |
Sie waren nicht im Stande, die Gegner zu zählen; die Schar derselben erschien ihnen in dem von den Feuern nur dürftig erhellten nächtlichen Dunkel als eine doppelt und dreifach größere, als sie wirklich war. Das vermehrte ihre Angst, und die Flucht erschien ihnen der einzige Rettungsweg. |
1252 |
Der rote Cornel war so schlau gewesen, sich sofort im Gebüsch zu verstecken und von demselben aus die Scene zu beobachten. Er schlich sich wie eine Schlange von Strauch zu Strauch und hielt sich dabei immer im tiefen Dunkel, so dass er nicht gesehen werden konnte. |
1253 |
Die Sieger gaben sich alle Mühe, möglichst wenige entkommen zu lassen, aber die Zahl der Tramps war eine so große, dass ihnen, zumal sie sich endlich klugerweise eng beisammen hielten, der Durchbruch leicht gelingen musste. |
1254 |
Je weiter man sich von der Farm entfernte, desto geringer wurde der Schein der brennenden Feuer, und man war schließlich von einer solchen Finsternis umgeben, dass zwischen Freunden und Feinden gar nicht mehr unterschieden werden konnte. |
1255 |
Firehand sah sich gezwungen, zum Sammeln zu rufen; es dauerte Minuten, bevor er seine Leute vereinigen konnte, und das gab den Flüchtigen einen Vorsprung, welcher, da man sie nicht sehen konnte, unmöglich auszugleichen war. |
1256 |
Zwar drangen die Verfolger in der bisherigen Richtung weiter, aber bald hörten sie ein höhnisches Geheul der Tramps, und der Hufschlag vieler davonjagender Pferde belehrte sie, dass alle weitere Mühe vergeblich sein werde. |
1257 |
Die Indianer hatten sich nicht an der Verfolgung beteiligt. Nach den Skalps der Weißen lüstern, waren sie zurückgeblieben und hatten den Kampfplatz und das daran stoßende Gebüsch bis an den Fluß sorgfältig abgesucht, um jeden noch lebenden Tramp zu töten und zu skalpieren. |
1258 |
Ellen Butler war selbstverständlich sofort aus ihrem Verstecke geholt worden. Das junge Mädchen hatte sich nicht gefürchtet und sich überhaupt vom Augenblicke der Gefangennahme an erstaunlich ruhig und besonnen gezeigt. |
1259 |
Da an eine Rückkehr der Tramps nicht zu denken war, so konnte man, wenigstens was die Indianer betraf, den Rest der Nacht der Siegesfreude widmen. Sie erhielten zwei Rinder, welche geschlachtet und verteilt wurden, und bald ging von den Feuern der kräftige Duft des Bratens aus. |
1260 |
Später wurde die Beute verteilt. Die Waffen der Gefallenen und auch sonst alles, was dieselben bei sich gehabt hatten, waren den Roten überlassen worden, ein Umstand, welcher dieselben mit Entzücken erfüllte. |
1261 |
Sie gaben demselben den bei ihnen gebräuchlichen Ausdruck. Lange Reden wurden gehalten, Kriegs- und andre Tänze aufgeführt; erst als der Tag anbrach, nahm der Lärm ein Ende; der Jubel verstummte, und die Roten hüllten sich in ihre Decken, um endlich einzuschlafen. |
1262 |
Anders die Rafters. Glücklicherweise war keiner von ihnen gefallen, doch hatten einige Verwundungen davongetragen. Old Firehand beabsichtigte, mit ihnen bei Tagesanbruch der Spur der Tramps zu folgen, um zu erfahren, wohin sich diese gewendet hatten. |
1263 |
Es waren inzwischen neue Scharen von Tramps angekommen gewesen; die Flüchtigen hatten sich mit diesen vereinigt und waren dann ohne Verweilen in nördlicher Richtung davongeritten, wohl ahnend, dass man sie hier aufsuchen werde. |
1264 |
Über die Prairie schritt langsam und müd ein Fußgänger, eine seltene Erscheinung, wo selbst der allerärmste Teufel ein Pferd besitzt, da der Unterhalt desselben nichts kostet. Welchem Stande dieser Mann angehörte, das war schwer zu erraten. |
1265 |
Sein Anzug war städtisch, aber sehr abgetragen, und gab ihm das Aussehen eines friedlichen Mannes, wozu aber die alte, gewaltig lange Flinte, welche er geschultert trug, nicht recht passen wollte. Das Gesicht war bleich und eingefallen. |
1266 |
Zuweilen blieb er stehen, wie um auszuruhen, aber die Hoffnung, Menschen zu treffen, trieb ihn immer schnell wieder zur neuen Anstrengung seiner müden Füße. Er musterte wieder und immer wieder den Horizont, doch lange vergeblich, bis endlich sein Auge froh aufleuchtete. |
1267 |
Er hatte draußen am Horizont einen Mann bemerkt, auch einen Fußgänger, welcher von rechts her kam, so dass beide Richtungen zusammenstoßen mussten. Das gab seinen Gliedern neue Spannkraft; er schritt schnell und weit aus und sah bald, dass er von dem andern bemerkt wurde. |
1268 |
Um seinen Hals war ein blauseidenes Tuch geschlungen und vorn in eine große, breite Doppelschleife, welche die ganze Brust bedeckte, geknüpft. Den Kopf beschattete ein breitkrempiger Strohhut. An einem um den Hals gehenden Riemen hing vorn ein Kasten aus poliertem Holze. |
1269 |
Der Mann war lang und dürr, das glatt rasierte Gesicht scharf geschnitten und hager. Wer in diese Züge und in die kleinen, listigen Augen blickte, der wusste sofort, dass er einen echten Yankee vor sich habe, einen Yankee von jener Sorte, deren Durchtriebenheit sprichwörtlich geworden ist. |
1270 |
Er legte den Kasten ab, drückte den Fremden auf denselben nieder, zog dann aus der Brusttasche seines Frackes zwei riesige Butterbrote hervor, brachte aus der einen Schoßtasche ein großes Stück Schinken zum Vorscheine, reichte beides dem Hungrigen und fuhr fort. |
1271 |
Der Hungrige folgte dieser Aufforderung, und der Yankee setzte sich in das Gras, sah ihm zu und freute sich darüber, dass die riesigen Bissen so schnell hinter den gesunden Zähnen des Essenden verschwanden. |
1272 |
Ich heiße Haller; meine Eltern waren Deutsche. Sie kamen aus dem alten Lande herüber, um es zu etwas zu bringen, kamen aber nicht vorwärts. Auch mir haben keine Rosen geblüht. Ich habe mancherlei gemacht und gearbeitet, bis ich vor zwei Jahren Bahnschreiber wurde. |
1273 |
Ich bekam mit dem dortigen Redakteur einen Streit, auf welchen ein Duell folgte. Denkt Euch, ein Duell auf Flinten. Und ich habe niemals im Leben so ein Mordwerkzeug in den Händen gehabt! Ein Duell auf Flinten, dreißig Schritt Distanz. |
1274 |
Es wurde mir gelb und blau vor den Augen, als ich es nur hörte. Ich will es kurz machen: die Stunde kam, und wir stellten uns auf. Sir, denkt von mir, was Ihr wollt, aber ich bin ein friedfertiger Mann und mag kein Mörder sein. |
1275 |
Schon bei dem Gedanken, dass ich den Gegner töten könnte, überlief mich eine Gänsehaut, welche so scharf wie ein Reibeisen war. Darum zielte ich, als kommandiert wurde, mehrere Ellen weit daneben. Ich drückte ab, er auch. |
1276 |
Die Schüsse gingen los - denkt Euch, ich war nicht getroffen, aber meine Kugel war ihm gerade durch das Herz gegangen. Die Flinte, die gar nicht mir gehörte, festhaltend, rannte ich entsetzt fort. Ich behaupte, dass der Lauf krumm ist; die Kugel geht volle drei Ellen zu weit nach links. |
1277 |
Meiner ferneren Existenz wegen gab er mir den Rat, nach Sheridan zu gehen, und händigte mir einen offenen Empfehlungsbrief an den dortigen Ingenieur ein. Ihr könnt ihn lesen, um Euch zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage. |
1278 |
Hier sende ich Dir Master Joseph Haller, meinen bisherigen Schreiber. Er ist von deutscher Abstammung, ein ehrlicher, treuer und fleißiger Kerl, hat aber das Unglück gehabt, um die Ecke zu schießen und gerade darum seinen Gegner in den Sand zu legen. |
1279 |
Unter diesem Namen war zur besseren Legitimation noch ein Stempel angebracht. Der Yankee faltete den Brief wieder zusammen, gab ihn dem Eigentümer zurück und sagte, indem ein halb ironisches, halb mitleidiges Lächeln um seine Lippen spielte. |
1280 |
Ich glaube Euern Worten, Master Haller, auch ohne dass Ihr mir diesen Brief zu zeigen braucht. Wer Euch sieht und sprechen hört, der weiß, dass er einen grundehrlichen Menschen, welcher gewiss mit Willen kein Wässerlein trübt, vor sich hat. |
1281 |
Mir geht es gerade wie Euch, auch ich bin kein großer Jäger und Schütze vor dem Herrn. Das ist kein Fehler, denn der Mensch lebt nicht durch Pulver und Blei allein. Aber so sehr ängstlich wie Ihr, wäre ich an Eurer Stelle denn doch nicht gewesen. |
1282 |
Ich bin offen gegen Euch, weil ich denke, dass Ihr meinen Antrag annehmen werdet. Eigentlich bin ich Schneider; dann wurde ich Friseur, nachher Tanzlehrer; später gründete ich ein Erziehungsinstitut für junge Ladies, als das aufhörte, griff ich zur Ziehharmonika und wurde wandernder Musikant. |
1283 |
Ich habe das Leben und die Menschen kennen gelernt, und diese Kenntnis gipfelt in der Erfahrung, dass ein gescheiter Kerl kein Dummkopf sein darf. Diese Menschen wollen betrogen sein; ja, man tut ihnen den größten Gefallen. |
1284 |
Besonders muss man ihren Fehlern schmeicheln, ihren geistigen und leiblichen Fehlern und Gebrechen, und darum habe ich mich auf diese letzteren gelegt und bin Arzt geworden. Hier seht Euch einmal meine Apotheke an. |
1285 |
Er schloss den Kasten auf und schlug den Deckel desselben zurück. Das Innere hatte ein höchst elegantes Aussehen; es bestand aus fünfzig Fächern, welche mit Sammet ausgeschlagen und mit goldenen Linien und Arabesken verziert waren. |
1286 |
O, das verstehe ich schon! Es ist ja kinderleicht. Was Ihr da seht, ist alles weiter nichts als ein klein wenig Farbe und ein bisschen viel Wasser, Aqua genannt. In diesem Worte besteht mein ganzes Latein. |
1287 |
Ihr glaubt gar nicht, welche Kuren ich mit diesen Wassern schon gemacht habe, und ich nehme Euch das gar nicht übel, denn ich glaube es selbst auch nicht. Die Hauptsache ist, dass man die Wirkung nicht abwartet, sondern das Honorar einzieht und sich aus dem Staube macht. |
1288 |
Die Vereinigten Staaten sind groß, und ehe ich da herumkomme, können viele, viele Jahre vergehen, und ich bin inzwischen ein reicher Mann geworden. Das Leben kostet nichts, denn überall, wohin ich komme, setzt man mir mehr vor, als ich essen kann. |
1289 |
Die Sache kommt mir bedenklich vor. Es ist keine Ehrlichkeit dabei. Macht Euch nicht lächerlich. Der Glaube tut alles. Meine Patienten glauben an die Wirkung meiner Medizin und werden gesund davon. Ist das Betrug? Versucht es wenigstens zunächst einmal. |
1290 |
Er hing sich den Kasten wieder um, und dann schritten sie miteinander der Farm entgegen. Nach kaum einer halben Stunde sahen sie dieselbe von weitem liegen; sie schien nicht groß zu sein. Nun musste Haller den Kasten tragen, da sich das nicht für den Prinzipal, Doktor und Magister schickte. |
1291 |
Das Hauptgebäude der Farm war aus Holz gebaut; neben und hinter demselben lag ein wohlgepflegter Baum- und Gemüsegarten. Die Wirtschaftsgebäude standen in einiger Entfernung von diesem Wohnhause. |
1292 |
Vor demselben waren drei Pferde angebunden, ein sicheres Zeichen, dass sich Fremde hier befanden. Diese saßen in der Wohnstube und tranken Hausbier, welches der Farmer selbst gebraut hatte. Die Fremden waren allein, da sich nur die Farmersfrau daheim befand und jetzt in dem kleinen Stalle war. |
1293 |
Aus diesen Worten ging hervor, dass dieser Mann der rote Cornel war. Die beiden Ankömmlinge hatten jetzt das Haus erreicht, gerade als die Farmersfrau aus dem Stalle kam. Sie begrüßte dieselben freundlich und fragte nach ihrem Begehr. |
1294 |
Als sie hörte, dass sie einen Arzt und dessen Famulus vor sich habe, zeigte sie sich sehr erfreut und ersuchte sie, in die Stube zu treten, die sie öffnete. Ich denke, dass euch die Gesellschaft dieser Herren nicht unangenehm sein wird. |
1295 |
Die Eintretenden grüßten, und nahmen ohne Umstände an dem Tische Platz. Der Cornel bemerkte zu seiner Genugthuung, dass er von Hartley nicht erkannt wurde. Er gab sich für einen Fallensteller aus und sagte, dass er mit seinen beiden Gefährten hinauf in die Berge wolle. |
1296 |
Dann entspann sich ein Gespräch, währenddessen die Wirtin am Herdfeuer beschäftigt war. Über demselben hing ein Kessel, in welchem das Mittagessen kochte. Als dasselbe fertig war, trat sie vor das Haus und stieß nach der Sitte jener Gegenden in das Horn, um die Ihrigen herbeizurufen. |
1297 |
Diese kamen von den naheliegenden Feldern. Es war der Farmer, ein Sohn, eine Tochter und ein Knecht. Sie reichten den Gästen, besonders dem Arzte, mit aufrichtiger Freundlichkeit die Hand und setzten sich dann zu ihnen, um das Mahl, vor und nach welchem gebetet wurde, einzunehmen. |
1298 |
Hätte ich mein Doktor- und Magisterexamen bestanden, wenn ich nicht ein studierter Mann wäre? Hier sitzt mein Famulus. Fragt ihn, und er wird Euch sagen, dass Tausende und aber Tausende von Menschen, die Tiere gar nicht mitgerechnet, mir Gesundheit und Leben verdanken. |
1299 |
Ich glaube es, ich glaube es, Sir! Ihr kommt gerade zur richtigen Zeit. Ich habe eine Kuh im Stalle stehen. Was das heißen will, werdet Ihr wissen. Hier zu Lande kommt eine Kuh nur dann in den Stall, wenn sie schwer krank ist. Sie hat zwei Tage nichts gefressen und hängt den Kopf bis zur Erde herab. |
1300 |
Es war die höchste Zeit, denn die Kuh wäre bis heute Abend gefallen. Sie hat Bilsenkraut gefressen. Glücklicherweise habe ich ein untrügliches Gegenmittel; morgen früh wird sie so gesund sein wie zuvor. |
1301 |
Haller suchte, nachdem er den Kasten geöffnet hatte, das betreffend Fläschchen, aus welchem Hartley einige Tropfen in das Wasser goss, von dem der Kuh dreistündlich je eine halbe Gallone gegeben werden sollte. Dann kamen die menschlichen Patienten daran. |
1302 |
Die Frau hatte einen beginnenden Kropf und erhielt Aqua sumatralia. Der Farmer litt an Rheumatismus und bekam Aqua sensationia. Die Tochter war kerngesund, doch wurde sie leicht veranlaßt, gegen einige Sommersprossen Aqua furonia zu nehmen. |
1303 |
Der Knecht hinkte ein wenig, schon seit seinen Knabenjahren, ergriff aber die Gelegenheit, diesen Umstand durch Aqua ministerialia zu beseitigen. Zuletzt fragte Hartley auch die drei Fremden, ob er ihnen dienen könne. |
1304 |
Der Heilkünstler schwieg betroffen und wandte sich von ihm ab, um den Wirt nach den nächstliegenden Farmen zu fragen. Laut des Bescheides, den er bekam, lag die nächste acht Meilen weit gegen Westen, dann eine fünfzehn Meilen nach Norden. |
1305 |
Als der Magister erklärte, dass er unverzüglich nach der ersteren aufbrechen werde, fragte ihn der Farmer nach dem Honorare. Hartley verlangte fünf Dollar und bekam sie auch sehr gern ausgezahlt. Dann brach er mit seinem Famulus auf, welcher wieder den Kasten auf sich lud. |
1306 |
Wir sind westlich gegangen, biegen aber nun nach Norden ein, denn es kann mir nicht einfallen, nach der ersten Farm zu gehen; wir suchen die zweite auf. Die Kuh war so hinfällig, dass sie wohl schon in einer Stunde stirbt. |
1307 |
Wenn es da dem Farmer einfällt mir nachzureiten, kann es mir schlecht ergehen. Aber ein Mittagessen und fünf Dollar für zehn Tropfen Anilinwasser, ist das nicht einladend? Ich hoffe, Ihr erkennt Euern Vorteil und tretet in meinen Dienst. |
1308 |
Was Ihr mir bietet, ist viel, sehr viel Geld; dafür aber hätte ich noch viel mehr Lügen zu machen. Nehmt es mir nicht übel! Ich bin ein ehrlicher Mann und will es auch bleiben. Mein Gewissen verbietet mir, auf Euern Vorschlag einzugehen. |
1309 |
Ich habe es gut mit Euch gemeint. Schade, dass Euer Gewissen ein so zartes ist! Ich danke Gott, dass er mir kein andres gegeben hat. Hier habt Ihr Euern Kasten zurück. Ich möchte Euch gern erkenntlich für das sein, was Ihr an mir getan habt, aber ich kann nicht, es ist mir unmöglich. |
1310 |
Des Menschen Wille ist sein Himmelreich; darum will ich nicht weiter in Euch dringen. Aber wir brauchen uns trotzdem nicht sogleich zu trennen. Euer Weg ist fünfzehn Meilen weit, bis zu der betreffenden Farm, auch der meinige, und wir können also wenigstens bis dahin beisammen bleiben. |
1311 |
Die Schweigsamkeit in welche er nun verfiel, ließ vermuten, dass die Rechtlichkeit des Schreibers nicht ganz ohne Eindruck auf ihn geblieben sei. So wanderten sie nebeneinander weiter und richteten ihre Augen nur nach vorwärts, bis sie hinter sich Pferdegetrappel vernahmen. |
1312 |
Es ist nicht Unsinn, sondern die Wahrheit. Er ist nach der Farm, welche Ihr angeblich mit Eurer Gegenwart beglücken wolltet. Wir aber waren klüger als er. Wir verstehen es Fährten zu lesen und sind der Eurigen gefolgt, um Euch einen Vorschlag zu machen. |
1313 |
Desto mehr aber wir mit Euch. Wir kennen Euch. Indem wir dulden, dass Ihr diese ehrlichen Farmersleute betrügt, sind wir Eure Mitschuldigen geworden, wofür es nur recht und billig ist, dass Ihr uns einen Teil des Honorares auszahlt. |
1314 |
Er deutete nach den beiden andern, welche jetzt ihre Gewehre auf Hartley richteten. Dieser hielt nun alle Disputation für vergeblich. Er war völlig überzeugt, es mit richtigen Wegelagerern zu tun zu haben, und freute sich innerlich, so billig davonzukommen. |
1315 |
Ihr scheint Euch in meiner Person zu irren und Euch in Verhältnissen zu befinden, welche diesen Teil meines wohlverdienten Honorares für Euch nötig machen. Ich will Eure Forderung als Scherz gelten lassen und auf denselben eingehen. |
1316 |
Meint Ihr, dass wir Euch einer solchen Lumperei wegen nachreiten? Nein, nein! Es war nicht bloß das heutige Geld gemeint. Wir verlangen unsern Anteil von dem, was Ihr bisher überhaupt verdient habt. Ich nehme an, dass Ihr ein erkleckliches Sümmchen bei Euch tragt. |
1317 |
Werden sehen! Wenn Ihr leugnet, muss ich Euch untersuchen. Ich denke, dass Ihr Euch das ruhig gefallen lassen werdet, denn meine Kameraden spaßen mit Ihren Büchsen nicht. Das Leben eines armseligen Harmonikaspielers ist für uns keinen Pfifferling wert. |
1318 |
Er stieg vom Pferde und trat zu dem Yankee. Dieser erging sich in allen möglichen Vorstellungen, um das drohende Unheil von sich abzuwenden, doch vergebens. Die Gewehrmündungen starrten ihm so drohend entgegen, dass er sich in sein Schicksal ergab. |
1319 |
Dabei hoffte er im Stillen, dass der Cornel nichts finden werde, da er seine Barschaft sehr gut versteckt glaubte. Der jetzt schwarz gefärbte Rote untersuchte alle Taschen, fand aber nur wenige Dollar. Dann betastete er jeden Zoll breit des Anzuges, um zu fühlen, ob vielleicht etwas eingenäht sei. |
1320 |
Er warf sich auf ihn, um ihm das Geld zu entreißen. Da krachte ein Schuss. Die Kugel hätte ihn gewiss durchbohrt, wenn er sich nicht gerade in schneller Bewegung befunden hätte, so traf sie nur den Oberarm, dessen Knochen sie zerschmetterte. |
1321 |
Ich glaube Euch. Wer Euch ansieht, der muss gleich beim ersten Blicke bemerken, dass Ihr ein gutehrlicher Kerl seid, der aber das Pulver nicht erfunden hat. Lauft immerhin nach Sheridan; ich habe nichts mit Euch zu schaffen. |
1322 |
Ich sprach von unsrem Anteile; da du uns aber belogen hast, so kannst du dich nicht darüber beklagen, dass wir dir das Ganze abnehmen. Gib dir Mühe, auch weiterhin gute Geschäfte zu machen. Wenn wir dich dann wieder treffen, werden wir genauer teilen. |
1323 |
Der Cornel stieg wieder zu Pferde und ritt mit seinen Gefährten und dem Raube davon, nach Norden zu, dadurch beweisend, dass er kein Trapper sei und es gar nicht in seiner Absicht gelegen habe, sich westwärts in die Berge zu wenden. |
1324 |
Als sie nach längerer Zeit einen passenden Ort fanden, von welchem aus die ganze Gegend zu übersehen war und sie also weder gestört noch beobachtet werden konnten, stiegen sie ab, um den Raub zu zählen. |
1325 |
Viel, sehr viel! Und das fragst du noch? Es liegt doch klar auf der Hand, dass dieser Brief der Ausführung unsres Planes ungeheuer förderlich hätte sein müssen. Es ist geradezu wunderbar, dass du das nicht einsiehst und nicht darauf gekommen bist. |
1326 |
Wir haben unsre Leute zurückgelassen, um uns zunächst die Gelegenheit heimlich zu betrachten. Wir müssen die Örtlichkeit kennen lernen und auch die Kassenverhältnisse, das ist um so schwieriger, als wir uns dabei nicht sehen lassen wollen. |
1327 |
Das ist wahr. Wie ist's nur möglich, dass ich nicht auf diesen Gedanken gekommen bin! Gerade du bist mit der Feder bewandert und hättest diese Rolle übernehmen können. Und ich hätte sie wohl auch richtig ausgeführt. Es wären damit alle Schwierigkeiten beseitigt gewesen. |
1328 |
Gewiss! Natürlich ist's noch Zeit! Wir wissen ja, wohin die beiden wollen; der Weg ist ihnen von dem Farmer angedeutet worden und führt hier vorüber. Wir brauchen also nur zu warten, bis sie kommen. Ganz richtig, tun wir das! Aber es genügt nicht, dem Schreiber den Brief abzunehmen. |
1329 |
Er würde nach Sheridan gehen und uns alles verderben. Wir müssen also ihn und den Quacksalber daran verhindern. Das versteht sich ganz von selbst. Wir geben jedem eine Kugel in den Kopf und scharren sie ein. |
1330 |
Wir zwei reiten zurück und holen die andern. Du wirst uns dann in der Gegend finden, wo die Bahn über den Eagle-tail geht. Genau können wir die Stelle vorher nicht bestimmen. Ich werde Vorposten in der Richtung nach Sheridan aufstellen, auf welche du unbedingt treffen musst. |
1331 |
Der Plan wurde noch weiter besprochen und die Ausführung desselben beschlossen. Dann warteten die drei auf die Annäherung des Quacksalbers und seines Gefährten. Aber es vergingen Stunden, ohne dass dieselbe erfolgte. |
1332 |
Es war anzunehmen, dass sie ihre ursprüngliche Richtung verändert hatten, um nicht etwa abermals mit den drei Tramps zusammenzutreffen. Diese fassten daher den Entschluss zurückzureiten und der neuen Spur zu folgen. |
1333 |
Der Oberarm war schwer verletzt, und es stellte sich für den Verwundeten die Notwendigkeit heraus, einen Ort aufzusuchen, an welchem er wenigstens für die ersten Tage Pflege finden konnte. Dies war die Farm, nach welcher sie sich wenden wollten. |
1334 |
Wollen wir ihnen nochmals in die Hände laufen? Wir müssen gewärtig sein, dass sie bedauern, uns nicht unschädlich gemacht zu haben, und dann, wenn wir wieder auf sie treffen, das Versäumte nachholen. Mein Geld haben sie; aber mein Leben möchte ich ihnen nicht auch noch hinterdrein tragen. |
1335 |
Ich denke es. Ich bin ein so kräftiger Kerl, dass wir wohl an Ort und Stelle sein werden, ehe das Wundfieber eintritt. Auf alle Fälle hoffe ich, dass Ihr mich nicht vorher verlasset. Gewisslich nicht. Solltet Ihr unterwegs liegen bleiben, so suche ich Leute auf, welche Euch zu sich holen werden. |
1336 |
Nach Norden, wie vorher, nur etwas weiter rechts. Der Horizont ist dort dunkel, es scheint da also Wald oder Busch zu geben, und wo Bäume sind, da ist auch Wasser, was ich zur Kühlung meiner Wunde notwendig brauche. |
1337 |
Haller nahm den Kasten auf und die beiden verließen die Unglücksstelle. Die Vermutung des Yankee bewährte sich. Sie gelangten nach einiger Zeit in eine Gegend, wo es zwischen grünem Buschwerk ein Wasser gab, an welchem der erste Verband erneuert wurde. |
1338 |
Hartley schüttete alle seine gefärbten Tropfen weg und füllte die Phiolen mit reinem Wasser, um unterwegs den Verband nach Bedarf befeuchten zu können. Dann brachen sie wieder auf. Sie kamen über eine Prairie von so kurzem Grase, dass die Fußspuren kaum zu erkennen waren. |
1339 |
Nach längerer Zeit sahen sie die Linie des Horizonts wieder dunkel vor sich liegen, ein Zeichen, dass sie sich abermals einer waldigen Stelle näherten. Als der Yankee sich jetzt zufällig einmal umdrehte, erblickte er hinter sich mehrere Punkte, welche sich bewegten. |
1340 |
Ein andrer hätte den Schreiber auf die Verfolger aufmerksam gemacht; Hartley aber tat das nicht; er setzte den Weg mit verdoppelter Schnelligkeit fort, und als Haller sich über diese plötzliche Eile wunderte, stellte er ihn durch den ersten besten plausiblen Grund zufrieden. |
1341 |
Reiter kann man natürlich weiter sehen als Fußgänger. Die Entfernung der Reiter war eine solche, dass Hartley annehmen konnte, dass er und sein Begleiter von den Tramps noch nicht bemerkt worden seien. |
1342 |
Es war nicht tief, zog sich aber lang ausgedehnt nach rechts hinüber. Als sie dasselbe durchschritten hatten und den jenseitigen Rand erreichten blieb der Yankee stehen und sagte: Master Haller, ich habe mir überlegt, wie beschwerlich ich Euch falle. |
1343 |
Ihr wollt nach Sheridan und habt meinetwegen vom geraden Weg abweichen müssen. Wer weiß, ob und wann wir in der jetzigen Richtung eine Farm finden; da könnt Ihr Euch tagelang mit mir herumquälen, während es doch ein höchst einfaches Mittel gibt, diese Aufopferung ganz unnötig zu machen. |
1344 |
Ganz und gar nicht. Ich bin erst westlich gegangen und dann mit Euch gerade nördlich, also im rechten Winkel. Wenn ich diesen abschneide, habe ich von hier aus nicht ganz drei Stunden zu gehen, und so lange halte ich es sehr gut aus. |
1345 |
Die Pflanzersfrau ist nämlich, wie sie mir erzählte, die Schwester des Sheriffs von Kinsley. Werdet Ihr von dort aus verfolgt, so ist hundert gegen eins zu wetten, dass der Sheriff auf dieser Farm vorspricht. Ihr würdet ihm also gerade in die Hände laufen. |
1346 |
Er stellte ihm die Vorteile dieses Entschlusses in so aufrichtiger und eindringlicher Weise vor, dass der arme Schreiber endlich in die Trennung willigte. Sie schüttelten sich die Hände, sprachen gegenseitig die besten Wünsche aus und trennten sich dann. |
1347 |
Haller ging weiter, auf die offene Prairie hinaus. Hartley sah ihm nach und meinte dabei zu sich selbst: Der Kerl kann mir leid tun, aber es geht nicht anders. Blieben wir zusammen, so wäre er auch verloren, und ich müsste mit ihm sterben. |
1348 |
Nun aber ist's hohe Zeit für mich. Wenn sie ihn einholen und nach mir fragen, wird er ihnen sagen, wohin ich bin, also da nach rechts hinüber. Ich mache mich also nach links davon und suche mir einen Ort, an welchem ich mich verstecken kann. |
1349 |
Er war kein Jäger oder Fallensteller, aber er wusste, dass er keine Fährte zurücklassen dürfe, und hatte auch zuweilen gehört, wie man es machen müsse, um eine Spur zu verwischen. Indem er in die Büsche eindrang, suchte er sich solche Stellen aus, welche keine Fußeindrücke aufnahmen. |
1350 |
War ja ein solcher zu bemerken, so glich er ihn hinter sich mit der Hand wieder aus. Dabei war ihm freilich seine Verwundung hinderlich und ebenso der Kasten, den er wieder an sich genommen hatte. Er kam also nur sehr langsam weiter. |
1351 |
Er kam also nur sehr langsam weiter, traf aber zu seinem Glücke bald auf eine Stelle, auf welcher die Büsche so dicht standen, dass sie für das Auge undurchdringlich waren. Er arbeitete sich hinein, legte den Kasten ab und setzte sich darauf. |
1352 |
Kaum war das geschehen, so hörte er die Stimmen der drei Reiter und den Schritt ihrer Pferde. Sie ritten vorüber, ohne zu bemerken, dass die Spur von jetzt an eine nur einfache war. Der Yankee schob die Zweige nach der betreffenden Richtung auseinander; er konnte hinaus auf die Prairie blicken. |
1353 |
Die Tramps sahen ihn, und ließen ihre Pferde in Galopp fallen. Jetzt hörte er sie, drehte sich um und blieb erschrocken stehen. Bald hatten sie ihn erreicht; sie sprachen mit ihm; er deutete ostwärts; jedenfalls sagte er ihnen, dass der Yankee in dieser Richtung nach der Farm zurückgekehrt sei. |
1354 |
Er sah, dass sie abstiegen, und sich mit dem Erschossenen beschäftigten. Dann standen sie beratend bei einander, bis sie wieder zu Pferde stiegen, wobei der Cornel den Ermordeten zu sich quer über den Sattel nahm. |
1355 |
Hierauf zog der Reiter sein Pferd zurück und ritt fort, wohin, das konnte Hartley nicht sehen; er hörte den Hufschlag noch kurze Zeit, dann wurde es still. Den Yankee überkam ein Grauen. Fast bereute er es jetzt, den Schreiber nicht gewarnt zu haben. |
1356 |
Er war Zeuge der entsetzlichen Tat gewesen, nun lag die Leiche fast in seiner unmittelbaren Nähe; er hätte sich gern davon machen mögen, wagte es aber nicht, da er annehmen musste, dass der Cornel nach ihm suchen werde. |
1357 |
Es verging eine Viertelstunde und noch eine, da beschloss er, die grausige Stelle zu verlassen. Vorher sah er noch einmal hinaus auf die Prairie; da erblickte er etwas, was ihn veranlasste, noch in seinem Verstecke zu bleiben. |
1358 |
Ein Reiter, welcher ein lediges Pferd neben her führte, kam von rechts her über die Prairie geritten. Er stieß auf die Spur der beiden Tramps und hielt an, um abzusteigen. Nachdem er sich sorgfältig nach allen Richtungen umgeschaut hatte, bückte er sich nieder, um die Spur zu untersuchen. |
1359 |
Dann schritt er, während die Pferde ihm freiwillig folgten, auf derselben zurück bis an die Stelle, an welcher der Mord geschehen war. Hier blieb er wieder halten, um sie zu betrachten. Erst nach längerer Zeit richtete er sich wieder auf und kam näher. |
1360 |
Die Augen auf den Boden geheftet, folgte er der Spur des Cornels. Etwa fünfzig Schritte vom Gebüsch entfernt, blieb er stehen, stieß einen eigentümlichen Kehllaut aus und deutete mit dem Arme nach dem Gesträuch. |
1361 |
Das schien dem Reitpferde zu gelten, denn dieses entfernte sich von ihm, schlug einen kurzen Bogen nach den Büschen und kam dann am Rande derselben her, die Luft in die weit geöffneten Nüstern ziehend. |
1362 |
Da es kein Zeichen von Unruhe gab, fühlte der Reiter sich befriedigt und kam nun auch herbei. Jetzt sah der Yankee, dass er einen Indianer vor sich hatte. Derselbe trug ausgefranste Leggins und ein ebenso an den Nähten mit Fransen und Stickereien versehenes Jagdhemd. |
1363 |
Die kleinen Füße staken in Mokassins. Sein langes schwarzes Haar war in einen helmartigen Schopf geordnet, aber mit keiner Adlerfeder versehen. Um den Hals hingen eine dreifache Kette von Bärenkrallen, die Friedenspfeife und der Medizinbeutel. |
1364 |
In der Hand hielt er ein Doppelgewehr, dessen Schaft mit vielen silbernen Nägeln beschlagen war. Sein Gesicht, matt hellbraun mit einem leisen Bronzehauch, hatte fast römischen Schnitt, und nur die ein wenig hervorstehenden Backenknochen erinnerten an den Typus der amerikanischen Rasse. |
1365 |
Eigentlich war die Nähe eines Roten ganz geeignet, den Yankee, welcher überhaupt nicht zum Helden geboren war, mit Angst zu erfüllen. Aber je länger dieser letztere in das Gesicht des Indianers blickte, um so mehr kam es ihm vor, als ob er sich vor diesem Mann nicht zu fürchten brauche. |
1366 |
Derselbe hatte sich auf vielleicht zwanzig Schritte genähert. Das Pferd war noch weiter herbeigekommen, während das andre sich hinter dem Reiter hielt. Jetzt - es hob schon den kleinen Vorderhuf, um weiter zu schreiten. |
1367 |
Jetzt - es hob schon den kleinen Vorderhuf, um weiter zu schreiten, da stieg es vorn empor und warf sich mit einem lauten, auffälligen Schnauben zurück; es hatte einen von dem Yankee oder dem Toten kommenden Luftzug gespürt. |
1368 |
Der Indianer tat im Nu einen wahren Panthersatz zur Seite und verschwand, mit ihm auch das zweite Pferd. Hartley konnte sie nicht mehr sehen. Er verhielt sich lange, lange stille und bewegungslos, bis ein halb unterdrückter Laut an sein Ohr drang. |
1369 |
Als Hartley mit dem Kopfe herumfuhr, sah er den Indianer, das blanke Bowiemesser in der Hand, neben sich knien. Die Worte desselben bewiesen, dass er die Fährte richtig gelesen und höchst scharfsinnig beurteilt hatte. |
1370 |
Er ist fort. Seine Spur führt durch den Busch und dann noch Osten. So ist er nach der Farm, um mich zu verfolgen. Aber ist er auch wirklich nicht mehr da? Nein. Mein weißer Bruder und ich sind die einzigen lebenden Menschen, welche sich hier befinden. |
1371 |
Er mag heraus ins Freie kommen und mir erzählen, was geschehen ist. Der Rote sprach sehr gut Englisch. Was er sagte und wie er es sagte, flößte dem Yankee Vertrauen ein; darum weigerte sich der letztere nicht, der Aufforderung zu folgen. |
1372 |
Da kamen drei Reiter, welche diesem andern folgten; sie schossen ihm eine Pistolenkugel in den Kopf. Zwei ritten fort. Der dritte nahm die Leiche auf das Pferd, ritt an das Gebüsch, warf sie hinein und jagte dann ostwärts im Galopp von dannen. |
1373 |
Der freundliche Ton, in welchem diese Fragen ausgesprochen wurden, bewies dem Yankee, dass der Rote ihm wohlgesinnt sei und keinerlei Verdacht gegen ihn hege. Er beantwortete die ihm vorgelegten Fragen. |
1374 |
Nur der große Manitou weiß alles; mein Auge kann nicht in dein Inneres dringen. Könnte es das, so würdest du dich vielleicht vor mir schämen müssen; ich will schweigen; dein Gott mag dein Richter sein. Kennst du mich? Nein. |
1375 |
Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apachen. Meine Hand richtet sich gegen die bösen Menschen, und mein Arm schützt jeden, der ein gutes Gewissen hat. Ich werde nach deiner Wunde sehen; noch notwendiger als das aber ist, zu erfahren, warum die Mörder umgekehrt sind, um euch zu folgen. |
1376 |
Er holte die Leiche aus dem Gebüsch und untersuchte die Taschen noch einmal. Der Tote bot einen grässlichen Anblick, nicht etwa zufolge der Kugelwunde, sondern weil man sein Gesicht mit Messern kreuz und quer zerschnitten hatte, so dass es ganz unkenntlich geworden war. |
1377 |
Dein Kamerad wollte nach Sheridan; zwei von den Mördern sind nordwärts geritten, in der Richtung dieses Ortes; sie wollen auch dorthin. Warum haben sie ihm den Brief abgenommen? Weil sie denselben brauchen, sich desselben bedienen wollen. |
1378 |
Warum haben sie das Gesicht des Toten entstellt? Damit man ihn nicht erkennen soll. Man soll nicht wissen, dass Haller tot ist; er darf nicht gestorben sein, weil einer der Mörder in Sheridan sich für Haller ausgeben will. |
1379 |
Ja. Ich wollte nach dem Smocky-hill-fluß, und Sheridan liegt in der Nähe desselben; wenn ich nach diesem Orte reite, wird mein Weg dadurch nicht viel größer und länger werden. Diese Bleichgesichter haben etwas Schlimmes vor, was sie dort ausführen wollen. |
1380 |
Vielleicht ist es mir möglich, es ihnen zu Nichte zu machen. Geht mein weißer Bruder mit? Ich wollte eine nahe Farm aufsuchen, um meinen Arm zu pflegen. Freilich möchte ich noch lieber nach Sheridan. Vielleicht erhalte ich dort das geraubte Geld zurück. |
1381 |
Auf der Farm hat mein weißer Bruder zwar Pflege, aber keinen Arzt; in Sheridan aber wird es einen solchen geben. Auch versteht sich Winnetou auf Behandlung der Wunden. Er kann zersplitterte Knochen wieder fest machen und besitzt ein ausgezeichnetes Mittel gegen das Wundfieber. |
1382 |
Schon der Schreiber hatte dem Yankee den Frackärmel aufgetrennt; es fiel also dem letzteren nicht schwer, seinen Arm zu entblößen. Winnetou untersuchte denselben und erklärte, dass die Wunde nicht so schlimm sei, als es den Anschein habe. |
1383 |
Die Kugel hatte, da der Schuss aus so großer Nähe abgegeben worden war, den Knochen nicht zersplittert, sondern glatt durchschlagen. Der Rote holte eine getrocknete Pflanze aus seiner Satteltasche, befeuchtete sie und legte sie auf die Wunde. |
1384 |
Der Rote holte eine getrocknete Pflanze aus seiner Satteltasche, befeuchtete sie und legte sie auf die Wunde; dann schnitt er zwei Holzschienen zurecht und verband mit Hilfe derselben den Arm so kunstgerecht, wie ein Wundarzt es mit den gegebenen Mitteln auch nicht besser fertig gebracht hätte. |
1385 |
Nein. Er sucht nach dir, und wenn er deine Spur findet, so wird er umkehren und den beiden andern folgen. Vielleicht tut er das nicht, sondern er hat noch andre Verbündete, welche er vorher aufsucht, um mit ihnen nach Sheridan zu reiten. |
1386 |
Ich komme aus bewohnten Gegenden und habe erfahren, dass sich in Kansas viele von den Bleichgesichtern, welche Tramps genannt werden, zusammenziehen. Es ist möglich, dass die Mörder zu diesen Leuten gehören, dass die Tramps einen Streich gegen Sheridan beabsichtigen. |
1387 |
Die Erde war locker, und so wurde, obgleich nur die Messer gebraucht werden konnten, recht bald eine leidlich tiefe Grube fertig, in welche die beiden den Toten legten, um ihn dann mit der aufgeworfenen Erde zu bedecken. |
1388 |
Hierauf nahm der Yankee den Hut ab und faltete die Hände. Ob er dabei wirklich betete, war zu bezweifeln. Der Apache blickte ernst in die untergehende Sonne. Es war, als ob sein Auge jenseits des Westens die ewigen Jagdgründe suche. Er war ein Heide, aber er betete ganz gewiss. |
1389 |
Sie stiegen auf und ritten fort, erst eine Strecke westlich, um dann nach Norden einzubiegen. Die Pferde hatten gewiss schon einen weiten Weg gemacht, schritten aber so munter und rüstig aus, als ob sie eben erst von der Weide gekommen seien. |
1390 |
Winnetou verirrt sich nie, weder bei Tag noch bei Nacht. Er ist wie der Stern, welcher sich stets an der richtigen Stelle befindet, und kennt alle Gegenden des Landes so genau, wie das Bleichgesicht die Räume seines Hauses kennt. |
1391 |
Es war, auch wirklich fast wunderbar, mit welcher Sicherheit Pferd und Reiter sich bewegten. Bald im Schritt, bald im Trabe, oft sogar galoppierend, wurde Stunde um Stunde zurückgelegt und jedes Hindernis umgangen. |
1392 |
Es waren sumpfige Stellen zu vermeiden und Bäche zu durchwaten; man kam an Farmen vorüber; stets wusste Winnetou, wo er sich befand, und nicht einen einzigen Augenblick lang schien er im Zweifel über die Örtlichkeit zu sein. |
1393 |
Das beruhigte den Yankee ungemein. Er war besonders seines Armes wegen besorgt gewesen; aber das Wundkraut war von außerordentlicher Wirkung. Er fühlte fast gar keinen Schmerz und hatte sich über nichts als nur die Unbequemlichkeit des ungewohnten Reitens zu beklagen. |
1394 |
Einigemal wurde angehalten, um die Pferde trinken zu lassen und den Verband mit kühlendem Wasser zu benetzen. Nach Mitternacht zog Winnetou ein Stück Fleisch hervor, welches Hartley essen musste. Sonst gab es keine Unterbrechung. |
1395 |
Sonst gab es keine Unterbrechung, und als die zunehmende Kühle den Morgen verkündete, sagte sich der letztere, dass er recht gut im Stande sei, noch länger im Sattel zu sitzen. Nun graute der Osten, doch waren die Linien des Terrains noch nicht zu erkennen, da ein dicker Nebel auf der Erde lag. |
1396 |
Es war ihm anzuhören, dass er hatte weiter sprechen wollen, aber er hielt sein Pferd an und lauschte nach links hinüber, von wo taktmäßiger Hufschlag sich näherte. Das musste von einem galoppierenden Reiter sein. |
1397 |
Die beiden hatten weder ihn noch sein Pferd gesehen; nur sein dunkler, breitkrempiger Hut, welcher über dem dichten, am Boden hinkriechenden Nebelschwaden hervorragte, war für einen Augenblick sichtbar gewesen. Einige Sekunden später war der Hufschlag schon nicht mehr zu hören. |
1398 |
Wir werden sie in wenigen Minuten erreichen. Und in Sheridan werden wir erfahren, wer dieser Reiter gewesen ist. Die Nebel begannen, sich zu zerteilen; sie wurden vom Morgenwinde auseinander getrieben, und bald sahen die beiden den Smocky-hill-fluß vor sich liegen. |
1399 |
Auch hier bewährte sich die außerordentliche Ortskenntnis des Apachen. Er erreichte das Ufer genau an der Stelle, an welcher sich die Furt befand. Das Wasser reichte den Pferden hier kaum bis an den Leib, so dass der Übergang ein leichter und ganz ungefährlicher war. |
1400 |
Jenseits angekommen, hatten die Reiter ein Gebüsch, welches sich am Ufer hinzog, zu durchqueren und ritten dann wieder durch offenes Grasland, bis Sheridan, ihr Ziel, sich ihren Augen zeigte. Neuntes Kapitel. List und Gegenlist. |
1401 |
Man sah da Hotels und Salons, in denen in Deutschland nicht der geringste Handwerker hätte wohnen mögen. Auch gab es einige allerliebste hölzerne Wohnungen, deren Konstruktion eine solche war, dass sie zu jeder Zeit abgebrochen und an einem andern Orte wieder zusammengesetzt werden konnten. |
1402 |
Sie stiegen ab und banden ihre Pferde ebenfalls an. Es war kein Mensch in der Nähe, und als sie die Niederlassung überblickten, sahen sie der frühen Stunde wegen nur drei oder vier Personen, welche gähnend nach dem Wetter ausschauten. |
1403 |
Ein junger Neger kam ihnen entgegen und fragte nach ihrem Begehr. Noch ehe sie zu antworten vermochten, wurde zur Seite eine Tür geöffnet, und unter derselben erschien ein noch junger Weißer, welcher den Apachen mit freundlich erstaunten Augen betrachtete. |
1404 |
Er zog sich in das Zimmer zurück, so dass die beiden ihm folgen konnten. Der Raum war klein und einfach ausgestattet. Die auf den Möbeln liegenden Schreibrequisiten ließen vermuten, dass es das Bureau des Ingenieurs sei. |
1405 |
Dieser Schreiber wird heute mit noch einem Weißen zu dir kommen, um dir ein Empfehlungsschreiben von Norton zu übergeben. Du sollst den einen in deinem Bureau anstellen und auch dem andern Arbeit geben. Aber wenn du das tust, wirst du dich in große Gefahr begeben. |
1406 |
Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer, aus welchem Old Firehand trat. Wenn der Ingenieur geglaubt hatte, dass der Rote in Worte des Entzückens ausbrechen werde, so war er mit den Gewohnheiten der Indianer nicht vertraut. |
1407 |
Kein roter Krieger wird seiner Freude oder seinem Schmerze in Gegenwart andrer einen auffälligen Ausdruck verleihen. Zwar glänzten die Augen des Apachen, sonst aber blieb er ruhig; er trat auf den Jäger zu und streckte ihm die Hand entgegen. |
1408 |
Ich musste schnell reiten, um eher anzukommen, als die Tramps. Auch musste ich diesen Ritt selbst unternehmen, weil die Sache so wichtig ist, dass ich sie keinem andern anvertrauen mochte. Es sind über zweihundert Tramps im Anzuge. |
1409 |
Dieser Cornel muss es auf irgend eine Weise erfahren haben, dass ich die Gelder für eine lange Strecke beziehe und sie dann unter meine Kollegen zur Auszahlung zu verteilen habe. Nun ich gewarnt bin, mag er mit seinen Tramps kommen; wir werden gerüstet sein. |
1410 |
Ja, glücklicherweise seid Ihr so zeitig am Tage gekommen, dass Ihr von den Arbeitern nicht gesehen wurdet. Von ihnen könnten es die Kundschafter erfahren. Mein Neger, welcher treu und verschwiegen ist, wird die Pferde verstecken und versorgen. |
1411 |
Ich wollte alle Beratung in Gegenwart dieses Arzneischwindlers vermeiden, denn ich traue ihm nicht. Es gibt in seiner Erzählung einen dunklen Punkt. Ich bin überzeugt, dass er den armen Schreiber mit Absicht in den Tod geschickt hat, um sich selbst zu retten. |
1412 |
Nein. Einen Plan können wir erst dann entwerfen, wenn wir denjenigen der Tramps kennen gelernt haben, und das wird nicht eher der Fall sein, als bis die Kundschafter hier eingetroffen sind und mit Euch gesprochen haben. |
1413 |
Jeder Krieger kann auf zweierlei Weise kämpfen; er kann angreifen oder sich verteidigen. Wenn Winnetou nicht weiß, wie und ob er sich verteidigen kann, so greift er lieber an. Das ist schneller, sicherer und auch tapferer. |
1414 |
Ja. Er ist mir während des Rittes in dieser Nacht gekommen und hat sich vervollständigt, als ich hörte, was die Tramps vorher getan haben. Diese Geschöpfe sind keine Krieger, mit denen man ehrenvoll kämpfen kann, sondern räudige Hunde, welche man mit Stöcken erschlagen muss. |
1415 |
Wer mutet Euch das zu? Die Tramps müssen nur überzeugt sein, dass sich Geld in dem Zuge befindet. Ihr stellt den Kundschafter als Schreiber an und stellt Euch so, als ob Ihr ihm großes Vertrauen schenktet. Ihr teilt ihm mit, dass hier ein Zug hält, in welchem sich eine große Menge Geldes befindet. |
1416 |
Und die Verantwortlichkeit wollte ich auch sehr gern übernehmen, wenn ich nur so leidlich an das Gelingen glauben könnte. Aber es gibt da noch ganz andre Fragen. Wer soll den Zug leiten? Es ist gewiss, dass der Maschinist und der Feuermann von den Tramps erschossen werden. |
1417 |
Ein Maschinist wird sich wohl finden, und den Feuermann mache ich. Ich glaube, wenn ich mich dazu erbiete, so beweise ich dadurch, dass keine Gefahr dabei vorhanden ist. Wir werden das Nähere noch besprechen; die Hauptsache ist, dass wir nicht allzu lange zu warten brauchen. |
1418 |
Also können wir den Streich auf morgen Nacht feststellen. Sodann ist es nötig, einen Ort zu bestimmen, wohin wir die Kerle fahren. Den werden wir uns noch während des Vormittages suchen, weil wohl schon nachmittags die Kundschafter kommen. |
1419 |
Nun, so fahren wir beide miteinander. Winnetou kann nicht mit, er muss versteckt bleiben, weil seine Anwesenheit unsre Absicht verraten könnte. Auch mir darf man es nicht ansehen, dass ich Old Firehand bin. |
1420 |
Auch mir darf man es nicht ansehen, dass ich Old Firehand bin; das habe ich vorhergesehen und mir darum den alten Leinenanzug mitgebracht, welchen ich auf allen meinen Zügen zur Aushilfe bei mir trage. |
1421 |
Das könnt Ihr leicht verhüten, indem Ihr dem Schreiber sagt, dass jedem solchen Geldzuge wegen seiner Wichtigkeit eine Probierlokomotive vorangehe. Dann werden sie die Zerstörung des Geleises bleiben lassen. Wenn Ihr klug seid, wird alles glatt ablaufen. |
1422 |
Den Schreiber müsst Ihr so beschäftigen und so durch Freundlichkeit festzuhalten suchen, dass er bis zum Schlafengehen das Haus nicht verlässt und mit keinem Menschen sprechen kann. Dann gebt Ihr ihm eine Stube im Gestock, welche nur ein Fenster hat. |
1423 |
Dieser andre wird auch Arbeit verlangen, um hierbleiben zu dürfen, sie aber aus irgend einem Grunde nicht antreten, um den Ort beliebig verlassen und den Boten machen zu können. Er wird versuchen, mit dem Schreiber zu sprechen, um Neuigkeiten zu erfahren. |
1424 |
Er wird versuchen, mit dem Schreiber zu sprechen, um Neuigkeiten zu erfahren, kann aber nicht vor der Schlafenszeit an ihn kommen. Dann wird er das Haus umschleichen; der Schreiber wird das Fenster öffnen, und ich liege über demselben auf dem Dache, um alles zu hören. |
1425 |
Jetzt freilich kommt Euch das alles noch schwierig und höchst abenteuerlich vor, weil Ihr kein Westmann seid, habt Ihr die Sache aber erst einmal beim Schopfe gepackt, so werdet Ihr erfahren, dass alles ganz selbstverständlich ist. |
1426 |
Das weiß niemand besser als ich, aber der Häuptling der Apachen kann Gesellschaft finden, wenn er will. Ich habe meine Rafters und die Jäger, welche sich bei ihnen befinden, nach einer Stelle beordert, welche einen Stundenritt unterhalb des Eagle-tail liegt. |
1427 |
Der Apache machte es sich indessen bequem; er war die ganze Nacht hindurch geritten und ließ jetzt die Gelegenheit, eine kurze Zeit zu schlafen, nicht unbenutzt vorübergehen. Als die beiden zurückkehrten, wurde er geweckt. |
1428 |
Das ist gut. Die Hunde werden zittern vor Angst und heulen vor Schreck. Es wird eine Erlösung für sie sein, in unsre Hände zu geraten. Winnetou reitet jetzt zu der Tante Droll, um ihr und den Rafters zu sagen, dass sie sich bereithalten mögen. |
1429 |
Er schlich sich, um nicht bemerkt zu werden, möglichst heimlich vom Hause fort und nach dem Verstecke, in welchem sich seine Pferde befanden. Der scharfsinnige Häuptling hatte sich auch in Beziehung auf die Ankunft der Kundschafter nicht getäuscht. |
1430 |
Kaum war die auf den Mittag fallende Arbeitspause vorüber, so sah man zwei Reiter langsam vom Flusse her geritten kommen. Nach der Beschreibung, welche der Yankee von ihnen geliefert hatte, war nicht zu zweifeln, dass sie die Erwarteten seien. |
1431 |
Nachdem er sie mit voller Bestimmtheit als die Betreffenden rekognosziert hatte, ging Old Firehand in die neben dem Bureau liegende Stube, um durch die nur angelehnte Tür Zeuge der Unterredung zu sein. |
1432 |
Er hatte während der Draisinenfahrt den Ingenieur vollständig für seinen Plan gewonnen und ihm denselben so genau erklärt, dass ein Fehler des Bahnbeamten fast unmöglich war. Dieser letztere befand sich in seinem Zimmer, als die beiden Männer eintraten. |
1433 |
Das ist so traurig, dass es allerdings mein Mitgefühl erregt, zumal ich aus diesen Zeilen ersehe, dass Ihr das Wohlwollen und Vertrauen Nortons besessen habt. Darum soll seine Bitte um eine Anstellung für Euch nicht vergebens sein. |
1434 |
Über den Gehalt wollen wir jetzt noch nicht sprechen, ich muss Euch erst kennen lernen und das wird in einigen Tagen geschehen sein. Je anstelliger Ihr seid, desto besser werdet Ihr bezahlt. Jetzt bin ich sehr beschäftigt. |
1435 |
Seht Euch einstweilen im Orte um, und kommt um fünf Uhr wieder. Bis dahin werde ich einige Arbeiten ausgesucht haben. Ihr wohnt hier bei mir im Hause, esst mit an meinem Tische und habt Euch nach der Hausordnung zu richten. |
1436 |
Das war ein wüstes, unartiges Leben, welches ich nicht länger mitmachen konnte, und ich ging also fort. Darüber kam ich noch am letzten Tage mit einem andern Boy, einem rüden Burschen, in Streit, wobei mir sein Messer durch die Hand fuhr. |
1437 |
Als er erwachte, war es fast dunkel geworden, und der Neger brachte ihm sein Abendbrot. Gegen zehn Uhr kam dann der Ingenieur und meldete, dass der Schreiber schon längst gegessen habe und sich nun auf sein Zimmer begeben werde. |
1438 |
Auf dem letzteren angekommen, legte er sich nieder und kroch leise nach derjenigen Stelle der Dachkante, unter welcher, wie er sich erkundigt hatte, das betreffende Fenster lag. Es war so dunkel, dass er es wagen konnte, hinabzugreifen. |
1439 |
Es war so nahe, dass er es mit der Hand zu erreichen vermochte. Als er einige Zeit ruhig wartend dagelegen hatte, hörte er unter sich eine Tür gehen. Schritte gingen nach dem Fenster, und her Schein eines Lichtes fiel aus demselben hinaus ins Freie. |
1440 |
Das Dach bestand aus einer dünnen Bretterlage und darauf genageltem Zinkblech. So wie Old Firehand die Schritte unter sich hörte, so konnte auch er selbst von dem Schreiber gehört werden; Es war also große Vorsicht nötig. |
1441 |
Aber das war keine Anstrengung für ihn, denn ein Westmann ist an viel Schwierigeres gewöhnt. Die Zeit verging, wenn auch langsam, aber doch. Unten in den Häusern und Hütten brannten noch die Lichter. Hier oben aber bei der Wohnung des Ingenieurs war alles in tiefes Dunkel gehüllt. |
1442 |
Nein, obgleich sie eigentlich jetzt nur eine Interimsstrecke ist, wie ich aus den Büchern und Plänen ersehen habe. Aber du kannst dir denken, dass bei einer so großen, neuen Bahn nicht genug geprüfte Beamte vorhanden sind. |
1443 |
Es gibt Maschinisten, welche man noch nicht kennt, und es melden sich als Heizer Leute, deren Herkunft und Auftreten bedenklich ist. Denke dir nun einen Zug, welcher fast eine halbe Million Dollar bei sich führt, von so einem Maschinisten und Heizer geleitet. |
1444 |
Wenn die zwei Kerle darüber einig werden, können sie ihn leicht irgendwo auf der Strecke stehen lassen und sich mit dem Gelde davon machen. Darum muss ein Beamter bei ihnen sein, und da sie zwei Personen sind, hat derselbe noch einen Gehilfen zu sich zu nehmen. |
1445 |
Verstanden, es ist eine Art Polizeiposten. Wir werden jeder, du und ich, einen geladenen Revolver in der Tasche haben, um die Kerle, sobald sie eine verbrecherische Absicht verraten, sofort niederzuschießen. |
1446 |
Beide sind gut bewaffnet. Diese zwei würden, wenn wir auch die ersten beiden zwingen könnten, den Zug halten zu lassen, sofort Verdacht schöpfen und ihre Wagen verteidigen. Nein, das muss auf ganz andre Weise geschehen. |
1447 |
Was du jetzt von mir gehört hast. Der Zug trifft Punkt drei Uhr des Nachts hier ein. Wir beide stehen auf der Lokomotive und werden, sobald er hält, den Maschinisten und den Heizer auf uns nehmen. Nötigenfalls schießen wir sie nieder. |
1448 |
Bei einer solchen Übermacht werden die etwa wachen Bewohner von Sheridan und die drei oder vier Beamten, mit denen wir es zu tun haben, so verblüfft sein, dass sie gar keine Zeit zur Gegenwehr finden. |
1449 |
Mir fällt es gar nicht ein, diese prächtige Gelegenheit vorübergehen zu lassen. Ich werde den Plan so befürworten, dass der Cornel gar nicht dazukommen wird, Bedenken gegen denselben geltend zu machen. Ich bringe dir sicher eine zustimmende Antwort mit. |
1450 |
Das ist freilich eine heikle Frage. Wir müssen alles vermeiden, was Verdacht zu erregen vermag, was den Gedanken erwecken kann, dass wir Heimlichkeiten miteinander haben. Darum müssen wir es vermeiden, uns persönlich zu treffen. |
1451 |
Ich muss einen Ort wählen, zu welchem ich gelangen kann, ohne auffällig zu werden und viel Zeit dazu zu gebrauchen. Ich weiß schon, dass ich am Vormittag tüchtig zu arbeiten haben werde; es sind lange Lohnlisten auszufüllen, wie mir der Ingenieur sagte. |
1452 |
Jedenfalls aber finde ich einmal Zeit, wenigstens an die Haustüre zu treten. Hart neben derselben steht ein Regenfass, hinter welches du den Zettel verstecken kannst. Wenn du ihn mit einem Stein beschwerst, so wird ihn kein Unberufener entdecken. |
1453 |
Auch das lässt sich machen. Ich habe dir doch zu sagen oder sagen zu lassen, dass du mit mir den Geldzug besteigen sollst. Das werde ich schon am Vormittag tun. Ich lasse nach dir suchen, und das wirst du bei deiner Rückkehr sofort erfahren. |
1454 |
Das werde ich schon am Vormittag tun. Ich lasse nach dir suchen, und das wirst du bei deiner Rückkehr sofort erfahren. Du kommst dann, um zu fragen, weshalb ich nach dir verlangt habe. Dabei verbirgst du den Zettel, und ich weiß, dass er an seinem Orte liegt. |
1455 |
Der andre erwiderte den Gruß und huschte fort. Das Fenster wurde leise zugemacht. Old Firehand blieb noch eine Weile liegen und schob sich dann höchst vorsichtig nach der Klappe, um zurückzusteigen. Als er die Treppe hinabgeschlichen kam, fragte ihn eine leise Stimme. |
1456 |
Als sie sich in der letzteren befanden, fragte der Beamte, ob es möglich gewesen sei, das Gespräch zu belauschen. Der Jäger erzählte ihm alles, was er gehört hatte, und sprach die Überzeugung aus, dass die Angelegenheit den beabsichtigten Gang gehen werde. |
1457 |
Ihm, der an Tätigkeit und Bewegung gewöhnt war, fiel es nicht leicht, so ruhig und versteckt in seiner Stube auszuhalten; doch musste er sich darein ergeben. Es mochte gegen elf Uhr sein, als der Ingenieur zu ihm kam. |
1458 |
Dieser sagte ihm, dass der Schreiber fest bei der ihm aufgetragenen Arbeit sei und sich die größte Mühe gebe, für einen soliden Mann zu gelten. Es war auch nach Faller geschickt worden; natürlich hatte man ihn nicht gefunden. |
1459 |
Dieser Mann gehört zu meinen Leuten. Es muss etwas Unerwartetes geschehen sein, sonst würde er sich nicht hier sehen lassen. Hoffentlich ist es nichts Allzuschlimmes. Er weiß, dass ich hier sozusagen inkognito bin, und wird also keinen andern als nur Euch nach mir fragen. |
1460 |
Vielleicht ist's sogar etwas Gutes, auf alle Fälle aber etwas, was Ihr erfahren musstet. Darum wurde ich ausgewählt, Euch die Nachricht zu bringen. Ich bin scharf geritten und habe mich stets auf der Eisenbahn gehalten, wo die Tramps sich jedenfalls nicht sehen lassen werden. |
1461 |
Nein, gar nicht, denn wir entgehen dadurch der immerhin in Berechnung zu ziehenden Gefahr, dass es zwischen den hiesigen Arbeitern und den Tramps zum Kampfe kommt. Ferner brauchen wir nicht mit den beiden Kundschaftern nach Carlyle zu gehen. |
1462 |
Die Arbeiter in Sheridan waren meist Deutsche und Irländer. Sie hatten von all den eben erzählten Vorgängen noch keine Ahnung, da man es doch für möglich hielt, dass der Cornel einen oder einige Kundschafter senden werde, um sie zu beobachten. |
1463 |
Wer die Luft der Prairie und des Urwaldes einmal eingeatmet hat, dem ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich in geordnete Verhältnisse zu finden. Dieser Mann, welcher Watson hieß, war außerordentlich erfreut, als er hörte, was geschehen solle. |
1464 |
Der Winter kam allzufrüh, und es war eine vollständige Unmöglichkeit, durch den Massenschnee von dort herüber nach dem Silbersee zu kommen. Jedenfalls waren sie um den Alten in großer Sorge. Sie wussten ihn allein und mussten überzeugt sein, dass er in dieser Einsamkeit zu Grunde gehen müsse. |
1465 |
Glücklicherweise kam ich zu ihm, und fand auch schon einen andern in seiner Hütte, eben den vorhin erwähnten Deutschen, Namens Engel, welcher sich gerade so wie ich vor dem ersten Schneesturme hierher gerettet hatte. |
1466 |
Ich schätze, dass es geraten ist, mich kurz zu fassen, und will nur sagen, dass wir drei den ganzen Winter miteinander verlebten. Zu hungern brauchten wir nicht; es gab Wild genug; aber die Kälte hatte den Alten zu sehr angegriffen, und als die ersten lauen Lüfte wehten, mussten wir ihn begraben. |
1467 |
Er hatte uns lieb gewonnen und teilte uns, um sich uns dankbar zu erweisen, das Geheimnis vom Schatze des Silbersees mit. Er besaß ein uraltes Lederstück, auf welchem sich eine genaue Zeichnung der betreffenden Stelle befand, und erlaubte uns, eine Kopie davon zu machen. |
1468 |
Sie hätten uns sicher getötet; aber sie kannten den alten Indianer, welcher bei ihnen in großen Ehren gestanden hatte, und als sie erfuhren, dass wir uns seiner angenommen und ihn dann nach seinem Tode begraben hatten, schenkten sie uns das Leben. |
1469 |
Unsre Waffen aber behielten sie, ein Umstand, den wir ihnen nicht danken konnten, da wir ohne Waffen allen Fährlichkeiten, sogar dem Hungertode preisgegeben waren. Glücklicher oder vielmehr unglücklicherweise trafen wir am dritten Tage auf einen Jäger, von welchem wir Fleisch erhielten. |
1470 |
Freilich hat uns unsre Schweigsamkeit nichts genützt. Da nur er Waffen hatte, so ging er oft fort, um zu jagen, und dann saßen wir beide beisammen und sprachen fast nur von dem Schatze. Da ist er denn einmal heimlich zurückgekehrt, hat sich hinter uns geschlichen und unser Gespräch belauscht. |
1471 |
Als er darauf wieder nach Fleisch ging, forderte er mich auf, mitzugehen, da vier Augen mehr sehen als zwei. Nach einer Stunde, als wir uns weit genug von Engel entfernt hatten, sagte er mir, dass er alles gehört habe und uns zur Strafe für unser Misstrauen die Zeichnung abnehmen werde. |
1472 |
Jedenfalls. Glücklicherweise hatte er mich nicht ins Herz getroffen und doch angenommen, dass ich tot sei. Als ich erwachte, lag ich neben einer großen Blutlache im Schoße eines Indianers, der mich gefunden hatte. Es war Winnetou, der Häuptling der Apachen. |
1473 |
In guten Händen befand ich mich; das ist wahr. Der Rote hatte mich bereits verbunden. Er gab mir Wasser, und ich musste ihm, so gut das bei meiner Schwachheit ging, erzählen, was geschehen war. Darauf ließ er mich allein liegen, und ging den Spuren Brinkleys nach. |
1474 |
Als ich dort angekommen war, hörte ich, dass dieser Bruder nach dem Arkansas gezogen sei; aber wohin, das konnte mir niemand sagen. Er hatte bei seinem Nachbar einen Brief für seinen Bruder, falls dieser kommen und nach ihm fragen sollte, zurückgelassen. |
1475 |
Der letztere war auch eingetroffen und hatte den Brief erhalten, in welchem jedenfalls der neue Wohnort angegeben war; dann war er wieder fort, und den Nachbar gab es auch nicht mehr, da er gestorben war. |
1476 |
Wenn Späher gekommen waren, so befanden sich dieselben jedenfalls an einer Stelle, von welcher aus bei Nacht die Arbeiterniederlassung möglichst ungefährlich und zugleich hinreichend zu beobachten war. |
1477 |
Und eine solche Stelle gab es gar nicht weit entfernt vom Hause des Ingenieurs. Man hatte in das Terrain schneiden müssen, und so stieg hart am Geleise eine Böschung auf, deren Höhe einige Bäume trug. Von dort oben herunter gab es den besten Überblick, und die Bäume gewährten die nötige Deckung. |
1478 |
Als er oben angekommen war, sah er, dass seine Berechnung ganz richtig gewesen war. Unter den Bäumen saßen zwei Gestalten, welche miteinander sprachen, natürlich so leise, dass sie unten nicht gesehen werden konnten. |
1479 |
Der kühne Jäger näherte sich ihnen so weit, dass er mit dem Kopfe den Stamm des Baumes, neben welchem sie saßen, berührte. Er hätte beide mit der Hand ergreifen können. Er konnte sich so nahe an sie wagen, weil sein grauer Anzug selbst für das schärfste Auge nicht vom Boden zu unterscheiden war. |
1480 |
Eine so große Zahl ist ihm für seine weiteren Pläne nur hinderlich. Und ich gebe ihm da ganz recht. Je mehr Personen wir sind, desto kleiner ist der Gewinn, der auf den einzelnen fällt. Ich denke, dass er sich die Besten auswählt und mit ihnen ganz plötzlich verschwinden wird. |
1481 |
Da wartete sie nicht schon jetzt. Der Zug kommt ja erst nachts drei Uhr. Diese Maschine kommt mir nicht geheuer vor, und ich bin begierig, zu erfahren, welche Absicht man mit ihr verfolgt. Der Mann sprach da einen Verdacht aus, welcher sehr zu berücksichtigen war. |
1482 |
In diesen Wagen sollten die Arbeiter transportiert werden. Damit durfte man nun nicht bis gegen Mitternacht warten sondern es musste, um den Verdacht des Kundschafters zu zerstreuen, gleich geschehen. |
1483 |
Zwanzig genügen vollständig zum Schutze Eures Hauses und zur Sicherung der beiden Gefangenen. Eure Maßregeln können binnen einer halben Stunde getroffen sein; dann geht der Bauzug ab. Ich schleiche mich wieder zu den Spähern, um zu hören, was sie sagen. |
1484 |
Bald lag er wieder hinter den beiden Männern, welche sich jetzt schweigend verhielten. Er konnte ebensogut wie sie das vor ihm liegende Terrain überblicken und gab sich alle mögliche Mühe, eine Bewegung der Bewohner zu bemerken - vergeblich. |
1485 |
Es war der Ingenieur, welcher diese Worte rief. Er war, ohne einen Wink von Old Firehand erhalten zu haben, selbst so scharfsinnig gewesen, nachzudenken, auf welche Weise er den Verdacht des Spions am besten beseitigen könne. |
1486 |
Ja, ich bin beruhigt. Sie bringt leere Wagen nach Wallace, welche dort gebraucht werden. Mein Verdacht war unbegründet. Verdacht ist hier überhaupt Unsinn. Der Plan ist so gut angelegt, dass er unbedingt gelingen muss. Wir könnten eigentlich schon jetzt aufbrechen. |
1487 |
Er begab sich mit ihm in das Innere des Hauses, wo sie bei Wein und Zigarren der Stunde des Aufbruches harrten. Es gab nur noch zwanzig Arbeiter im Orte, und das genügte vollkommen, da keine Feindseligkeit zu erwarten war. |
1488 |
Die übrigen Leute hatten sich, dem ihnen erteilten Befehle gemäß, fortgeschlichen. Außerhalb Sheridans warteten sie aufeinander und folgten dann der Strecke, bis sie die gebotene Entfernung zurückgelegt hatten. Dort blieben sie halten, bis der Zug kam und sie aufnahm. |
1489 |
Dass die Tramps das nun Folgende beobachten würden, war gar nicht möglich, da dieselben jedenfalls schon aufgebrochen waren. Der Fluss zwang sie, sich bei ihrem Ritte in einer solchen Entfernung von der Bahn zu halten, dass sie gar nicht gewahren konnten, was auf derselben geschah. |
1490 |
Die Bahn hatte den Fluss, welcher hier von hohen Ufern eingeengt wurde, zu überschreiten. Sie tat dies damals mit Hilfe einer Interimsbrücke, über welche das Geleise führte, um drüben direkt in einen ungefähr siebzig Meter langen Tunnel zu treten. |
1491 |
Wenige Schritte vor dieser Brücke hielt der Zug, welcher nicht, wie die beiden Späher gemeint hatten, aus lauter leeren Wagen bestand die zwei letzten waren vielmehr mit dürrem Holze und Kohlen beladen. |
1492 |
Der Zug passierte die Brücke und fuhr dann so weit in den Tunnel ein, dass die zwei hinteren Wagen außerhalb desselben stehen blieben. Jetzt sprangen die Arbeiter wieder ab und schütteten den Inhalt des einen Sturzwagens aus. |
1493 |
Diese Sturzwagen sind so eingerichtet, dass, während das Rädergestell stehen bleibt, der darauf ruhende Kasten zur Seite geneigt, ausgeschüttet und dann wieder in seine vorige Lage zurückgebracht werden kann. |
1494 |
Die Arbeiter stiegen ab, um vor und hinter dem Tunnel die Kohlen und das Holz zu einem leicht brennenden Haufen aufzuschichten, doch wurde das so arrangiert, dass die Schienen nicht von dem Feuer beschädigt werden konnten. |
1495 |
Der Maschinist dampfte dann noch eine Strecke weiter, stoppte die Maschine und kam darauf wieder zurück. Sein Misstrauen war vollständig verschwunden. Was er sah, das musste ihn belehren, dass er sich unter den richtigen Leuten befand. |
1496 |
Rechts und links an der Flamme waren zwei Stämme eingerammt, welche oben in Gabeln ausliefen, in denen eine lange, starke Stange gedreht wurde, welche durch mächtig große Stücke von Büffelfleisch gesteckt worden war. |
1497 |
Er hatte sich ein großes Stück Büffellende hergenommen, schnitt riesige Bissen davon ab, steckte sie, einen nach dem andern, in den Mund und kaute mit einem Eifer und einer Andacht, als ob er weder den Namen noch das schallende Gelächter höre. |
1498 |
Die Sorge verdoppelte seine Schritte, und so hatte er Euch nach Verlauf von vielleicht einer Stunde soweit eingeholt, dass er Euch sehen konnte. Er trat eben um die Ecke eines Gebüsches, als er Euch erblickte; aber was er sah, riss ihn wieder hinter dieselbe zurück. |
1499 |
Vor Entsetzen fast starr, sah er durch die Zweige. Der Rote stach Euch nieder und kniete dann über Euch, um sich zu überzeugen, ob die Wunde tödlich sei. Dann stand er wieder auf und blieb, wie sich besinnend, eine Weile stehen. |
1500 |
Die Hetze ging wohl eine Stunde lang fort, bis Engel Büsche vor sich sah; er glaubte sich gerettet; aber die Büsche standen weit auseinander, und dazwischen gab es fettes Gras, welches die Spuren der Füße in größter Deutlichkeit aufnahm. |
1501 |
Der Flüchtige war eigentlich ein guter Läufer; aber die Entbehrungen des harten Winters hatten ihn doch entkräftet; der Verfolger kam ihm immer näher. Als er sich wieder umblickte, sah er ihn in einer Entfernung von höchstens hundert Schritten hinter sich. |
1502 |
Er fühlte einen Stoß wie von einer kräftigen Faust an der rechten Körperseite, sprang weiter und in das Wasser hinein, um nach dem gegenüberliegenden Ufer zu schwimmen. Da sah er von links her einen Bach sein Wasser in den Fluss ergießen. |
1503 |
Er wendete sich nach der Mündung desselben und schwamm eine kleine Strecke aufwärts, bis er ein Gestrüpp erblickte, welches seine dichten Zweige, die durch hängengebliebenes Spülgras für das Auge noch undurchdringlicher geworden waren, vom Ufer aus bis ins Wasser niederhing. |
1504 |
Jemmy war ein Deutscher und Davy ein Yankee, doch hatte der letztere während der vielen Jahre, welche beide zusammen gewesen waren, von dem ersteren so viel Deutsch gelernt, dass er sich auch in dieser Sprache genügend auszudrücken verstand. |
1505 |
Sie ritten vorüber, ohne einen Blick unter die Bäume zu werfen. Ihr Aussehen war ein höchst kriegerisches. Sie waren ohne Ausnahme mit Schießgewehren bewaffnet. Der Häuptling trug die rechte Hand in einer Binde. Sein Gesicht war noch dicker bemalt als am Morgen. |
1506 |
Von seinen Schultern hing der mit Federn geschmückte Kriegsmantel auf den Rücken des Pferdes nieder; aber der Kopf trug nicht mehr den Schmuck der Adlerschwingen. Er war besiegt worden und wollte diese Auszeichnung erst wieder anlegen, wenn er seine Rache befriedigt hatte. |
1507 |
Seine besten Leute ritten die besten Pferde, welche sich im Lager befunden hatten. Zehn Minuten später folgte der kühne Winnetou ganz allein und nach abermals zehn Minuten brachen die andern auf. Von einem wirklichen Wege war natürlich keine Rede. |
1508 |
Man ritt immer am Wasser aufwärts. Dieses hatte im Frühjahre während des Hochwassers an den Ufern gefressen. Losgerissene Steine und Stämme lagen überall, und man kam infolgedessen nur sehr langsam vorwärts, besonders da die Sänfte nur schwer über solche Hindernisse zu bringen war. |
1509 |
Als man dann die Lehne des Berges hinter sich hatte, wurde es besser. Die größte Steigung war überwunden, und je weniger Fall das Wasser hatte, desto weniger zerstört war die Umgebung des Baches. Was die Fährte betrifft, welcher man folgte, so konnte dieselbe gar nicht deutlicher sein. |
1510 |
Die weit auseinander stehenden Stämme vereinigten ihre Kronen zu einer so dichten Laubdecke, dass nur an einzelnen Stellen ein Sonnenstrahl durchzudringen vermochte. Der Boden war moderig und weich und zeigte die Fährte tief eingeschnitten. |
1511 |
Einige Male näherte man sich dem Apachen so, dass man ihn zu sehen bekam. Seine Haltung war eine sehr unbesorgte. Er wusste, dass die Utahs ihre Aufmerksamkeit wohl schwerlich hinter sich richteten. Zehn Uhr war es gewesen, als Old Firehand mit seinen Leuten vom See aufgebrochen war. |
1512 |
Dieser Rat wurde befolgt, und es zeigte sich, dass derselbe gut war. In gerader Richtung wäre man schwerlich ohne verschiedene Schiffbrüche hinabgekommen; der Abstieg nahm weit über eine halbe Stunde in Anspruch. |
1513 |
Ein wahres Glück, dass die Utahs so ahnungslos waren! Hätten sie ihre Verfolger bemerkt und sich im Felsenspalt festgesetzt, so wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, sie während dieses langsamen Abstieges, ohne alle Gefahr für sich, einen nach dem andern wegzuputzen. |
1514 |
Dann kamen die Jäger und nachher die Rafters, welche den Ingenieur und seine Tochter zwischen sich nahmen. Der Trupp war seit dem Eagletail dadurch größer geworden, dass sich Watson, der Schichtmeister, mit noch mehreren Arbeitern angeschlossen hatte. |
1515 |
Sie gehören dir, aber nur dann, wenn kein Weißer vorher getötet wird. Der vorzeitige Tod eines jeden bringt uns um die Wonne, ihre Qualen sehen zu können. Du hast bereits fünfzig Männer bei dir; da kommen auf jeden Weißen sieben Rote. |
1516 |
Wenn ihr euch gut anschleicht, so muss es euch gelingen, sie zu umschlingen und zu binden, bevor sie recht erwachen. Nehmt genug Riemen mit! Jetzt komm; ich werde wählen, wer dich begleiten soll. Die Zurückbleibenden werden sich grämen; aber sie sollen dafür die vordersten an den Marterpfählen sein. |
1517 |
Dort stieg man ab, um die Pferde unter dem Schutze der Fünfzig zurückzulassen. Bei der gegebenen Übermacht konnte das Unternehmen fast völlig gefahrlos genannt werden. Dennoch war das Gelingen nicht zu garantieren, und zwar in Rücksicht auf die Pferde. |
1518 |
Diese hatten sich in Anbetracht ihrer numerischen Überlegenheit nicht mit Schießgewehren, sondern nur mit den Messern bewaffnet. Es galt, die Weißen so zu überrumpeln und zusammenzudrücken, dass es zu gar keinem Kampfe kommen konnte. Nun wurde der Weitermarsch zu Fuße angetreten, ein Weg von drei englischen Meilen. |
1519 |
Plötzlich legten sich zwei Hände um seinen Hals und vier andre ergriffen ihn an den Armen und Beinen. Er konnte nicht atmen, die Besinnung schwand ihm, und als er wieder zu sich kam, war er gefesselt und in dem Munde steckte ein Knebel, welcher ihn am Schreien verhinderte. |
1520 |
Neben ihm saß ein Indianer, welcher ihm die Spitze seines Messers auf die Brust gesetzt hielt. Das erkannte er, obgleich der Schein des Mondes nicht herunter auf die Sohle des Canons drang. Inzwischen war das Feuer verlöscht, und der Häuptling hatte abermals zwei Krieger zu sich beordert. |
1521 |
Es galt dem untern Posten. Man musste also am Lager vorüber. Da dasselbe diesseits des Wassers lag, so war es geraten, den Weg jenseits desselben zurückzulegen. Die drei wateten hindurch und krochen drüben weiter, ein nicht sehr gefährliches Beginnen. |
1522 |
Es war anzunehmen, dass beide Posten in gleicher Entfernung von dem Lager platziert seien, und so konnte man leicht berechnen, welche Strecke zurückgelegt werden musste. Das Wasser schimmerte phosphoreszierend, und das Plätschern konnte zum Verräter werden. |
1523 |
Darum krochen die Roten noch eine Strecke weiter, gingen dann hinüber, legten sich wieder nieder und schoben sich dann auf Händen und Füßen wieder aufwärts. Nicht lange, so sahen sie den Posten; er stand sechs Schritte von ihnen, das Gesicht zur Seite gekehrt. |
1524 |
Noch eine kurze Minute, ein Sprung, ein leises, kurzes Stampfen, und auch er war überwältigt. Die zwei Roten blieben bei ihm zurück, und der "große Wolf" ging allein über das Wasser, um nun den Hauptschlag auszuführen. |
1525 |
Die Pferde standen in zwei Gruppen zwischen dem Lager und den beiden Posten. Sie hatten sich bis jetzt vollständig ruhig verhalten; es war aber nicht anzunehmen, dass dies auch fernerhin geschehen werde. |
1526 |
Noch nie im Leben war er so aufgeregt und wütend gewesen wie jetzt; das zeigte sich nicht bloß in seinen Worten, sondern auch in der Weise, wie er jetzt trotz der Finsternis vorwärts stürmte, als gelte es, die Feinde zu ereilen, welche er doch hinter sich hatte. |
1527 |
Ihre Richtung war jetzt genau westlich. Sie mussten tief in den Canon eindringen, um nicht von den Indianern doch entdeckt zu werden. Wohl eine halbe Stunde lang waren sie demselben gefolgt, als sie plötzlich, auf das angenehmste überrascht, stehen blieben. |
1528 |
Die Felswand zu ihrer Rechten hörte nämlich plötzlich auf, um mit einer von Norden kommenden Wand eine scharfe Ecke zu bilden. Da lag nun vor ihnen nicht etwa freies Terrain, sondern Wald, ein wirklicher Wald, wie kein Fremder ihn hier hatte ahnen können. |
1529 |
Über nur wenigem Unterholz wölbten sich die Wipfel so dicht, dass das Licht des Mondes nur an einzelnen Stellen durchzudringen vermochte. Es war der Wald des Wassers, in welchem die Utahs ihr Kriegslager aufgeschlagen hatten. |
1530 |
Diese beiden von Osten nach Westen gehenden Nebenthäler bildeten mit dem Hauptcanon und dem Walde ein Rechteck, dessen innere Fläche aus dem hohen, stundenlangen Felsenblocke bestand, in welchen die Gewässer sich ihre senkrechten und mehrere hundert Fuß tiefen Wege eingefressen hatten. |
1531 |
Der kleine Sachse bewies jetzt wirklich, dass er bei Old Shatterhand in einer vortrefflichen Schule gewesen war. Er machte seine Sache ausgezeichnet. Trotzdem er zwei Gewehre zu tragen hatte, bewegte er sich gewandt und geräuschlos vorwärts. |
1532 |
Sie kamen vielleicht in einer Entfernung von fünfzig Schritten an den Häuptlingen vorüber und wendeten sich nach dem nächsten Feuer, welches glücklicherweise dasjenige war, an welchem die Gefangenen lagen. |
1533 |
Droll sagte sich natürlich, dass dieselben nicht an einer dunkeln Stelle zu suchen seien. Sicher, wenn auch langsam, aber doch stetig kamen sie näher, was freilich nicht ohne alle Gefahr bewerkstelligt werden konnte. Es kam einigemale vor, dass ein Roter ganz nahe an ihnen vorüberhuschte. |
1534 |
Später aber hörte dieses Hin- und Herlaufen auf. Diejenigen, welche den Totengesang übernommen hatten, hockten um die Leiche, und die andern hatten sich ausgestreckt, um eine Stunde zu schlafen. So gelangten die beiden bis hinter die Wachen, welche den Platz der Gefangenen umstanden. |
1535 |
Droll lag hinter einem Baume und Frank hinter dem nächsten. Der Mann, welcher das Feuer zu unterhalten hatte, war einmal fortgegangen, um bei der Leiche in das Klagelied einzustimmen, und einige der zwölf Wächter hatten dasselbe getan. |
1536 |
Das geschah so schnell, dass es finster war, ehe die Wächter den Vorgang recht begriffen. Sie stießen ihre Warnungsrufe zu spät aus, denn schon drangen die Gefangenen durch den Wald dem See entgegen. Old Shatterhand war allen voran; hinter ihm kamen Winnetou und Firehand. |
1537 |
Die Häuptlinge saßen noch immer beratend an ihrem Feuer. Es war eine hochwillkommene Aufgabe für sie, die denkbar fürchterlichsten Qualen, an denen die Weißen und der Apache sterben sollten, in Vorschlag zu bringen und zu besprechen. |
1538 |
Da hörten sie zwar den Ruf der Wächter, aber zugleich sahen sie die Gestalten der Befreiten auf sich zukommen - einige Sekunden später waren sie zu Boden geworfen, entwaffnet und gebunden. Die Weißen griffen nach ihren in der Nähe liegenden Gewehren, ungefragt, ob jeder sein eigenes erwische. |
1539 |
Als die Wächter nun unter den letzten Bäumen erschienen, sahen sie ihre Anführer am Boden liegen, und daneben knieten einige Weiße mit gezückten Messern, augenblicklich bereit, die Häuptlinge zu erstechen. Hinter dieser Gruppe standen die andern mit angelegten Gewehren. |
1540 |
Der rote Mann greift am liebsten gegen Morgen an, wo der Schlaf, wenigstens bei den dortigen Verhältnissen, bekanntlich am tiefsten ist. Warum die Navajos von dieser Regel abwichen, war schwer zu ersehen. |
1541 |
Vielleicht hatten sie geglaubt, unbemerkt eindringen und dann die von den Feuern beschienenen Feinde schnell niederschießen zu können. Als das nicht gelungen war, hatte ihre Tapferkeit ihnen nicht gestattet, zurückzuweichen; sie waren dennoch vorgedrungen und kämpften nun mit viel Verlust. |
1542 |
Es stellte sich heraus, dass die Utahs in der Überzahl waren; überdies kannten sie das Terrain besser als die Feinde, und so wurden diese, obgleich sie sich außerordentlich wacker hielten, nach und nach zurückgedrängt. |
1543 |
Hinter diesen Bastionen stiegen neue und immer wieder neue Bergesriesen auf, der eine immer das Haupt über den andern erhebend. Aber diese Berge und Felsen waren nicht kahl. In den zahlreichen Klüften, welche sie durchrissen, wuchsen Bäume und Sträucher. |
1544 |
In der Mitte des Sees lag eine grüne Insel mit einem seltsamen Luftziegelbau. Er schien aus der Zeit zu stammen, in welcher die jetzigen Indianer noch die Urbewohner nicht verdrängt hatten. Auf dem Grasstreifen standen mehrere Hütten, in deren Nähe einige Kanoes am Ufer angebunden waren. |
1545 |
Die Insel war kreisrund und mochte einen Durchmesser von hundert Schritten haben. Das alte Bauwerk war ganz mit blühenden Schlingpflanzen überzogen; der übrige Raum war wie ein Garten bearbeitet und mit Blumen und Stauden bepflanzt. |
1546 |
Der Wald spiegelte seine Wipfel im Wasser des Sees, und die Bergeshäupter warfen ihre Schatten über die Flut. Dennoch war dieselbe weder grün noch blau oder überhaupt dunkel gefärbt; sie glänzte vielmehr silbergrau. |
1547 |
Wir sind euch weit überlegen, aber wir wünschen nicht euer Blut, sondern wir wollen euch Frieden geben. Die Geiseln glauben uns nicht, dass so viele eurer Leute im See umgekommen sind. Einer von euch soll es ihnen sagen, um sie zu überzeugen. |
1548 |
Schließen sie nicht Frieden, so müssen sie binnen einer Stunde sterben, und euch werden wir jagen und hetzen, bis ihr zusammenbrecht. Sei klug, und gehe jetzt mit mir! Ich führe dich zu den Häuptlingen. Sprich mit ihnen, und dann kannst du wieder hierher zurückkehren. |
1549 |
Die Festlichkeit währte bis zum frühen Morgen. Die aufgehende Sonne sah zu, als die Helden des Friedensschlusses sich in ihre Decken wickelten, um einzuschlafen. Was die Zeichnung betrifft, welche der rote Cornel gehabt hatte, so war sie verschwunden, sie wäre nun auch gegenstandslos gewesen. |
1550 |
Eine schwierige Aufgabe für die Weißen war es, den "großen Wolf" nun freundlich zu behandeln. Er war es, der am meisten gegen sie gesündigt hatte; er trug die Schuld an allem, was geschehen war; aber auch ihm wurde vergeben. |
1551 |
Er war den ganzen Tag um ihr kleines Persönchen, und wenn er einmal auf sich warten ließ, so fehlte er ihr an allen Ecken und Enden. Endlich, nach fast anderthalb Monaten, kam die Botschaft, dass die Maschinen abgeholt werden könnten. |
1552 |
Die Hoffnung, welche man in den Ort gesetzt hatte, bewährte sich. Der Sand war reich an Gold und ließ eine ebenso reiche Ausbeute des festen Gesteins erwarten. Der Goldstaub und die Nuggets mehrten sich von Tag zu Tag. |
1553 |
Die Unterscheidung des Psychischen in Bewusstes und Unbewusstes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen, der Wissenschaft einzuordnen. |
1554 |
Nochmals und anders gesagt: Die Psychoanalyse kann das Wesen des Psychischen nicht ins Bewusstsein verlegen, sondern muss das Bewusstsein als eine Qualität des Psychischen ansehen, die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag. |
1555 |
Wenn ich mir vorstellen könnte, dass alle an der Psychologie Interessierten diese Schrift lesen werden, so wäre ich auch darauf vorbereitet, dass schon an dieser Stelle ein Teil der Leser haltmacht und nicht weiter mitgeht, denn hier ist das erste Schibboleth der Psychoanalyse. |
1556 |
Ich glaube, dies kommt nur daher, dass sie die betreffenden Phänomene der Hypnose und des Traumes, welche – vom Pathologischen ganz abgesehen – zu solcher Auffassung zwingen, nie studiert haben. |
1557 |
Ihre Bewusstseinspsychologie ist aber auch unfähig, die Probleme des Traumes und der Hypnose zu lösen. Bewusst sein ist zunächst ein rein deskriptiver Terminus, der sich auf die unmittelbarste und sicherste Wahrnehmung beruft. |
1558 |
Die Erfahrung zeigt uns dann, dass ein psychisches Element, zum Beispiel eine Vorstellung, gewöhnlich nicht dauernd bewusst ist. Es ist vielmehr charakteristisch, dass der Zustand des Bewusstseins rasch vorübergeht. |
1559 |
Inzwischen war sie, wir wissen nicht was; wir können sagen, sie sei latent gewesen, und meinen dabei, dass sie jederzeit bewusstseinsfähig war. Auch wenn wir sagen, sie sei unbewusst gewesen, haben wir eine korrekte Beschreibung gegeben. |
1560 |
Diese Theorie wird dadurch unwiderleglich, dass sich in der psychoanalytischen Technik Mittel gefunden haben, mit deren Hilfe man die widerstrebende Kraft aufheben und die betreffenden Vorstellungen bewusstmachen kann. |
1561 |
Den Zustand, in dem diese sich vor der Bewusstmachung befanden, heißen wir Verdrängung, und die Kraft, welche die Verdrängung herbeigeführt und aufrechtgehalten hat, behaupten wir während der analytischen Arbeit als Widerstand zu verspüren. |
1562 |
Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewussten. Wir sehen aber, dass wir zweierlei Unbewusstes haben, das latente, doch bewusstseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres nicht bewusstseinsfähige. |
1563 |
Für manche Zwecke der Darstellung kann man diese Unterscheidung vernachlässigen, für andere ist sie natürlich unentbehrlich. Wir haben uns immerhin an diese Zweideutigkeit des Unbewussten ziemlich gewöhnt und sind gut mit ihr ausgekommen. |
1564 |
Im weiteren Verlauf der psychoanalytischen Arbeit stellt sich aber heraus, dass auch diese Unterscheidungen unzulänglich, praktisch insuffizient sind. Unter den Situationen, die das zeigen, sei folgende als die entscheidende hervorgehoben. |
1565 |
Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben. An diesem Ich hängt das Bewusstsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität. |
1566 |
Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewusstsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. |
1567 |
Dies durch die Verdrängung Beseitigte stellt sich in der Analyse dem Ich gegenüber, und es wird der Analyse die Aufgabe gestellt, die Widerstände aufzuheben, die das Ich gegen die Beschäftigung mit dem Verdrängten äußert. |
1568 |
Nun machen wir während der Analyse die Beobachtung, dass der Kranke in Schwierigkeiten gerät, wenn wir ihm gewisse Aufgaben stellen; seine Assoziationen versagen, wenn sie sich dem Verdrängten annähern sollen. |
1569 |
Wir sagen ihm dann, er stehe unter der Herrschaft eines Widerstandes, aber er weiß nichts davon, und selbst wenn er aus seinen Unlustgefühlen erraten sollte, dass jetzt ein Widerstand in ihm wirkt, so weiß er ihn nicht zu benennen und anzugeben. |
1570 |
Wir müssen für diesen Gegensatz aus unserer Einsicht in die strukturellen Verhältnisse des Seelenlebens einen anderen einsetzen: den zwischen dem zusammenhängenden Ich und dem von ihm abgespaltenen Verdrängten. |
1571 |
Die Folgen für unsere Auffassung des Unbewussten sind aber noch bedeutsamer. Die dynamische Betrachtung hatte uns die erste Korrektur gebracht, die strukturelle Einsicht bringt uns die zweite. Wir erkennen, dass das Unbewusste nicht mit dem Verdrängten zusammenfällt. |
1572 |
Wenn wir uns so vor der Nötigung sehen, ein drittes, nicht verdrängtes Unbewusste aufzustellen, so müssen wir zugestehen, dass der Charakter des Unbewusstseins für uns an Bedeutung verliert. Er wird zu einer vieldeutigen Qualität. |
1573 |
Die pathologische Forschung hat unser Interesse allzu ausschließlich auf das Verdrängte gerichtet. Wir möchten mehr vom Ich erfahren, seitdem wir wissen, dass auch das Ich unbewusst im eigentlichen Sinne sein kann. |
1574 |
Wir wissen schon, wo wir hierfür anzuknüpfen haben. Wir haben gesagt, das Bewusstsein ist die Oberfläche des seelischen Apparates, das heißt, wir haben es einem System als Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von der Außenwelt her ist. |
1575 |
Diese Wortvorstellungen sind Erinnerungsreste, sie waren einmal Wahrnehmungen und können wie alle Erinnerungsreste wieder bewusst werden. Ehe wir noch weiter von ihrer Natur handeln, dämmert uns wie eine neue Einsicht auf. |
1576 |
Bewusst werden kann nur das, was schon einmal bewusste Wahrnehmung war, und was außer Gefühlen von innen her bewusst werden will, muss versuchen, sich in äußere Wahrnehmungen umzusetzen. Dies wird mittels der Erinnerungsspuren möglich. |
1577 |
Wenn also, um zu unserem Argument zurückzukehren, dies der Weg ist, wie etwas an sich Unbewusstes vorbewusst wird, so ist die Frage, wie machen wir etwas Verdrängtes (vor)bewusst, zu beantworten: indem wir solche vbw Mittelglieder durch die analytische Arbeit herstellen. |
1578 |
Die innere Wahrnehmung ergibt Empfindungen von Vorgängen aus den verschiedensten, gewiss auch tiefsten Schichten des seelischen Apparates. Sie sind schlecht gekannt, als ihr bestes Muster können noch die der Lust-Unlustreihe gelten. |
1579 |
Sie sind ursprünglicher, elementarer als die von außen stammenden, können noch in Zuständen getrübten Bewusstseins zustande kommen. Über ihre größere ökonomische Bedeutung und deren metapsychologische Begründung habe ich mich an anderer Stelle geäußert. |
1580 |
Die Empfindungen mit Lustcharakter haben nichts Drängendes an sich, dagegen im höchsten Grad die Unlustempfindungen. Diese drängen auf Veränderung, auf Abfuhr, und darum deuten wir die Unlust auf eine Erhöhung, die Lust auf eine Erniedrigung der Energiebesetzung. |
1581 |
Nennen wir das, was als Lust und Unlust bewusst wird, ein quantitativ-qualitativ Anderes im seelischen Ablauf, so ist die Frage, ob ein solches Anderes an Ort und Stelle bewusst werden kann oder bis zum System W fortgeleitet werden muss. |
1582 |
Nun meine ich, wir werden großen Vorteil davon haben, wenn wir der Anregung eines Autors folgen, der vergebens aus persönlichen Motiven beteuert, er habe mit der gestrengen, hohen Wissenschaft nichts zu tun. |
1583 |
Wir werden bald sehen, ob wir aus dieser Auffassung Nutzen für Beschreibung und Verständnis ziehen können. Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewusst, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem W-System als Kern entwickelt. |
1584 |
Streben wir nach graphischer Darstellung, so werden wir hinzufügen, das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System W dessen Oberfläche bildet, also etwa so wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. |
1585 |
Aber auch das Verdrängte fließt mit dem Es zusammen, ist nur ein Teil von ihm. Das Verdrängte ist nur vom Ich durch die Verdrängungswiderstände scharf geschieden, durch das Es kann es mit ihm kommunizieren. |
1586 |
Wir erkennen sofort, fast alle Sonderungen, die wir auf die Anregung der Pathologie hin beschrieben haben, beziehen sich nur auf die – uns allein bekannten – oberflächlichen Schichten des seelischen Apparates. |
1587 |
Es bemüht sich auch, den Einfluss der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. |
1588 |
Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält. |
1589 |
Dieses Gleichnis trägt ein Stück weiter. Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrigbleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre. |
1590 |
Auf die Entstehung des Ichs und seine Absonderung vom Es scheint noch ein anderes Moment als der Einfluss des Systems W hingewirkt zu haben. Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. |
1591 |
Auch der Schmerz scheint dabei eine Rolle zu spielen, und die Art, wie man bei schmerzhaften Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist vielleicht vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt. |
1592 |
Weit befremdender ist aber eine andere Erfahrung. Wir lernen in unseren Analysen, dass es Personen gibt, bei denen die Selbstkritik und das Gewissen, also überaus hochgewertete seelische Leistungen, unbewusst sind und als unbewusst die wichtigsten Wirkungen äußern. |
1593 |
Wollen wir zu unserer Wertskala zurückkehren, so müssen wir sagen: Nicht nur das Tiefste, auch das Höchste am Ich kann unbewusst sein. Es ist, als würde uns auf diese Weise demonstriert, was wir vorhin vom bewussten Ich ausgesagt haben, es sei vor allem ein Körper-Ich. |
1594 |
Wäre das Ich nur der durch den Einfluß des Wahrnehmungssystems modifizierte Anteil des Es, der Vertreter der realen Außenwelt im Seelischen, so hätten wir es mit einem einfachen Sachverhalt zu tun. Allein es kommt etwas anderes hinzu. |
1595 |
Die Motive, die uns bewogen haben, eine Stufe im Ich anzunehmen, eine Differenzierung innerhalb des Ichs, die Ich-Ideal oder Über-Ich zu nennen ist, sind an anderen Orten auseinandergesetzt worden. Sie bestehen zu Recht. |
1596 |
Wir müssen hier etwas weiter ausgreifen. Es war uns gelungen, das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme aufzuklären, dass ein verlorenes Objekt im Ich wiederaufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst wird. |
1597 |
Uranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums sind Objektbesetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden. Späterhin kann man nur annehmen, dass die Objektbesetzungen vom Es ausgehen, welches die erotischen Strebungen als Bedürfnisse empfindet. |
1598 |
Soll oder muss ein solches Sexualobjekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht selten die Ichveränderung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich wie bei der Melancholie beschreiben muss; die näheren Verhältnisse dieser Ersetzung sind uns noch nicht bekannt. |
1599 |
Vielleicht erleichtert oder ermöglicht das Ich durch diese Introjektion, die eine Art von Regression zum Mechanismus der oralen Phase ist, das Aufgeben des Objekts. Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte aufgibt. |
1600 |
Jedenfalls ist der Vorgang zumal in frühen Entwicklungsphasen ein sehr häufiger und kann die Auffassung ermöglichen, dass der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält. |
1601 |
Auch eine Gleichzeitigkeit von Objektbesetzung und Identifizierung, also eine Charakterveränderung, ehe das Objekt aufgegeben worden ist, kommt in Betracht. In diesem Fall könnte die Charakterveränderung die Objektbeziehung überleben und sie in gewissem Sinne konservieren. |
1602 |
Ein anderer Gesichtspunkt besagt, dass diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl in eine Ichveränderung auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen zu ihm vertiefen kann, allerdings auf Kosten einer weitgehenden Gefügigkeit gegen dessen Erlebnisse. |
1603 |
Ob diese Verwandlung nicht auch andere Triebschicksale zur Folge haben kann, zum Beispiel eine Entmischung der verschiedenen miteinander verschmolzenen Triebe herbeizuführen, wird uns noch später beschäftigen. |
1604 |
Auch wenn es nicht so weit kommt, ergibt sich das Thema der Konflikte zwischen den verschiedenen Identifizierungen, in die das Ich auseinanderfährt, Konflikte, die endlich nicht durchwegs als pathologische bezeichnet werden können. |
1605 |
Wie immer sich aber die spätere Resistenz des Charakters gegen die Einflüsse aufgegebener Objektbesetzungen gestalten mag, die Wirkungen der ersten, im frühesten Alter erfolgten Identifizierungen werden allgemeine und nachhaltige sein. |
1606 |
Aber die Objektwahlen, die der ersten Sexualperiode angehören und Vater und Mutter betreffen, scheinen beim normalen Ablauf den Ausgang in solche Identifizierung zu nehmen und somit die primäre Identifizierung zu verstärken. |
1607 |
Immerhin sind diese Beziehungen so kompliziert, dass es notwendig wird, sie eingehender zu beschreiben. Es sind zwei Momente, welche diese Komplikation verschulden, die dreieckige Anlage des Ödipusverhältnisses und die konstitutionelle Bisexualität des Individuums. |
1608 |
Die beiden Beziehungen gehen eine Weile nebeneinander her, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der Mutter und die Wahrnehmung, dass der Vater diesen Wünschen ein Hindernis ist, der Ödipuskomplex entsteht. |
1609 |
Die Vateridentifizierung nimmt nun eine feindselige Tönung an, sie wendet sich zum Wunsch, den Vater zu beseitigen, um ihn bei der Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent. |
1610 |
Es scheint, als ob die in der Identifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest geworden wäre. Die ambivalente Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung nach der Mutter beschreiben für den Knaben den Inhalt des einfachen, positiven Ödipuskomplexes. |
1611 |
Bei der Zertrümmerung des Ödipuskomplexes muss die Objektbesetzung der Mutter aufgegeben werden. An ihre Stelle kann zweierlei treten, entweder eine Identifizierung mit der Mutter oder eine Verstärkung der Vateridentifizierung. |
1612 |
Den letzteren Ausgang pflegen wir als den normaleren anzusehen, er gestattet es, die zärtliche Beziehung zur Mutter in gewissem Maße festzuhalten. Durch den Untergang des Ödipuskomplexes hätte so die Männlichkeit im Charakter des Knaben eine Festigung erfahren. |
1613 |
In ganz analoger Weise kann die Ödipuseinstellung des kleinen Mädchens in eine Verstärkung ihrer Mutteridentifizierung (oder in die Herstellung einer solchen) auslaufen, die den weiblichen Charakter des Kindes festlegt. |
1614 |
Diese Identifizierungen entsprechen nicht unserer Erwartung, denn sie führen nicht das aufgegebene Objekt ins Ich ein, aber auch dieser Ausgang kommt vor und ist bei Mädchen leichter zu beobachten als bei Knaben. |
1615 |
Man erfährt sehr häufig aus der Analyse, dass das kleine Mädchen, nachdem es auf den Vater als Liebesobjekt verzichten musste, nun seine Männlichkeit hervorholt und sich anstatt mit der Mutter, mit dem Vater, also mit dem verlorenen Objekt, identifiziert. |
1616 |
Der Ausgang der Ödipussituation in Vater- oder in Mutteridentifizierung scheint also bei beiden Geschlechtern von der relativen Stärke der beiden Geschlechtsanlagen abzuhängen. Dies ist die eine Art, wie sich die Bisexualität in die Schicksale des Ödipuskomplexes einmengt. |
1617 |
Die andere ist noch bedeutsamer. Man gewinnt nämlich den Eindruck, dass der einfache Ödipuskomplex überhaupt nicht das häufigste ist, sondern einer Vereinfachung oder Schematisierung entspricht, die allerdings oft genug praktisch gerechtfertigt bleibt. |
1618 |
Es könnte auch sein, dass die im Elternverhältnis konstatierte Ambivalenz durchaus auf die Bisexualität zu beziehen wäre und nicht, wie ich es vorhin dargestellt, durch die Rivalitätseinstellung aus der Identifizierung entwickelt würde. |
1619 |
So kann man als allgemeinstes Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Sexualphase einen Niederschlag im Ich annehmen, welcher in der Herstellung dieser beiden, irgendwie miteinander vereinbarten Identifizierungen besteht. |
1620 |
Es ist der Psychoanalyse unzählige Male zum Vorwurf gemacht worden, dass sie sich um das Höhere, Moralische, Überpersönliche im Menschen nicht kümmere. Der Vorwurf war doppelt ungerecht, historisch wie methodisch. |
1621 |
Es wäre aber ein vergebliches Bemühen, das Ichideal auch nur in ähnlicher Weise wie das Ich zu lokalisieren oder es in eines der Gleichnisse einzupassen, durch welche wir die Beziehung von Ich und Es nachzubilden versuchten. |
1622 |
Es ist leicht zu zeigen, dass das Ichideal allen Ansprüchen genügt, die an das höhere Wesen im Menschen gestellt werden. Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht enthält es den Keim, aus dem sich alle Religionen gebildet haben. |
1623 |
Im weiteren Verlauf der Entwicklung haben Lehrer und Autoritäten die Vaterrolle fortgeführt; deren Gebote und Verbote sind im Ideal-Ich mächtig geblieben und üben jetzt als Gewissen die moralische Zensur aus. |
1624 |
Die Spannung zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs wird als Schuldgefühl empfunden. Die sozialen Gefühle ruhen auf Identifizierungen mit anderen auf Grund des gleichen Ichideals. |
1625 |
Die sozialen Gefühle entstehen noch heute beim einzelnen als Überbau über die eifersüchtigen Rivalitätsregungen gegen die Geschwister. Da die Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt sich eine Identifizierung mit dem anfänglichen Rivalen her. |
1626 |
Mit der Erwähnung der Phylogenese tauchen aber neue Probleme auf, vor deren Beantwortung man zaghaft zurückweichen möchte. Aber es hilft wohl nichts, man muss den Versuch wagen, auch wenn man fürchtet, dass er die Unzulänglichkeit unserer ganzen Bemühung bloßstellen wird. |
1627 |
Beantworten wir zuerst, was sich am leichtesten beantworten lässt. Die Differenzierung von Ich und Es müssen wir nicht nur den primitiven Menschen, sondern noch viel einfacheren Lebewesen zuerkennen, da sie der notwendige Ausdruck des Einflusses der Außenwelt ist. |
1628 |
Das Über-Ich ließen wir gerade aus jenen Erlebnissen, die zum Totemismus führten, entstehen. Die Frage, ob das Ich oder das Es jene Erfahrungen und Erwerbungen gemacht haben, fällt bald in sich zusammen. |
1629 |
Die nächste Erwägung sagt uns, dass das Es kein äußeres Schicksal erleben oder erfahren kann außer durch das Ich, welches die Außenwelt bei ihm vertritt. Von einer direkten Vererbung im Ich kann man aber doch nicht reden. |
1630 |
Hier tut sich die Kluft auf zwischen dem realen Individuum und dem Begriff der Art. Auch darf man den Unterschied von Ich und Es nicht zu starr nehmen, nicht vergessen, dass das Ich ein besonders differenzierter Anteil des Es ist. |
1631 |
Somit beherbergt das erbliche Es in sich die Reste ungezählt vieler Ich-Existenzen, und wenn das Ich sein Über-Ich aus dem Es schöpft, bringt es vielleicht nur ältere Ichgestaltungen wieder zum Vorschein, schafft ihnen eine Auferstehung. |
1632 |
Wir sagten bereits, wenn unsere Gliederung des seelischen Wesens in ein Es, ein Ich und ein Über-Ich einen Fortschritt in unserer Einsicht bedeutet, so muss sie sich auch als Mittel zum tieferen Verständnis und zur besseren Beschreibung der dynamischen Beziehungen im Seelenleben erweisen. |
1633 |
Der Inbegriff aller Gegenstände aber, worauf jene Begriffe bezogen werden, und, wo möglich, ein Erkenntnis derselben zustande zu bringen, kann, nach der verschiedenen Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit unserer Vermögen zu dieser Absicht, eingeteilt werden. |
1634 |
Begriffe, sofern sie auf Gegenstände bezogen werden, unangesehen, ob ein Erkenntnis derselben möglich sei oder nicht, haben ihr Feld, welches bloß nach dem Verhältnisse, das ihr Objekt zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt hat, bestimmt wird. |
1635 |
Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. Die Philosophie teilt sich nun auch, diesem gemäß, in die theoretische und die praktische. |
1636 |
Aber der Boden, auf welchem ihr Gebiet errichtet, und ihre Gesetzgebung ausgeübt wird, ist immer doch nur der Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung, sofern sie für nichts mehr als bloße Erscheinungen genommen werden. |
1637 |
Die Möglichkeit, das Zusammenbestehen beider Gesetzgebungen und der dazu gehörigen Vermögen in demselben Subjekt sich wenigstens ohne Widerspruch zu denken, bewies die Kritik der reinen Vernunft, indem sie die Einwürfe dawider durch Aufdeckung des dialektischen Scheins in denselben vernichtete. |
1638 |
Es gibt also ein unbegrenztes, aber auch unzugängliches Feld für unser gesamtes Erkenntnisvermögen, nämlich das Feld des Übersinnlichen, worin wir keinen Boden für uns finden, also auf demselben weder für die Verstandes- noch Vernunftbegriffe ein Gebiet zum theoretischen Erkenntnis haben können. |
1639 |
Was aber nicht in die Einteilung der Philosophie kommen kann, das kann doch, als ein Hauptteil, in die Kritik des reinen Erkenntnisvermögens überhaupt kommen, wenn es nämlich Prinzipien enthält, die für sich weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauche tauglich sind. |
1640 |
Hierzu kommt aber noch (nach der Analogie zu urteilen) ein neuer Grund, die Urteilskraft mit einer anderen Ordnung unserer Vorstellungskräfte in Verknüpfung zu bringen, welche von noch größerer Wichtigkeit zu sein scheint, als die der Verwandtschaft mit der Familie der Erkenntnisvermögen. |
1641 |
Denn alle Seelenvermögen, oder Fähigkeiten, können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen. |
1642 |
Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren. |
1643 |
Beide Prinzipien aber sind dennoch nicht empirisch, sondern Prinzipien a priori: weil es zur Verbindung des Prädikats mit dem empirischen Begriffe des Subjekts ihrer Urteile keiner weiteren Erfahrung bedarf, sondern jene völlig a priori eingesehen werden kann. |
1644 |
Sie kommen, als Sentenzen der metaphysischen Weisheit, bei Gelegenheit mancher Regeln, deren Notwendigkeit man nicht aus Begriffen dartun kann, im Laufe dieser Wissenschaft oft genug, aber nur zerstreut vor. |
1645 |
Alle Veränderung hat ihre Ursache (allgemeines Naturgesetz); die transzendentale Urteilskraft hat nun nichts weiter zu tun, als die Bedingung der Subsumtion unter dem vorgelegten Verstandesbegriff a priori anzugeben: und das ist die Sukzession der Bestimmungen eines und desselben Dinges. |
1646 |
Um sich von der Richtigkeit dieser Deduktion des vorliegenden Begriffs, und der Notwendigkeit, ihn als transzendentales Erkenntnisprinzip anzunehmen, zu überzeugen, bedenke man nur die Größe der Aufgabe. |
1647 |
Aus gegebenen Wahrnehmungen einer allenfalls unendliche Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze enthaltenden Natur eine zusammenhängende Erfahrung zu machen, welche Aufgabe a priori in unserm Verstande liegt. |
1648 |
Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist insofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen. |
1649 |
Allein wenn die Bestimmungsgründe der Kausalität nach dem Freiheitsbegriffe (und der praktischen Regel die er enthält) gleich nicht in der Natur belegen sind, und das Sinnliche das übersinnliche im Subjekte nicht bestimmen kann. |
1650 |
Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird. |
1651 |
Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, dass diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber lässt dieses gänzlich unbestimmt. |
1652 |
Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen. |
1653 |
Die Vernunft aber gibt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich. |
1654 |
Nicht weit von Zwickau im Vogtlande hat sich in einem Dorf zugetragen, dass die Eltern ihren Sohn, einen jungen Knaben, in den Wald geschickt, die Ochsen, so allda an der Weide gegangen, heimzutreiben. |
1655 |
Als aber der Knabe sich etwas gesäumt, hat ihn die Nacht überfallen, ist auch dieselbe Nacht ein großer, tiefer Schnee herabgekommen, der allenthalben die Berge bedeckt hat, dass der Knabe vor dem Schnee nicht hat können aus dem Wald gelangen. |
1656 |
Und als er auch des folgenden Tags nicht heimkommen, sind die Eltern nicht so sehr der Ochsen als des Knaben wegen nicht wenig bekümmert gewesen und haben doch vor dem großen Schnee nicht in den Wald dringen können. |
1657 |
Der Knab, nachdem er die Eltern gesehen, hat sie angelacht, und als sie ihn gefragt, warum er nicht heimgekommen, hat er geantwortet, er hätte warten wollen, bis es Abend würde; hat nicht gewusst, dass schon ein Tag vergangen war, ist ihm auch kein Leid widerfahren. |
1658 |
Da man ihn auch gefragt, ob er etwas gegessen hätte, hat er berichtet, es sei ein Mann zu ihm gekommen, der ihm Käs und Brot gegeben habe. Ist also dieser Knabe ohne Zweifel durch einen Engel Gottes gespeist und erhalten worden. |
1659 |
Mittlerweile überschwemmte das Kriegsvolk seine Länder und schleifte ihm alle Festungen, ausgenommen Ziegenhain. Darin lag Heinz von Lüder, hielt seinem Herrn rechte Treue und wollte die Feste um keinen Preis übergeben, sondern lieber sich tapfer wehren. |
1660 |
Als nun endlich der Landgraf ledig wurde, sollte er auf des Kaisers Geheiß, sobald er nach Hessen zurückkehren würde, diesen hartnäckigen Heinz von Lüder unter dem Ziegenhainer Tore in Ketten aufhängen lassen, und zu dem Ende wurde ein kaiserlicher Abgeordneter als Augenzeuge mitgegeben. |
1661 |
Als die Frau von Bonikau in Sachsen einmal im Kindbett lag und allein war, kam ein klein Weibchen zu ihr: sie bäte sie zu erlauben, dass sie eine Hochzeit in ihrer Kammer halten möchte, sie wollte sich wohl in Acht nehmen, dass niemand als sie dabei sein würde. |
1662 |
Als die Frau von Bonikau eingewilligt, kam einsmals eine große Gesellschaft von den Erdmännchen und Weibchen in die Kammer. Man brachte ein klein Tischchen und deckte es, setzte viel Schüsseln darauf, und die ganze Gesellschaft und Hochzeit setzte sich an die Tafel. |
1663 |
Sind sie geringfügig, so erfüllen sie den Zweck nicht, den Patienten vor indiskreter Neugierde zu schützen, und gehen sie weiter, so kosten sie zu große Opfer, indem sie das Verständnis der gerade an die kleinen Realien des Lebens geknüpften Zusammenhänge zerstören. |
1664 |
Entschuldige ich so die arge Verkürzung der Kranken- und Behandlungsgeschichte, so steht mir für die Beschränkung auf einzelne Ergebnisse aus der psychoanalytischen Untersuchung der Zwangsneurose eine noch triftigere Aufklärung zu Gebote. |
1665 |
Es sind die Widerstände der Kranken und die Formen von deren Äußerung, welche letztere Aufgabe so sehr erschweren; aber man muss sagen, dass das Verständnis einer Zwangsneurose an und für sich nichts Leichtes ist, viel schwerer als das eines Falles von Hysterie. |
1666 |
Vielleicht trägt auch nur unsere geringere Vertrautheit mit der Zwangsneurose die Schuld daran, dass die Wirklichkeit jene Erwartung nicht bestätigt. Die Zwangsneurotiker schweren Kalibers stellen sich der analytischen Behandlung weit seltener als die Hysteriker. |
1667 |
Sie dissimulieren auch im Leben ihre Zustände, solange es angeht, und kommen zum Arzt häufig erst in so vorgeschrittenen Stadien des Leidens, wie sie bei der Lungentuberkulose z. B. die Aufnahme in eine Heilstätte ausschließen würden. |
1668 |
Ich ziehe aber diesen Vergleich heran, weil wir bei den leichten und den schweren, aber frühzeitig bekämpften Fällen der Zwangsneurose, ganz ähnlich wie bei jener chronischen Infektionskrankheit, auf eine Reihe glänzender Heilerfolge hinweisen können. |
1669 |
Die hier gebotenen, mühselig genug zutage geförderten Brocken von Erkenntnis mögen an sich wenig befriedigend wirken, aber die Arbeit anderer Untersucher mag an sie anschließen, und der gemeinsamen Bemühung kann die Leistung gelingen, die für den einzelnen vielleicht zu schwer ist. |
1670 |
Kapitel 2. Aus der Krankengeschichte. Ein jüngerer Mann von akademischer Bildung führt sich mit der Angabe ein, er leide an Zwangsvorstellungen schon seit seiner Kindheit, besonders stark aber seit vier Jahren. |
1671 |
Außerdem verspüre er Zwangsimpulse, wie z. B. sich mit einem Rasiermesser den Hals abzuschneiden, und produziere Verbote, die sich auch auf gleichgültige Dinge beziehen. Er habe durch den Kampf gegen seine Ideen Jahre verloren und sei darum im Leben zurückgeblieben. |
1672 |
Hier habe er keine solche Gelegenheit, verkehre selten und in unregelmäßigen Intervallen. Vor Prostituierten empfinde er Ekel. Sein Sexualleben sei überhaupt kümmerlich gewesen, Onanie habe nur eine geringe Rolle gespielt, im 16. oder 17. Jahre. Seine Potenz sei normal; erster Koitus mit 26 Jahren. |
1673 |
Er macht den Eindruck eines klaren, scharfsinnigen Kopfes. Von mir befragt, was ihn veranlasse, die Auskünfte über sein Sexualleben in den Vordergrund zu rücken, antwortet er, das sei dasjenige, was er von meinen Lehren wisse. |
1674 |
Er habe sonst nichts von meinen Schriften gelesen, aber vor kurzem beim Blättern in einem Buche von mir die Aufklärung sonderbarer Wortverknüpfungen gefunden, die ihn so sehr an seine eigenen "Denkarbeiten" mit seinen Ideen gemahnt hätten, dass er beschlossen habe, sich mir anzuvertrauen. |
1675 |
Nachdem ich ihn am nächsten Tage auf die einzige Bedingung der Kur verpflichtet, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf gehe, auch wenn es ihm unangenehm sei, auch wenn es ihm unwichtig, nicht dazugehörig oder unsinnig erscheine. |
1676 |
Er habe einen Freund, den er außerordentlich hochstelle. Zu dem gehe er immer, wenn ihn ein verbrecherischer Impuls plage, und frage ihn, ob er ihn als Verbrecher verachte. Der Freund halte ihn aufrecht, indem er ihm versichere, dass er ein tadelloser Mensch sei. |
1677 |
Der Freund halte ihn aufrecht, indem er ihm versichere, dass dieser ein tadelloser Mensch sei, der sich wahrscheinlich von Jugend auf gewöhnt habe, sein Leben unter solchen Gesichtspunkten zu betrachten. |
1678 |
Einen ähnlichen Einfluss habe früher einmal ein anderer auf ihn geübt, ein Student, der 19 Jahre alt war, während er 14 oder 15 Jahre war, der Gefallen an ihm fand und sein Selbstgefühl außerordentlich hob, so da er sich als Genie vorkommen durfte. |
1679 |
Dieser Student wurde später sein Hauslehrer und änderte dann plötzlich sein Benehmen, indem er ihn zum Trottel herabsetzte. Er merkte endlich, dass jener sich für eine seiner Schwestern interessierte und sich mit ihm nur eingelassen habe, um Zutritt ins Haus zu gewinnen. |
1680 |
Er merkte endlich, dass jener sich für eine seiner Schwestern interessierte und sich mit ihm nur eingelassen habe, um Zutritt ins Haus zu gewinnen. Es war dies die erste große Erschütterung seines Lebens. Er fährt dann wie unvermittelt fort. |
1681 |
Ich weiß noch, mit welcher Spannung ich im Bade, wohin ich noch mit dem Fräulein und den Schwestern gehen durfte, darauf wartete, bis das Fräulein ausgekleidet ins Wasser stieg. An mehr erinnere ich mich vom 6. Jahre an. |
1682 |
Wir hatten dann ein anderes Fräulein, auch jung und schön, die Abszesse am Gesäß hatte, welche sie abends auszudrücken pflegte. Ich lauerte auf diesen Moment, um meine Neugierde zu stillen. Ebenso im Bade, obwohl Fräulein Lina zurückhaltender war als die erste. |
1683 |
Lina tröstete mich und erzählte mir, dass ein Mädchen, welches etwas Derartiges mit einem ihr anvertrauten Buben gemacht hatte, für mehrere Monate eingesperrt worden sei. Ich glaube nicht, dass sie etwas Unrechtes mit mir angestellt hat, aber ich nahm mir viel Freiheiten gegen sie heraus. |
1684 |
Wenn ich zu ihr ins Bett kam, deckte ich sie auf und rührte sie an, was sie sich ruhig gefallen ließ. Sie war nicht sehr intelligent und offenbar geschlechtlich sehr bedürftig. 23 Jahre alt, hatte sie schon ein Kind gehabt, dessen Vater sie später heiratete, so dass sie heute Frau Hofrat heißt. |
1685 |
Es gab Personen, Mädchen, die mir sehr gefielen und die ich mir dringendst nackt zu sehen wünschte. Ich hatte aber bei diesen Wünschen ein unheimliches Gefühl, als müsste etwas geschehen, wenn ich das dächte, und ich müsste allerlei tun, um es zu verhindern. |
1686 |
Gedanken an den Tod des Vaters haben mich frühzeitig und durch lange Zeit beschäftigt und sehr traurig gestimmt. Ich vernehme bei dieser Gelegenheit mit Erstaunen, dass sein Vater, um den sich doch seine heutigen Zwangsbefürchtungen kümmern, schon vor mehreren Jahren gestorben ist. |
1687 |
Eine vollständige Zwangsneurose, der kein wesentliches Element mehr abgeht, zugleich der Kern und das Vorbild des späteren Leidens, der Elementarorganismus gleichsam, dessen Studium allein uns das Verhältnis der komplizierten Organisation der heutigen Erkrankung vermitteln kann. |
1688 |
Wir sehen das Kind unter der Herrschaft einer sexuellen Triebkomponente, der Schaulust, deren Ergebnis der mit großer Intensität immer wieder von neuem auftretende Wunsch ist, weibliche Personen, die ihm gefallen, nackt zu sehen. |
1689 |
Ein Konflikt ist offenbar in dem Seelenleben des kleinen Lüsternen vorhanden; neben dem Zwangswunsch steht eine Zwangsbefürchtung innig an den Wunsch geknüpft: sooft er so etwas denkt, muss er fürchten, es werde etwas Schreckliches geschehen. |
1690 |
Dies Schreckliche kleidet sich bereits in eine charakteristische Unbestimmtheit, die fortan in den Äußerungen der Neurose niemals fehlen wird. Doch ist es beim Kinde nicht schwer, das durch solche Unbestimmtheit Verhüllte aufzufinden. |
1691 |
Kann man für irgend eine der verschwommenen Allgemeinheiten der Zwangsneurose ein Beispiel erfahren, so sei man sicher, dies Beispiel ist das Ursprüngliche und Eigentliche selbst, das durch die Verallgemeinerung versteckt werden sollte. |
1692 |
Der peinliche Affekt nimmt deutlich die Färbung des Unheimlichen, Abergläubischen an und gibt bereits Impulsen den Ursprung, etwas zur Abwendung des Unheiles zu tun, wie sie sich in den späteren Schutzmaßregeln durchsetzen werden. |
1693 |
Also: ein erotischer Trieb und eine Auflehnung gegen ihn, ein (noch nicht zwanghafter) Wunsch und eine (bereits zwanghafte) ihr widerstrebende Befürchtung, ein peinlicher Affekt und ein Drang zu Abwehrhandlungen; das Inventar der Neurose ist vollzählig. |
1694 |
Wir werden kaum irregehen, wenn wir in diesem kindlichen Erklärungsversuch eine Ahnung jener merkwürdigen seelischen Vorgänge vernehmen, die wir unbewusste heißen und deren wir zur wissenschaftlichen Aufhellung des dunklen Sachverhaltes nicht entraten können. |
1695 |
"Ich spreche meine Gedanken aus, ohne sie zu hören", klingt wie eine Projektion nach außen unserer eigenen Annahme, dass er Gedanken hat, ohne etwas von ihnen zu wissen, wie eine endopsychische Wahrnehmung des Verdrängten. |
1696 |
Wir erkennen es nämlich klar: Diese infantile Elementarneurose hat bereits ihr Problem und ihre scheinbare Absurdität wie jede komplizierte Neurose eines Erwachsenen. Was soll es heißen, dass der Vater sterben muss, wenn im Kinde jener lüsterne Wunsch rege wird. |
1697 |
Einen derartigen Beginn einer chronischen Zwangsneurose in der frühen Kindheit mit solch lüsternen Wünschen, an die unheimliche Erwartungen und Neigung zu Abwehrhandlungen geknüpft sind, kenne ich von mehreren anderen Fällen. |
1698 |
Er ist absolut typisch, wenn auch wahrscheinlich nicht der einzig mögliche Typus. Noch ein Wort über die sexuellen Früherlebnisse des Patienten, ehe wir zum Inhalte der zweiten Sitzung übergehen. Man wird sich kaum sträuben, sie als besonders reichhaltig und wirkungsvoll zu bezeichnen. |
1699 |
Der Charakter der vorzeitigen sexuellen Aktivität wird im Gegensatze zur Hysterie hier niemals vermisst. Die Zwangsneurose lässt viel deutlicher als die Hysterie erkennen, dass die Momente, welche die Psychoneurose formen, nicht im aktuellen, sondern im infantilen Sexualleben zu suchen sind. |
1700 |
Das gegenwärtige Sexualleben der Zwangsneurotiker kann dem oberflächlichen Erforscher oft völlig normal erscheinen; es bietet häufig weit weniger pathogene Momente und Abnormitäten als gerade bei unserem Patienten. |
1701 |
Ich war vorher elend und hatte mich mit allerlei Zwangsgedanken gequält, die aber während der Übung bald zurücktraten. Es hat mich interessiert, den Berufsoffizieren zu zeigen, dass man nicht nur etwas gelernt hat, sondern auch etwas aushalten kann. |
1702 |
Auf der Rast verlor ich meinen Zwicker, und obwohl ich ihn leicht hätte finden können, wollte ich doch den Aufbruch nicht verzögern und verzichtete auf ihn, telegraphierte aber an meinen Optiker nach Wien, er solle mir umgehend einen Ersatz schicken. |
1703 |
Auf derselben Rast nahm ich Platz zwischen zwei Offizieren, von denen einer, ein Hauptmann mit tschechischem Namen, für mich bedeutungsvoll werden sollte. Ich hatte eine gewisse Angst vor dem Manne, denn er liebte offenbar das Grausame. |
1704 |
Ich will nicht behaupten, dass er schlecht war, aber er war während der Offiziersmenage wiederholt für die Einführung der Prügelstrafe eingetreten, so dass ich ihm energisch hatte widersprechen müssen. |
1705 |
Hier unterbricht er sich, steht auf und bittet mich, ihm die Schilderung der Details zu erlassen. Ich versichere ihm, dass ich selbst gar keine Neigung zur Grausamkeit habe, ihn gewiss nicht gerne quälen wolle, dass ich ihm natürlich aber nichts schenken könne, worüber ich keine Verfügung habe. |
1706 |
Bei allen wichtigeren Momenten der Erzählung merkt man an ihm einen sehr sonderbar zusammengesetzten Gesichtsausdruck, den ich nur als Grausen vor seiner ihm selbst unbekannten Lust auflösen kann. |
1707 |
Auf direktes Befragen gibt er an, dass nicht etwa er selbst diese Strafe vollziehe, sondern dass sie unpersönlich an ihr vollzogen werde. Nach kurzem Raten weiß ich, dass es die von ihm verehrte Dame war, auf die sich jene "Vorstellung" bezog. |
1708 |
Er unterbricht die Erzählung, um mir zu versichern, wie fremd und feindselig sich diese Gedanken ihm gegenüberstellen und mit welch außerordentlicher Raschheit alles in ihm abläuft, was sich weiter an sie knüpft. |
1709 |
Wir haben ja bisher nur von der einen Idee gehört, dass an der Dame die Rattenstrafe vollzogen werde. Nun muss er zugestehen, dass gleichzeitig die andere Idee in ihm auftauchte, die Strafe treffe auch seinen Vater. |
1710 |
Zwei Tage später hatte die Waffenübung ihr Ende gefunden. Die Zeit bis dahin füllte er mit Bemühungen aus, dem Oberleutnant A. die kleine Summe zurückzustellen, wogegen sich immer mehr Schwierigkeiten anscheinend objektiver Natur erhoben. |
1711 |
Ich werde mich nicht verwundern, wenn das Verständnis der Leser an dieser Stelle versagt, denn auch die ausführliche Darstellung, die mir der Patient von den äußeren Vorgängen dieser Tage und seiner Reaktionen auf sie gab, litt an inneren Widersprüchen und klang heillos verworren. |
1712 |
Ich erspare mir die Wiedergabe dieser Details, von denen wir das Wesentliche bald nachholen können, und bemerke noch, dass er sich am Ende dieser zweiten Sitzung wie betäubt und verworren benahm. Erst bei einer dritten Erzählung gelang es, ihn zur Einsicht in diese Unklarheiten zu bringen. |
1713 |
Erst bei einer dritten Erzählung gelang es, ihn zur Einsicht in diese Unklarheiten zu bringen. Ich erspare mir die Wiedergabe dieser Details, von denen wir das Wesentliche bald nachholen können, und bemerke noch, dass er sich am Ende dieser zweiten Sitzung wie betäubt und verworren benahm. |
1714 |
Er sprach mich wiederholt "Herr Hauptmann" an, wahrscheinlich, weil ich zu Eingang der Stunde bemerkt hatte, ich sei selbst kein Grausamer wie der Hauptmann M. und habe nicht die Absicht, ihn unnötigerweise zu quälen. |
1715 |
Ich erhielt von ihm in dieser Stunde nur noch die Aufklärung, dass er von Anfang an, auch bei allen früheren Befürchtungen, dass seinen Lieben etwas geschehen werde, diese Strafen nicht allein in die Zeitlichkeit, sondern auch in die Ewigkeit, ins Jenseits verlegt habe. |
1716 |
In der dritten Sitzung beendigt er die sehr charakteristische Erzählung seiner Bemühungen, den Zwangseid zu erfüllen: Am Abende fand die letzte Zusammenkunft der Offiziere vor dem Schlusse der Waffenübung statt. |
1717 |
Aber er tröstete sich damit, dass es ja noch nicht vorüber sei, da A. den morgigen Ritt zur Bahnstation P. bis zu einer gewissen Stelle mitmachen werde, so dass er Zeit haben werde, ihn um die Gefälligkeit anzusprechen. |
1718 |
Dieser Offizier erzählte ihm, als er seinen Namen hörte, er sei vor kurzem auf dem Postamt gewesen und vom Postfräulein befragt worden, ob er einen Leutnant H. (eben unseren Patienten) kenne, für den ein Paket mit Nachnahme angekommen sei. |
1719 |
Er erwiderte verneinend, aber das Fräulein meinte, sie habe Zutrauen zu dem unbekannten Leutnant und werde unterdes die Gebühr selbst erlegen. Auf diese Weise kam unser Patient in den Besitz des von ihm bestellten Zwickers. |
1720 |
Der grausame Hauptmann beging einen Irrtum, als er bei der Einhändigung des Pakets mahnte, die Kronen 3.80 dem A. zurückzugeben. Unser Patient musste wissen, dass dies ein Irrtum sei. Trotzdem leistete er den auf diesen Irrtum gegründeten Schwur, der ihm zur Qual werden musste. |
1721 |
Die Episode des andern Hauptmannes und die Existenz des vertrauensvollen Postfräuleins hatte er dabei sich und in der Wiedergabe auch mir unterschlagen. Ich gebe zu, dass sein Benehmen nach dieser Richtigstellung noch unsinniger und unverständlicher wird als vorher. |
1722 |
Die Argumente seines Freundes seien ja keine anderen gewesen als seine eigenen, und er täuschte sich nicht darüber, dass die zeitweilige Beruhigung nur auf den persönlichen Einfluss des Freundes zurückzuführen war. |
1723 |
Der Zufall, der ihm gerade damals ein Buch von mir in die Hand spielte, lenkte seine Wahl auf mich. Bei mir war aber von jenem Zeugnis nicht die Rede, er forderte sehr verständig nur die Befreiung von seinen Zwangsvorstellungen. |
1724 |
Viele Monate später tauchte auf der Höhe des Widerstandes wieder einmal die Versuchung auf, doch nach P. zu fahren, den Oberleutnant A. aufzusuchen und mit ihm die Komödie des Geldzurückgebens aufzuführen. |
1725 |
Bürger! Bevor ich auf unseren Gegenstand eingehe, erlaubt mir einige Vorbemerkungen. Gegenwärtig herrscht auf dem Kontinent eine wahre Epidemie von Streiks, und allgemein wird nach einer Lohnsteigerung gerufen. Die Frage wird auf unserm Kongress zur Sprache kommen. |
1726 |
1361 Ihr als Leiter der Internationalen Assoziation müsst einen festen Standpunkt in dieser überragenden Frage haben. Ich für meinen Teil habe es daher für meine Pflicht gehalten, ausführlich auf die Sache einzugehen – selbst auf die Gefahr hin, eure Geduld auf eine harte Probe zu stellen. |
1727 |
Eine Vorbemerkung noch mit Bezug auf Bürger Weston. Nicht nur hat er vor euch Anschauungen entwickelt, die, wie er weiß, in der Arbeiterklasse äußerst unpopulär sind; er hat diese Anschauungen auch öffentlich vertreten, wie er glaubt im Interesse der Arbeiterklasse. |
1728 |
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. |
1729 |
Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens. |
1730 |
Wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens, und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. |
1731 |
Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, dass man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. |
1732 |
Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine, und deine goldene Krone, die mag ich nicht; aber wenn du mich lieb haben willst und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, in deinem Bettlein schlafen. |
1733 |
Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert; hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. |
1734 |
Aber was half ihm, dass er ihr sein quak quak so laut nachschrie als er konnte; sie hörte nicht darauf, eilte nach Haus und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in seinen Brunnen hinabsteigen musste. |
1735 |
Am anderen Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zur Tafel gesetzt hatte und von ihrem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe heraufgekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an der Tür. |
1736 |
Sie lief und wollte sehen wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und war ihr ganz Angst. Der König sah wohl, dass ihr das Herz gewaltig klopfte und sprach. |
1737 |
Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er sollte mein Geselle werden, ich dachte aber nimmermehr, dass er aus seinem Wasser heraus könnte. |
1738 |
Sie zauderte, bis es endlich der König befahl. Als der Frosch erst auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er: Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen. |
1739 |
Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie sich nicht anzurühren getraute, und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber ward zornig und sprach. |
1740 |
Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. |
1741 |
Dann schliefen sie ein, und am anderen Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf, und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. |
1742 |
Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. |
1743 |
Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hinten auf und war voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Weges gefahren waren, hörte der Königssohn, dass es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. |
1744 |
Doch einmal und noch einmal krachte es auf dem Wege, und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war. |
1745 |
Eine Katze hatte Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr soviel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, dass die Maus endlich einwilligte, mit ihr zusammen in einem Hause zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. |
1746 |
Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht. |
1747 |
Hundert Schritte weiter an der nach links sich wendenden Landstraße begann das Dorf. Wir kannten es nicht, aber gleich nach dem ersten Haus kamen Leute hervor und winkten uns, freundschaftlich oder warnend, selbst erschrocken, gebückt vor Schrecken. |
1748 |
Sie zeigten nach dem Hof, an dem wir vorübergekommen waren, und erinnerten uns an den Schlag ans Tor. Die Hofbesitzer werden uns verklagen, gleich werde die Untersuchung beginnen. Ich war sehr ruhig und beruhigte auch meine Schwester. |
1749 |
Sie hatte den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen nirgends auf der Welt ein Beweis geführt. Ich suchte das auch den Leuten um uns begreiflich zu machen, sie hörten mich an, enthielten sich aber eines Urteils. |
1750 |
Später sagten sie, nicht nur meine Schwester, auch ich als Bruder werde angeklagt werden. Ich nickte lächelnd. Alle blickten wir zum Hofe zurück, wie man eine ferne Rauchwolke beobachtet und auf die Flamme wartet. Und wirklich, bald sahen wir Reiter ins weit offene Hoftor einreiten. |
1751 |
Staub erhob sich, verhüllte alles, nur die Spitzen der hohen Lanzen blinkten. Und kaum war die Truppe im Hof verschwunden, schien sie gleich die Pferde gewendet zu haben und war auf dem Wege zu uns. Ich drängte meine Schwester fort, ich werde alles allein ins Reine bringen. |
1752 |
Sie weigerte sich, mich allein zu lassen. Ich sagte, sie solle sich aber wenigstens umkleiden, um in einem besseren Kleid vor die Herren zu treten. Endlich folgte sie und machte sich auf den langen Weg nach Hause. |
1753 |
Schon waren die Reiter bei uns, noch von den Pferden herab fragten sie nach meiner Schwester. Sie ist augenblicklich nicht hier, wurde ängstlich geantwortet, werde aber später kommen. Die Antwort wurde fast gleichgültig aufgenommen; wichtig schien vor allem, dass sie mich gefunden hatten. |
1754 |
Es waren hauptsächlich zwei Herren, der Richter, ein junger, lebhafter Mann, und sein stiller Gehilfe. Ich wurde aufgefordert in die Bauernstube einzutreten. Langsam, den Kopf wiegend, an den Hosenträgern rückend, setzte ich mich unter den scharfen Blicken der Herren in Gang. |
1755 |
Noch glaubte ich fast, ein Wort werde genügen, um mich, den Städter, sogar noch unter Ehren, aus diesem Bauernvolk zu befreien. Aber als ich die Schwelle der Stube überschritten hatte, sagte der Richter, der vorgesprungen war und mich schon erwartete. |
1756 |
Die Stube sah einer Gefängniszelle ähnlicher als einer Bauernstube. Große Steinfliesen, dunkel, ganz kahle Wand, irgendwo eingemauert ein eiserner Ring, in der Mitte etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch war. |
1757 |
Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. |
1758 |
In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn an einem Tisch und schlummerte. Eine Barke schwebte leise, als werde sie über dem Wasser getragen, in den kleinen Hafen. |
1759 |
Ein Mann in blauem Kittel stieg ans Land und zog die Seile durch die Ringe. Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen trugen hinter dem Bootsmann eine Bahre, auf der unter einem großen blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag. |
1760 |
Auf dem Quai kümmerte sich niemand um die Ankömmlinge, selbst als sie die Bahre niederstellten, um auf den Bootsführer zu warten, der noch an den Seilen arbeitete, trat niemand heran, niemand richtete eine Frage an sie, niemand sah sie genauer an. |
1761 |
Dann kam er, wies auf ein gelbliches, zweistöckiges Haus, das sich links nahe beim Wasser geradlinig erhob, die Träger nahmen die Last auf und trugen sie durch das niedrige, aber von schlanken Säulen gebildete Tor. |
1762 |
Ein kleiner Junge öffnete ein Fenster, bemerkte noch gerade, wie der Trupp im Haus verschwand, und schloss wieder eilig das Fenster. Auch das Tor wurde nun geschlossen, es war aus schwarzem Eichenholz sorgfältig gefügt. |
1763 |
Ein Taubenschwarm, der bisher den Glockenturm umflogen hatte, ließ sich jetzt vor dem Hause nieder. Als werde im Hause ihre Nahrung aufbewahrt, sammelten sich die Tauben vor dem Tor. Eine flog bis zum ersten Stock auf und pickte an die Fensterscheibe. |
1764 |
Ein Mann im Zylinderhut mit Trauerband kam eines der schmalen, stark abfallenden Gässchen, die zum Hafen führten, herab. Er blickte aufmerksam umher, alles bekümmerte ihn, der Anblick von Unrat in einem Winkel ließ ihn das Gesicht verzerren. |
1765 |
Auf den Stufen des Denkmals lagen Obstschalen, er schob sie im Vorbeigehen mit seinem Stock hinunter. An der Stubentür klopfte er an, gleichzeitig nahm er den Zylinderhut in seine schwarzbehandschuhte Rechte. |
1766 |
Die Träger waren damit beschäftigt, zu Häupten der Bahre einige lange Kerzen aufzustellen und anzuzünden, aber Licht entstand dadurch nicht, es wurden förmlich nur die früher ruhenden Schatten aufgescheucht und flackerten über die Wände. |
1767 |
Von der Bahre war das Tuch zurückgeschlagen. Es lag dort ein Mann mit wild durcheinandergewachsenem Haar und Bart, gebräunter Haut, etwa einem Jäger gleichend. Er lag bewegungslos, scheinbar atemlos mit geschlossenen Augen da, trotzdem deutete nur die Umgebung an, dass es vielleicht ein Toter war. |
1768 |
Der Herr trat zur Bahre, legte eine Hand dem Daliegenden auf die Stirn, kniete dann nieder und betete. Der Bootsführer winkte den Trägern, das Zimmer zu verlassen, sie gingen hinaus, vertrieben die Knaben, die sich draußen angesammelt hatten, und schlossen die Tür. |
1769 |
Dem Herrn schien aber auch diese Stille noch nicht zu genügen, er sah den Bootsführer an, dieser verstand und ging durch eine Seitentür ins Nebenzimmer. Sofort schlug der Mann auf der Bahre die Augen auf, wandte schmerzlich lächelnd das Gesicht dem Herrn zu und sagte. |
1770 |
Ich wusste es ja, Herr Bürgermeister, aber im ersten Augenblick habe ich immer alles vergessen, alles geht mir in der Runde und es ist besser, ich frage, auch wenn ich alles weiß. Auch Sie wissen wahrscheinlich, dass ich der Jäger Gracchus bin. |
1771 |
Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, dass ich auf der Erde blieb und dass mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. |
1772 |
Immer bin ich in Bewegung. Nehme ich aber den größten Aufschwung und leuchtet mir schon oben das Tor, erwache ich auf meinem alten, in irgendeinem irdischen Gewässer öde steckenden Kahn. Der Grundfehler meines einstmaligen Sterbens umgrinst mich in meiner Kajüte. |
1773 |
Zu meinen Häupten steht eine Kirchenkerze und leuchtet mir. An der Wand mir gegenüber ist ein kleines Bild, ein Buschmann offenbar, der mit einem Speer nach mir zielt und hinter einem großartig bemalten Schild sich möglichst deckt. |
1774 |
Man begegnet auf Schiffen manchen dummen Darstellungen, diese ist aber eine der dümmsten. Sonst ist mein Holzkäfig ganz leer. Durch eine Luke der Seitenwand kommt die warme Luft der südlichen Nacht, und ich höre das Wasser an die alte Barke schlagen. |
1775 |
Hier liege ich seit damals, als ich, noch lebendiger Jäger Gracchus, zu Hause im Schwarzwald eine Gemse verfolgte und abstürzte. Alles ging der Ordnung nach. Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen. |
1776 |
Ich hatte gern gelebt und war gern gestorben, glücklich warf ich, ehe ich den Bord betrat, das Lumpenpack der Büchse, der Tasche, des Jagdgewehrs vor mir hinunter, das ich immer stolz getragen hatte, und in das Totenhemd schlüpfte ich wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid. |
1777 |
Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen; wäre als Aufgabe gesetzt mir zu helfen, so blieben alle Türen aller Häuser geschlossen, alle Fenster geschlossen, alle liegen in den Betten, die Decken über den Kopf geschlagen, eine nächtliche Herberge die ganze Erde. |
1778 |
Das hat guten Sinn, denn niemand weiß von mir, und wüsste er von mir, so wüsste er meinen Aufenthalt nicht, und wüsste er meinen Aufenthalt, so wüsste er mich dort nicht festzuhalten, so wüsste er nicht, wie mir zu helfen. |
1779 |
Als Eduard Raban, durch den Flurgang kommend, in die Öffnung des Tores trat, sah er, dass es regnete. Es regnete wenig. Auf dem Trottoir gleich vor ihm gab es viele Menschen in verschiedenartigem Schritt. |
1780 |
Manchmal trat einer vor und durchquerte die Fahrbahn. Ein kleines Mädchen hielt in den vorgestreckten Händen ein müdes Hündchen. Zwei Herren machten einander Mitteilungen. Der eine hielt die Hände mit der innern Fläche nach oben und bewegte sie gleichmäßig, als halte er eine Last in Schwebe. |
1781 |
Da erblickte man eine Dame, deren Hut viel beladen war mit Bändern, Spangen und Blumen. Und es eilte ein junger Mensch mit dünnem Stock vorüber, die linke Hand, als wäre sie gelähmt, platt auf der Brust. |
1782 |
Drei Herren – zwei hielten leichte Überröcke auf dem geknickten Unterarm – gingen oft von der Häusermauer zum Rande des Trottoirs vor, betrachteten das, was sich dort ereignete, und zogen dann sprechend sich wieder zurück. |
1783 |
Da wurden Wagen auf zarten hohen Rädern von Pferden mit gestreckten Hälsen gezogen. Die Leute, welche auf den gepolsterten Sitzen lehnten, sahen schweigend die Fußgänger an, die Läden, die Balkone und den Himmel. |
1784 |
Die Tiere rissen an der Deichsel, der Wagen rollte, eilig schaukelnd, bis der Bogen um den vordern Wagen vollendet war und die Pferde wieder auseinander traten, nur die schmalen ruhigen Köpfe einander zugeneigt. |
1785 |
Einige Leute kamen rasch auf das Haustor zu, auf dem trockenen Mosaik blieben sie stehn, wandten sich langsam um und schauten in den Regen, der eingezwängt in diese enge Gasse verworren fiel. Raban fühlte sich müde. |
1786 |
Seine Lippen waren blass wie das ausgebleichte Rot seiner dicken Krawatte, die ein maurisches Muster zeigte. Die Dame bei dem Türstein drüben, die bis jetzt ihre Schuhe angesehen hatte, die unter dem enggehaltenen Rock ganz sichtbar waren, sah jetzt auf ihn. |
1787 |
Sie tat es gleichgültig, und außerdem sah sie vielleicht nur auf den Regenfall vor ihm oder auf die kleinen Firmaschildchen, die über seinem Haar an der Tür befestigt waren. Raban glaubte, sie schaue verwundert. |
1788 |
Man arbeitet so übertrieben im Amt, dass man dann sogar zu müde ist, um seine Ferien gut zu genießen. Aber durch alle Arbeit erlangt man noch keinen Anspruch darauf, von allen mit Liebe behandelt zu werden, vielmehr ist man allein, gänzlich fremd und nur Gegenstand der Neugierde. |
1789 |
Und solange du man sagst an Stelle von ich, ist es nichts und man kann diese Geschichte aufsagen, sobald du aber dir eingestehst, dass du selbst es bist, dann wirst du förmlich durchbohrt und bist entsetzt. |
1790 |
Er stellte den mit gewürfeltem Tuch benähten Handkoffer nieder und beugte dabei die Knie ein. Schon rann das Regenwasser an der Kante der Fahrbahn in Streifen, die sich zu den tiefer gelegenen Kanälen fast spannten. |
1791 |
Ich bin sogar zu müde, um ohne Anstrengung den Weg zum Bahnhof zu gehen, der doch kurz ist. Warum bleibe ich also diese kleinen Ferien über nicht in der Stadt, um mich zu erholen? Ich bin doch unvernünftig. |
1792 |
Die Reise wird mich krank machen, ich weiß es wohl. Mein Zimmer wird nicht genügend bequem sein, das ist auf dem Land nicht anders möglich. Kaum sind wir auch in der ersten Hälfte des Juni, die Luft auf dem Lande ist oft noch sehr kühl. |
1793 |
Zwar bin ich vorsichtig gekleidet, aber ich werde mich selbst Leuten anschließen müssen, die spät am Abend spazieren. Es sind dort Teiche, man wird entlang der Teiche spazierengehen. Da werde ich mich sicher erkälten. Dagegen werde ich mich bei den Gesprächen wenig hervortun. |
1794 |
Ich werde den Teich nicht mit andern Teichen in einem entfernten Land vergleichen können, denn ich bin nie gereist, und um vom Mond zu reden und Seligkeit zu empfinden und schwärmend auf Schutthaufen zu steigen, dazu bin ich doch zu alt, um nicht ausgelacht zu werden. |
1795 |
Ein Lastwagen fuhr auch vorüber, auf dessen mit Stroh gefüllten Kutschersitz ein Mann so nachlässig die Beine streckte, dass ein Fuß fast die Erde berührte, während der andere gut auf Stroh und Fetzen lag. Es sah aus, als sitze er bei schönem Wetter in einem Felde. |
1796 |
Doch hielt er aufmerksam die Zügel, dass sich der Wagen, auf dem Eisenstangen aneinanderschlugen, gut durch das Gedränge drehte. Auf der Erde sah man in der Nässe den Widerschein des Eisens von Steinreihen zu Steinreihen in Windungen und langsam gleiten. |
1797 |
Der kleine Junge bei der Dame gegenüber war gekleidet wie ein alter Weinbauer. Sein faltiges Kleid machte unten einen großen Kreis und war nur, fast schon unter den Achseln, von einem Lederriemen umfasst. |
1798 |
Seine halbkugelige Mütze reichte bis zu den Brauen und ließ von der Spitze aus eine Quaste bis zum linken Ohr hinunterhängen. Der Regen freute ihn. Er lief aus dem Tor und schaute mit offenen Augen zum Himmel, um mehr Regen abzufangen. |
1799 |
Er sprang oft hoch, so dass das Wasser viel spritzte und Vorübergehende ihn sehr tadelten. Da rief ihn die Dame und hielt ihn fortan mit der Hand; doch weinte er nicht. Raban erschrak da. War es nicht schon spät? Da er Überzieher und Rock offen trug, griff er rasch nach seiner Uhr. |
1800 |
Sie ging nicht. Verdrießlich fragte er einen Nachbarn, der ein wenig tiefer im Flur stand, nach der Zeit. Der führte ein Gespräch und noch in dem Gelächter, das dazu gehörte, sagte er: "Bitte, vier Uhr vorüber" und wandte sich ab. |
1801 |
Raban spannte schnell sein Schirmtuch auf und nahm seinen Koffer in die Hand. Als er aber auf die Straße treten wollte, wurde ihm der Weg durch einige eilende Frauen versperrt, die er also noch vorüberließ. |
1802 |
Er sah dabei auf den Hut eines kleinen Mädchens nieder, der, aus rotgefärbtem Stroh geflochten, auf dem gewellten Rande ein grünes Kränzchen trug. Noch hatte er es in der Erinnerung, als er schon auf der Straße war, die ein wenig in der Richtung anstieg, in die er gehen wollte. |
1803 |
Da schien es Raban, er werde auch noch die lange schlimme Zeit der nächsten vierzehn Tage überstehen. Denn es sind nur vierzehn Tage, also eine begrenzte Zeit, und wenn auch die Ärgernisse immer größer werden, so vermindert sich doch die Zeit, während welcher man sie ertragen muss. |
1804 |
Daher wächst der Mut ohne Zweifel. Alle, die mich quälen wollen und die jetzt den ganzen Raum um mich besetzt haben, werden ganz allmählich durch den gütigen Ablauf dieser Tage zurückgedrängt, ohne dass ich ihnen auch nur im Geringsten helfen müsste. |
1805 |
Und überdies kann ich es nicht machen, wie ich es immer als Kind bei gefährlichen Geschäften machte? Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land fahren, das ist nicht nötig. Ich schicke meinen angekleideten Körper. |
1806 |
Wankt er zur Tür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. Es ist auch nicht Aufregung, wenn er über die Treppe stolpert, wenn er schluchzend aufs Land fährt und weinend dort sein Nachtmahl isst. |
1807 |
Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke, ausgesetzt der Luft, die durch das wenig geöffnete Zimmer weht. Die Wagen und Leute auf der Gasse fahren und gehen zögernd auf blankem Boden, denn ich träume noch. |
1808 |
Kutscher und Spaziergänger sind schüchtern und jeden Schritt, den sie vorwärts wollen, erbitten sie von mir, indem sie mich ansehen. Ich ermuntere sie, sie finden kein Hindernis. Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich. |
1809 |
Ich stellte es dann so an, als handle es sich um einen Winterschlaf, und ich presste meine Beinchen an meinen gebauchten Leib. Und ich lisple eine kleine Zahl Worte, das sind Anordnungen an meinen traurigen Körper, der knapp bei mir steht und gebeugt ist. |
1810 |
Raban drang wohl weit im Platze vor, wich aber den treibenden Wagen zuckend aus, sprang von vereinzeltem trockenem Stein wieder zu trockenen Steinen und hielt den offenen Schirm in der hocherhobenen Hand, um alles rund herum zu sehn. |
1811 |
Auf dem Lande erwartet man mich doch. Macht man sich nicht schon Gedanken? Aber ich habe ihr die Woche über, seit sie auf dem Lande ist, nicht geschrieben, nur heute früh. Da stellt man sich schon mein Aussehen am Ende anders vor. |
1812 |
Man glaubt vielleicht, dass ich losstürze, wenn ich einen anspreche, doch das ist nicht meine Gewohnheit, oder dass ich umarme, wenn ich ankomme, auch das tue ich nicht. Ich werde sie böse machen, wenn ich versuchen werde, sie zu begütigen. |
1813 |
Da fuhr ein offener Wagen nicht schnell vorüber, hinter seinen zwei brennenden Laternen waren zwei Damen sitzend auf dunklen Lederbänkchen zu sehn. Die eine war zurückgelehnt und hatte das Gesicht durch einen Schleier und den Schatten ihres Hutes verdeckt. |
1814 |
Gleich als der Wagen an Raban vorüber war, verstellte irgendeine Stange den Anblick des Handpferdes dieses Wagens, dann wurde irgendein Kutscher – der trug einen großen Zylinderhut – auf einem ungewöhnlich hohen Bock vor die Damen geschoben. |
1815 |
Raban sah ihm nach, mit geneigtem Kopf, lehnte den Schirmstock an die Schulter, um besser zu sehn. Den Daumen der rechten Hand hatte er in den Mund gesteckt und rieb die Zähne daran. Sein Koffer lag neben ihm, mit einer Seitenfläche auf der Erde. |
1816 |
Wagen der elektrischen Straßenbahn fuhren groß in der Nähe vorüber, andere standen weit in den Straßen undeutlich still. "Wie gebückt sie ist", dachte Raban, als er das Bild jetzt ansah, niemals ist sie eigentlich aufrecht und vielleicht ist ihr Rücken rund. |
1817 |
Ich werde viel darauf achten müssen. Und ihr Mund ist so breit und die Unterlippe ragt ohne Zweifel hier vor, ja, ich erinnere mich jetzt auch daran. Und das Kleid! Natürlich, ich verstehe nichts von Kleidern, aber diese ganz knapp genähten Ärmel sind sicher hässlich, wie ein Verband sehn sie aus. |
1818 |
Und der Hut, dessen Rand an jeder Stelle mit anderer Biegung in die Höhe aus dem Gesichte gehoben ist. Aber ihre Augen sind schön, sie sind braun, wenn ich nicht irre. Alle sagen, dass ihre Augen schön sind. |
1819 |
Als nun ein elektrischer Wagen vor Raban hielt, schoben sich um ihn viele Leute der Wagentreppe zu, mit wenig geöffneten spitzigen Schirmen, die sie aufrecht in den an die Schulter gepressten Händen hielten. |
1820 |
Raban, der den Koffer unter dem Arm hielt, wurde vom Trottoir hinuntergezogen und trat stark in eine unsichtbare Pfütze. Im Wagen kniete auf der Bank ein Kind und drückte die Fingerspitzen beider Hände an die Lippen, als nähme es Abschied von jemandem, der jetzt davonging. |
1821 |
Einige Passagiere stiegen herunter und mussten einige Schritte entlang des Wagens gehn, um aus dem Gedränge zu kommen. Dann stieg eine Dame auf die erste Stufe, ihre Schleppe, die sie mit beiden Händen hielt, lag knapp über ihren Beinen. |
1822 |
Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflusst. |
1823 |
Die Unsicherheit beider Deutungen aber lässt wohl mit Recht darauf schließen, dass keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. |
1824 |
Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. |
1825 |
Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. |
1826 |
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür. |
1827 |
Nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist. |
1828 |
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. |
1829 |
Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. |
1830 |
Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint. |
1831 |
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. |
1832 |
Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, dass er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche. |
1833 |
Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. |
1834 |
Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloss ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. |
1835 |
Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Russland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte. |
1836 |
So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. |
1837 |
Wie er erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein. |
1838 |
Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen. |
1839 |
Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch überhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen würde. |
1840 |
Der Freund war nun schon über drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Russland, die demnach also auch die kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen. |
1841 |
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Russland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden. |
1842 |
Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und hätte er es jetzt nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt. |
1843 |
So geschah es Georg, dass er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann. |
1844 |
Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass er zugestanden hätte, dass er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte. |
1845 |
Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluss aufgespart. |
1846 |
Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen dürftest. |
1847 |
Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet. |
1848 |
Der Vater saß beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. |
1849 |
Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien. |
1850 |
In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. |
1851 |
Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerkünstler zumindest einmal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen. |
1852 |
Auch in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erhöhung der Wirkung bei Fackelschein; an schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde. |
1853 |
Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beobachten. |
1854 |
Es war das aber lediglich eine Formalität, eingeführt zur Beruhigung der Massen, denn die Eingeweihten wussten wohl, dass der Hungerkünstler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang nicht, auch das geringste nur gegessen hätte; die Ehre seiner Kunst verbot dies. |
1855 |
Nichts war dem Hungerkünstler quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten. |
1856 |
Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begnügten, sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen der Impresario zur Verfügung stellte. |
1857 |
Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein wenig hindämmern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder Stunde, auch im übervollen, lärmenden Saal. |
1858 |
Am glücklichsten aber war er, wenn dann der Morgen kam und ihnen auf seine Rechnung ein überreiches Frühstück gebracht wurde, auf das sie sich warfen mit dem Appetit gesunder Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht. |
1859 |
Es gab zwar sogar Leute, die in diesem Frühstück eine ungebührliche Beeinflussung der Wächter sehen wollten, aber das ging doch zu weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der Sache willen ohne Frühstück die Nachtwache übernehmen wollten, verzogen sie sich. |
1860 |
Niemand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war. |
1861 |
Vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, dass manche zu ihrem Bedauern den Vorführungen fernbleiben mussten, weil sie seinen Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert aus Unzufriedenheit mit sich selbst. |
1862 |
Er verschwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn günstigenfalls für bescheiden, meist aber für reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehen. |
1863 |
Das alles musste er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm, und noch niemals, nach keiner Hungerperiode – dieses Zeugnis musste man ihm ausstellen – hatte er freiwillig den Käfig verlassen. |
1864 |
Und in diesem Augenblick wehrte sich der Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die hilfsbereit ausgestreckten Hände der zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. |
1865 |
Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen. |
1866 |
Auch war er müde, saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufrichten und zu dem Essen gehen, das ihm schon allein in der Vorstellung Übelkeiten verursachte, deren Äußerung er nur mit Rücksicht auf die Damen mühselig unterdrückte. |
1867 |
So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, dass niemand sie ernst zu nehmen verstand. |
1868 |
Womit sollte man ihn auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig? Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn bedauerte und ihm erklären wollte, dass seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme. |
1869 |
Er entschuldigte den Hungerkünstler vor versammeltem Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers verzeihlich machen könne. |
1870 |
Diese dem Hungerkünstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar. |
1871 |
Noch hatte er immer wieder in gutem Glauben begierig am Gitter dem Impresario zugehört, beim Erscheinen der Photographien aber ließ er das Gitter jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte Publikum konnte wieder herankommen und ihn besichtigen. |
1872 |
Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten, wurden sie sich oft selbst unverständlich. Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das geschehen. |
1873 |
Es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen strömte. |
1874 |
Noch einmal jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehen, ob sich nicht noch hie und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. |
1875 |
Natürlich hatte das in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. |
1876 |
Der, welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrmärkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerkünstler nicht nur zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. |
1877 |
So verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und ließ sich von einem großen Zirkus engagieren; um seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die Vertragsbedingungen gar nicht an. |
1878 |
Dieses war auch der Grund, warum der Hungerkünstler vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck natürlich herbeiwünschte, doch auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten können. |
1879 |
War der große Haufe vorüber, dann kamen die Nachzügler, und diese allerdings, denen es nicht mehr verwehrt war, stehenzubleiben, solange sie nur Lust hatten, eilten mit langen Schritten, fast ohne Seitenblick, vorüber, um rechtzeitig zu den Tieren zu kommen. |
1880 |
Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrückten. |
1881 |
Aber bei der Direktion vorstellig zu werden, wagte er nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge der Besucher, unter denen sich hie und da auch ein für ihn Bestimmter finden konnte, und wer wusste, wohin man ihn verstecken würde. |
1882 |
Ein kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner werdendes Hindernis. Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen. |
1883 |
Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. |
1884 |
Und wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehenblieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte. |
1885 |
Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt stehenlasse. |
1886 |
Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungere. "Nun macht aber Ordnung", sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. |
1887 |
Man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. |
1888 |
Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen. |
1889 |
Irgendwo im Gebiss schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht fortrühren. |
1890 |
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. |
1891 |
Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen. |
1892 |
A. ist sehr aufgeblasen, er glaubt, im Guten weit vorgeschritten zu sein, da er, offenbar als ein immer verlockender Gegenstand, immer mehr Versuchungen aus ihm bisher ganz unbekannten Richtungen sich ausgesetzt fühlt. |
1893 |
Verschiedenheit der Anschauungen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschauung des kleinen Jungen, der den Hals strecken muss, um noch knapp den Apfel auf der Tischplatte zu sehen, und die Anschauung des Hausherrn, der den Apfel nimmt und frei dem Tischgenossen reicht. |
1894 |
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. |
1895 |
Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir. |
1896 |
An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern. Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden. |
1897 |
Lass dich vom Bösen nicht glauben machen, du könntest vor ihm Geheimnisse haben. Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie. |
1898 |
So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weiter zu verwerfen. Aber auch in jene Weite führt der Weg. Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit. Vom wahren Gegner fährt grenzenloser Mut in dich. |
1899 |
Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet? Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern. |
1900 |
Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn. Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos. |
1901 |
Muss ich aber solche Kreise um mich ziehen, dann tue ich es besser untätig im bloßen Anstaunen des ungeheuerlichen Komplexes und nehme nur die Stärkung, die e contrario dieser Anblick gibt, mit nach Hause. |
1902 |
Die Märtyrer unterschätzen den Leib nicht, sie lassen ihn auf dem Kreuz erhöhen. Darin sind sie mit ihren Gegnern einig. Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube. |
1903 |
Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein. Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. |
1904 |
Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen. Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts. Dem Bösen kann man nicht in Raten zahlen – und versucht es unaufhörlich. |
1905 |
Der Weg ist unendlich, da ist nichts abzuziehen, nichts zuzugeben und doch hält jeder noch seine eigene kindliche Elle daran. Gewiss, auch diese Elle Wegs musst du noch gehen, es wird dir nicht vergessen werden. |
1906 |
Nur unser Zeitbegriff lässt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht. Das Missverhältnis der Welt scheint tröstlicherweise nur ein zahlenmäßiges zu sein. Den ekel- und hasserfüllten Kopf auf die Brust senken. |
1907 |
Lächerlich hast du dich aufgeschirrt für diese Welt. Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher gehts – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt. |
1908 |
Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. |
1909 |
Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides. An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, dass ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben. A. ist ein Virtuose und der Himmel ist sein Zeuge. |
1910 |
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott. |
1911 |
Es bedurfte der Vermittlung der Schlange: das Böse kann den Menschen verführen, aber nicht Mensch werden. Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt. Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg. |
1912 |
Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt – was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung. |
1913 |
Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt. |
1914 |
Alles ist Betrug: das Mindestmaß der Täuschungen suchen, im üblichen bleiben, das Höchstmaß suchen. Im ersten Fall betrügt man das Gute, indem man sich dessen Erwerbung zu leicht machen will, das Böse, indem man ihm allzu ungünstige Kampfbedingungen setzt. |
1915 |
Im zweiten Fall betrügt man das Gute, indem man also nicht einmal im Irdischen nach ihm strebt. Im dritten Fall betrügt man das Gute, indem man sich möglichst weit von ihm entfernt, das Böse, indem man hofft, durch seine Höchststeigerung es machtlos zu machen. |
1916 |
Vorzuziehen wäre also hiernach der zweite Fall, denn das Gute betrügt man immer, das Böse in diesem Fall, wenigstens dem Anschein nach, nicht. Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären. |
1917 |
Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie, entsprechend der sinnlichen Welt, nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt. |
1918 |
Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat. Eine durch Schritte nicht tief ausgehöhlte Treppenstufe ist, von sich selber aus gesehen, nur etwas öde zusammengefügtes Hölzernes. |
1919 |
Wer der Welt entsagt, muss alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher, das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, dass man ihm ebenbürtig ist. |
1920 |
Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist. Die Tatsache, dass es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewissheit. Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts. |
1921 |
Er ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben, und doch nur so lang, dass nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. |
1922 |
Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. |
1923 |
Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten und fühlt es; ja, er weigert sich sogar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fesselung zurückzuführen. Er läuft den Tatsachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen, der überdies irgendwo übt, wo es verboten ist. |
1924 |
Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben. Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen. |
1925 |
Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völliger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben, so dass wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen Menschen rückgeschlossen werden muss. |
1926 |
Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben. Prüfe dich an der Menschheit. Den Zweifelnden macht sie zweifeln, den Glaubenden glauben. |
1927 |
Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten, das heißt von der Antwort möglichst wegstrebenden Wegen. |
1928 |
Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein. Die sinnliche Liebe täuscht über die himmlische hinweg; allein könnte sie es nicht, aber da sie das Element der himmlischen Liebe unbewusst in sich hat, kann sie es. |
1929 |
Hat es beim einzelnen Menschen doch diesen Anschein – und den hat es vielleicht immer –, so erklärt sich dies dadurch, dass jemand im Menschen etwas verlangt, was diesem Jemand zwar nützt, aber einem zweiten Jemand, der halb zur Beurteilung des Falles herangezogen wird, schwer schadet. |
1930 |
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld. |
1931 |
Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; dass dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt. |
1932 |
Das Böse ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewusstseins in bestimmten Übergangsstellungen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, sondern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinnliche Welt bildet. |
1933 |
Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen die wahren Verschiedenheiten. |
1934 |
Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muss daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser letzte Versuch. |
1935 |
(Das ist auch der Sinn der Todesdrohung beim Verbot des Essens vom Baume der Erkenntnis; vielleicht ist das auch der ursprüngliche Sinn des natürlichen Todes.) Vor diesem Versuch nun fürchtet er sich. |
1936 |
Zu diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhen wollenden Menschen. Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen. |
1937 |
Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht. Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schulzimmer an der Wand ein Bild der Alexanderschlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Taten noch in diesem Leben das Bild zu verdunkeln oder gar auszulöschen. |
1938 |
Ein Mensch hat freien Willen, und zwar dreierlei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jetzt kann er es allerdings nicht mehr rückgängig machen, denn er ist nicht mehr jener, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen damaligen Willen ausführt, indem er lebt. |
1939 |
Das ist das Dreierlei des freien Willens, es ist aber auch, da es gleichzeitig ist, ein Einerlei und ist im Grunde so sehr Einerlei, dass es keinen Platz hat für einen Willen, weder für einen freien noch unfreien. |
1940 |
Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat. Zur Vermeidung eines Wortirrtums: Was tätig zerstört werden soll, muss vorher ganz fest gehalten worden sein; was zerbröckelt, zerbröckelt, kann aber nicht zerstört werden. |
1941 |
Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob du dich nicht irgendwo außerhalb deines Kreises versteckt hältst. Das Böse ist manchmal in der Hand wie ein Werkzeug, erkannt oder unerkannt lässt es sich, wenn man den Willen hat, ohne Widerspruch zur Seite legen. |
1942 |
Die Freuden dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Angst vor dem Aufsteigen in ein höheres Leben; die Qualen dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Selbstqual wegen jener Angst. |
1943 |
Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, dass das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist. |
1944 |
Wieviel bedrückender als die unerbittlichste Überzeugung von unserem gegenwärtigen sündhaften Stand ist selbst die schwächste Überzeugung von der einstigen, ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit. |
1945 |
Wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufgeführt wird, die Schauspielerin außer dem verlogenen Lächeln für ihren Geliebten auch noch ein besonders hinterhältiges Lächeln für den ganz bestimmten Zuschauer auf der letzten Galerie hat. Das heißt zu weit gehen. |
1946 |
Es kann ein Wissen vom Teuflischen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teuflisches, als da ist, gibt es nicht. Die Sünde kommt immer offen und ist mit den Sinnen gleich zu fassen. Sie geht auf ihren Wurzeln und muss nicht ausgerissen werden. |
1947 |
Mit Recht, denn nur so kann uns diese Welt verführen und es entspricht der Wahrheit. Das Schlimmste ist aber, dass wir nach geglückter Verführung die Bürgschaft vergessen und so eigentlich das Gute uns ins Böse, der Blick der Frau in ihr Bett gelockt hat. |
1948 |
Die Demut gibt jedem, auch dem einsam Verzweifelnden, das stärkste Verhältnis zum Mitmenschen, und zwar sofort, allerdings nur bei völliger und dauernder Demut. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebetsprache ist, gleichzeitig Anbetung und festeste Verbindung. |
1949 |
Das Verhältnis zum Mitmenschen ist das Verhältnis des Gebetes, das Verhältnis zu sich das Verhältnis des Strebens; aus dem Gebet wird die Kraft für das Streben geholt. Wird einmal der Betrug vernichtet, darfst du ja nicht hinsehen oder wirst zur Salzsäule. |
1950 |
Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre. Das ist eine Bemerkung, die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, obwohl sie vielleicht in keiner vorkommt. |
1951 |
Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. |
1952 |
Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht, wenn alles ringsherum still ist, so hört man zum Beispiel das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels. |
1953 |
Er steht mit eingedrückter Brust, vorragenden Schultern, hängenden Armen, kaum zu erhebenden Beinen, auf eine Stelle starrendem Blick. Ein Heizer. Er nimmt Kohle auf die Schaufel und stößt sie in das Ofenloch voll Flammen. |
1954 |
Ist hier wärmer als unten auf der winterlichen Erde? Weiß ragt es rings, mein Kübel das einzig Dunkle. War ich früher hoch, bin ich jetzt tief, der Blick zu den Bergen renkt mir den Hals aus. Weißgefrorene Eisfläche, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer. |
1955 |
Auf dem hohen, keinen Zoll breit einsinkenden Schnee, folge ich der Fußspur der kleinen arktischen Hunde. Mein Reiten hat den Sinn verloren, ich bin abgestiegen und trage den Kübel auf der Achsel. Meinen innigsten Dank für das Beethovenbuch. Den Schopenhauer beginne ich heute. |
1956 |
Möchten Sie doch mit Ihrer allerzartesten Hand, mit Ihrem allerstärksten Blick für die wahrhafte Realität, mit dem gezügelten und mächtigen Grundfeuer Ihres dichterischen Wesens, mit Ihrem phantastisch weiten Wissen noch weiter solche Denkmäler aufrichten – zu meiner unaussprechlichen Freude. |
1957 |
Alt, in großer Leibesfülle, unter leichten Herzbeschwerden, lag ich nach dem Mittagessen, einen Fuß am Boden, auf dem Ruhebett und las ein geschichtliches Werk. Die Magd kam und meldete, zwei Finger an den zugespitzten Lippen, einen Gast. |
1958 |
"Wer ist es?" fragte ich, ärgerlich darüber, zu einer Zeit, da ich den Nachmittagskaffee erwartete, einen Gast empfangen zu sollen. "Ein Chineser", sagte die Magd und unterdrückte, krampfhaft sich drehend, ein Lachen, das der Gast vor der Türe nicht hören sollte. |
1959 |
Ein Chinese? Zu mir? Ist er in Chinesenkleidung? Die Magd nickte, noch immer mit dem Lachreiz kämpfend. Nenn ihm meinen Namen, frag, ob er wirklich mich besuchen will, der ich unbekannt im Nachbarhaus, wie sehr erst unbekannt in China bin. |
1960 |
Die Magd schlich zu mir und flüsterte: Er hat nur eine Visitkarte, darauf steht, dass er vorgelassen zu werden bittet. Deutsch kann er nicht, er redet eine unverständliche Sprache, die Karte ihm wegzunehmen fürchtete ich mich. |
1961 |
Aufstehend und meine Riesengestalt reckend, mit der ich in dem niedrigen Zimmer jeden Besucher erschrecken musste, ging ich zur Tür. Tatsächlich hatte mich der Chinese kaum erblickt, als er gleich wieder hinaushuschte. |
1962 |
Ich langte nur in den Gang und zog den Mann vorsichtig an seinem Seidengürtel zu mir herein. Es war offenbar ein Gelehrter, klein, schwach, mit Hornbrille, schütterem grauschwarzem steifem Ziegenbart. Ein freundliches Männchen, hielt den Kopf geneigt und lächelte mit halbgeschlossenen Augen. |
1963 |
Heute beginnt die große Verhandlung im Prozess meines Bruders Bucephalus gegen die Firma Trollhätta. Ich führe die Klage, und da die Verhandlung zumindest einige Tage dauern wird, und zwar ohne eigentliche Unterbrechung, werde ich in den nächsten Tagen überhaupt nicht nach Hause kommen. |
1964 |
Sobald die Verhandlung beendet sein oder Aussicht auf Beendigung vorhanden sein wird, werde ich Ihnen telefonieren. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, auch nicht die geringste Frage beantworten, da ich natürlich auf Erhaltung meiner vollen Stimmkraft bedacht sein muss. |
1965 |
Die plappermäulige, aber vor ihrem Herrn in Furcht ersterbende Wirtschafterin war sehr betroffen. So plötzlich kam eine so außerordentliche Anordnung. Noch abends hatte der Herr mit ihr gesprochen, aber keine Andeutung darüber gemacht, was bevorstand. |
1966 |
Die Verhandlung konnte doch nicht in der Nacht angesetzt worden sein. Und gibt es Verhandlungen, die tagelang ununterbrochen dauern? Und warum nannte der Herr die Prozessparteien, was er doch ihr gegenüber sonst niemals tat. |
1967 |
Es war leer. Wie, der Herr war doch nicht schon weg? In einer Minute konnte er sich doch nicht angezogen haben? Aber die Wäsche und die Kleider waren auch nicht mehr zu sehn. Was hat denn der Herr um Himmels willen? Ins Vorzimmer! Auch Mantel, Hut und Stock sind fort. |
1968 |
Ins Vorzimmer! Auch Mantel, Hut und Stock sind fort. Zum Fenster! Beim Leibhaftigen, da tritt der Herr aus dem Tor, den Hut im Nacken, den Mantel offen, die Aktenmappe an sich gedrückt, den Stock in eine Manteltasche gehängt. |
1969 |
Sie kennen das Trocadero in Paris? In diesem Gebäude, von dessen Ausdehnung Sie sich nach bloßen Abbildungen keine auch nur annähernde Vorstellung machen können, findet soeben die Hauptverhandlung in einem großen Prozess statt. |
1970 |
Sie denken vielleicht nach, wie es möglich ist, ein solches Gebäude in diesem fürchterlichen Winter genügend zu heizen. Es wird nicht geheizt. In einem solchen Fall gleich an die Heizung denken, das kann man nur in dem niedlichen Landstädtchen, in dem Sie Ihr Leben verbringen. |
1971 |
Das Trocadero wird nicht geheizt, aber dadurch wird der Fortgang des Prozesses nicht gehindert, im Gegenteil, mitten in dieser von allen Seiten herauf und herab strahlenden Kälte wird in ganz ebenbürtigem Tempo kreuz und quer, der Länge und der Breite nach, prozessiert. |
1972 |
Gestern kam eine Ohnmacht zu mir. Sie wohnt im Nachbarhaus, ich habe sie dort schon öfters abends im niedrigen Tor gebückt verschwinden sehn. Eine große Dame mit lang fließendem Kleid und breitem, mit Federn geschmücktem Hut. |
1973 |
Eiligst kam sie rauschend durch meine Tür, wie ein Arzt, der fürchtet, zu spät zum auslöschenden Kranken gekommen zu sein. "Anton", rief sie mit hohler und doch sich rühmender Stimme, "ich komme, ich bin da!" In den Sessel, auf den ich zeigte, ließ sie sich fallen. |
1974 |
"Hoch wohnst du, hoch wohnst du", sagte sie stöhnend. Tief in meinem Lehnstuhl nickte ich. Zahllos hüpften vor meinen Augen die Treppenstufen auf, die zu meinen Zimmern führten, eine hinter der andern, unermüdliche kleine Wellen. |
1975 |
Es tut mir von Herzen leid, dass du dich nach mir verzehrst. Oft schon sah ich aufrichtig traurig in dein abgehärmtes Gesicht, wenn du im Hof standst und zu meinem Fenster aufblicktest. Nun, ich bin dir nicht ungünstig gesinnt und hast du auch mein Herz noch nicht, so kannst du es doch erobern. |
1976 |
Ein Irrtum. Es war nicht meine Türe oben auf dem langen Gang, die ich geöffnet hatte. "Ein Irrtum", sagte ich und wollte wieder hinausgehen. Da sah ich den Inwohner, einen mageren bartlosen Mann, mit festgeschlossenem Munde an einem Tischchen sitzen, auf dem nur eine Petroleumlampe stand. |
1977 |
In unserem Haus, diesem ungeheuren Vorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichen Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute am nebligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbreitet. |
1978 |
Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den andern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier, so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbringen und in meinem Kasten deponieren. |
1979 |
Denn Einheitlichkeit muss sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vorwärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Verwendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist verdorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken noch. |
1980 |
Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch weitere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sind mir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir, die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augenblick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. |
1981 |
Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzichten und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig, und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. |
1982 |
Dann werde also ich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinen Führer haben und so werde auch ich mein Gewehr zerbrechen oder weglegen. Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keine Zeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu überdenken. |
1983 |
Bald schwammen die kleinen Papiere in dem Schmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allen Korridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mit dem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt. Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf. |
1984 |
Ich war, soweit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muss, fortwährend zu Hause und für die Zeit meiner Abwesenheit, während welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf meinem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschreiben konnte. |
1985 |
Manchmal glaube ich, alle meine vergangenen und künftigen Sünden durch die Schmerzen meiner Knochen abzubüßen, wenn ich abends oder gar morgens nach einer Nachtschicht aus der Maschinenfabrik nach Hause komme. |
1986 |
Auf dem gleichen Gang wie ich wohnt ein Flickschneider. Trotz aller Vorsicht verbrauche ich die Kleider zu bald, letzthin musste ich wieder einen Rock zum Schneider tragen. Es war ein schöner, warmer Sommerabend. |
1987 |
Der Schneider hat für sich, die Frau und sechs Kinder nur ein Zimmer, das gleichzeitig Küche ist. Überdies aber hat er noch einen Mieter bei sich, einen Schreiber von der Steuerbehörde. Dieser Zimmerbelag geht doch ein wenig über das Übliche hinaus, das ja in unserem Hause schon arg genug ist. |
1988 |
Heute gelesen Hermann und Dorothea, einiges aus Richters Lebenserinnerungen, Bilder von ihm gesehen und schließlich eine Szene aus Hauptmanns Griselda gelesen. Bin für den Augenblick der nächsten Stunde ein anderer Mensch. |
1989 |
Alle Aussichten zwar nebelhaft wie immer, aber veränderte Nebelbilder. In den schweren Stiefeln, die ich heute zum ersten Mal angezogen habe (sie waren ursprünglich für den Militärdienst bestimmt), steckt ein anderer Mensch. |
1990 |
Ich wohne bei Herrn Krummholz, das Zimmer teile ich mit einem Schreiber von der Steuerbehörde. Außerdem schlafen in dem Zimmer in gemeinsamem Bett zwei Töchter des Krummholz, ein sechs- und ein siebenjähriges Mädchen. |
1991 |
Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehen sollte, erstanden hatte. |
1992 |
Ohne dieses Netz wäre es gar nicht möglich gewesen, friedlich am Abend auf der Veranda zu sitzen, das Licht aufzudrehen, wie ich es jetzt tat, eine alte europäische Zeitung zum Studium vorzunehmen und mächtig dazu die Pfeife zu rauchen. |
1993 |
Ich sitze zum Beispiel zu Hause, ehe ich angeln gehe, und drehe scharf zusehend die rechte Hand, einmal hin und einmal her. Das genügt, um mir in Anblick und Gefühl das Ergebnis des künftigen Angelns oft bis in Einzelheiten zu offenbaren. |
1994 |
Ein kleiner Junge hatte als einziges Erbstück nach seinem Vater eine Katze und ist durch sie Bürgermeister von London geworden. Was werde ich durch mein Tier werden, mein Erbstück? Wo dehnt sich die riesige Stadt. |
1995 |
Meine Eltern kennen seinen Vater; als dieser am letzten Sonntag bei uns zu Besuch war, fragte ich geradezu nach dem Sohn. Nun ist der alte Herr sehr schlau, man kommt ihm schwer bei und mir fehlt jede Geschicklichkeit zu solchen Angriffen. |
1996 |
Dann stand ich auf, der Gegenwart noch lange nicht bewusst, hatte das Gefühl, als müsste ich einige Leute, die mich hinderten, zur Seite schieben, tat auch die nötigen Handbewegungen und kam so endlich zum offenen Fenster. |
1997 |
Manchmal geschieht es, die Gründe dessen sind oft kaum zu ahnen, dass der größte Stierkämpfer zu seinem Kampfplatz die verfallene Arena eines abseits gelegenen Städtchens wählt, dessen Namen bisher das Madrider Publikum kaum gekannt hat. |
1998 |
Keine Nebengebäude, keine Ställe vor allem, aber das Schlimmste, die Eisenbahn ist noch nicht bis hierher ausgebaut, drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg von der nächsten Station. Meine zwei Hände begannen einen Kampf. |
1999 |
Und schon hatten sie die Finger ineinander verschränkt und schon jagten sie am Tischrand hin, bald nach rechts, bald nach links, je nach dem Überdruck der einen oder der andern. Ich ließ keinen Blick von ihnen. |
2000 |
Aber mein Amt ist nicht leicht, im Dunkel zwischen den Handtellern werden verschiedene Kniffe angewendet, die ich nicht unbeachtet lassen darf, ich drücke deshalb das Kinn an den Tisch und nun entgeht mir nichts. |
2001 |
Mein Leben lang habe ich die Rechte, ohne es gegen die Linke böse zu meinen, bevorzugt. Hätte doch die Linke einmal etwas gesagt, ich hätte, nachgiebig und rechtlich wie ich bin, gleich den Missbrauch eingestellt. |
2002 |
Aber sie muckste nicht, hing an mir hinunter und während etwa die Rechte auf der Gasse meinen Hut schwang, tastete die Linke ängstlich meinen Schenkel ab. Das war eine schlechte Vorbereitung zum Kampf, der jetzt vor sich geht. |
2003 |
Wie willst Du auf die Dauer, linkes Handgelenk, gegen dieses gewaltige rechte Dich stemmen? Wie Deinen mädchenhaften Finger in der Klemme der fünf andern behaupten? Das scheint mir kein Kampf mehr, sondern natürliches Ende der Linken. |
2004 |
Schon ist sie in die äußerste linke Ecke des Tisches gedrängt, und an ihr regelmäßig auf und nieder schwingend wie ein Maschinenkolben die Rechte. Stattdessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken und ich unehrlicher Schiedsrichter nicke dazu. |
2005 |
Endlich gelang es unsern Truppen, beim Südtor in die Stadt einzubrechen. Meine Abteilung lagerte in einem Vorstadtgarten unter halb verbrannten Kirschbäumen und wartete auf Befehle. Als wir aber den hohen Ton der Trompeten vom Südtor hörten, konnte uns nichts mehr halten. |
2006 |
Am Südtor fanden wir schon nur Leichen und gelben Rauch, der über dem Boden schwelte und alles verdeckte. Aber wir wollten nicht nur Nachzügler sein und wendeten uns gleich in enge Nebengassen, die bisher vom Kampf verschont geblieben waren. |
2007 |
Die erste Haustür zerbarst unter meiner Hacke, so wild drängten wir in den Flur ein, dass wir uns zuerst umeinander drehten. Ein Alter kam uns aus einem langen leeren Gang entgegen. Sonderbarer Alter – er hatte Flügel. |
2008 |
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden. Immer erst aufatmen von Eitelkeits- und Selbstgefälligkeitsausbrüchen. |
2009 |
Die Orgie beim Lesen der Erzählung im "Juden". Wie ein Eichhörnchen im Käfig. Glückseligkeit der Bewegung, Verzweiflung der Enge, Verrücktheit der Ausdauer, Elendgefühl vor der Ruhe des Außerhalb. Alles dieses sowohl gleichzeitig als abwechselnd, noch im Kot des Endes. |
2010 |
Oder vielmehr etwas Untröstliches ohne den Hauch des Trostes? Ein Ausweg läge darin, dass das Erkennen als solches Trost ist. Man könnte also wohl denken: Du musst dich beseitigen, und könnte sich doch ohne Fälschung dieser Erkenntnis aufrechterhalten, am Bewusstsein, es erkannt zu haben. |
2011 |
Dort gilt kein Schwerkraftgesetz, (die Engel fliegen nicht, sie haben nicht irgendeine Schwerkraft aufgehoben, nur wir Beobachter der irdischen Welt wissen es nicht besser zu denken), was allerdings für uns nicht vorstellbar ist, oder erst auf einer hohen Stufe. |
2012 |
Psychologie ist die Beschreibung der Spiegelung der irdischen Welt in der himmlischen Fläche oder richtiger: Die Beschreibung einer Spiegelung, wie wir, Vollgesogene der Erde, sie uns denken, denn eine Spiegelung erfolgt gar nicht, nur wir sehen Erde, wohin wir uns auch wenden. |
2013 |
Psychologie ist Ungeduld. Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache. Das Unglück Don Quixotes ist nicht seine Phantasie, sondern Sancho Pansa. |
2014 |
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. |
2015 |
Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel. |
2016 |
Was soll ich tun? oder: Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden. Viele Schatten der Abgeschiedenen beschäftigen sich nur damit, die Fluten des Totenflusses zu belecken, weil er von uns herkommt und noch den salzigen Geschmack unserer Meere hat. |
2017 |
Vor Ekel sträubt sich dann der Fluss, nimmt eine rückläufige Strömung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glücklich, singen Danklieder und streicheln den Empörten. Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen. |
2018 |
Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen. |
2019 |
Die Menschengeschichte ist die Sekunde zwischen zwei Schritten eines Wanderers. Von außen wird man die Welt mit Theorien immer siegreich eindrücken und gleich mit in die Grube fallen, aber nur von innen sich und sie still und wahr erhalten. |
2020 |
Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet. Die wahren Seitensprünge des Ehemanns, die, richtig verstanden, niemals lustig sind. |
2021 |
Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. |
2022 |
Zu Hause erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen – gleich nach dem Weggang A's; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, Aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eilig fort. |
2023 |
Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in A's Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. |
2024 |
Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B – undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet. |
2025 |
Das Teuflische nimmt manchmal das Aussehen des Guten an oder verkörpert sich sogar vollständig in ihm. Bleibt es mir verborgen, unterliege ich natürlich, denn dieses Gute ist verlockender als das wahre. |
2026 |
Wie aber wenn es mir nicht verborgen bleibt? Wenn ich auf einer Treibjagd von Teufeln ins Gute gejagt werde? Wenn ich als Gegenstand des Ekels von an mir herumtastenden Nadelspitzen zum Guten gewälzt, gestochen, gedrängt werde. |
2027 |
Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende. |
2028 |
A. ist sehr aufgeblasen, er glaubt, im Guten weit vorgeschritten zu sein, da er, offenbar als ein immer verlockender Gegenstand, immer mehr Versuchungen aus ihm bisher ganz unbekannten Richtungen sich ausgesetzt fühlt. |
2029 |
Die richtige Erklärung ist aber die, dass ein großer Teufel in ihm Platz genommen hat und die Unzahl der kleineren herbeikommt, um dem Großen zu dienen. Abend zum Wald, zunehmender Mond; verwirrter Tag hinter mir. |
2030 |
Verschiedenheit der Anschauungen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschauung des kleinen Jungen, der den Hals strecken muss, um noch knapp den Apfel auf der Tischplatte zu sehen, und die Anschauung des Hausherrn, der den Apfel nimmt und frei dem Tischgenossen reicht. |
2031 |
Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, dass dies unmöglich helfen konnte. |
2032 |
Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. |
2033 |
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht. |
2034 |
Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wusste er nichts mehr von ihnen. |
2035 |
Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. |
2036 |
Nachmittag vor dem Begräbnis einer im Brunnen ertrunkenen Epileptischen. Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. |
2037 |
Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! also etwas Böses – und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: Um dich zu dem zu machen, der du bist. |
2038 |
Darauf kommt es an, wenn einem ein Schwert in die Seele schneidet: ruhig blicken, kein Blut verlieren, die Kälte des Schwertes mit der Kälte des Steines aufnehmen. Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden. |
2039 |
An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern. Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden. |
2040 |
Lass dich vom Bösen nicht glauben machen, du könntest vor ihm Geheimnisse haben. Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie. |
2041 |
So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weiter zu verwerfen. Aber auch in jene Weite führt der Weg. Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit. Vom wahren Gegner fährt grenzenloser Mut in dich. |
2042 |
Das Glück begreifen, dass der Boden, auf dem du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken. Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet? Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. |
2043 |
Ein Bauernwagen mit drei Männern fuhr im Dunkel eine Anhöhe langsam hinauf. Ein Fremder kam ihnen entgegen und rief sie an. Nach kurzem Hin und Wieder ergab sich, dass der Fremde bat, mitgenommen zu werden. |
2044 |
Du beklagst dich über die Stille, über die Aussichtslosigkeit der Stille, die Mauer des Guten. Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muss Feuer fangen, wenn du weiter willst. Die Untauglichkeit des Objekts kann die Untauglichkeit des Mittels verkennen lassen. |
2045 |
Wenn man einmal das Böse bei sich aufgenommen hat, verlangt es nicht mehr, dass man ihm glaube. Die Hintergedanken, mit denen du das Böse in dir aufnimmst, sind nicht die deinen, sondern die des Bösen. |
2046 |
Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn. Böse ist das, was ablenkt. |
2047 |
Das Böse weiß vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht. Selbsterkenntnis hat nur das Böse. Ein Mittel des Bösen ist das Zwiegespräch. Der Gründer brachte vom Gesetzgeber die Gesetze, die Gläubigen sollen dem Gesetzgeber die Gesetze verkünden. |
2048 |
Der Gründer reißt sich vom Guten los, verkörpert sich. Tut er es um der andern willen oder weil er glaubt, nur mit den andern bleiben zu können, was er war, weil er die "Welt" zerstören muss, um sie nicht lieben zu müssen. |
2049 |
Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos. Wer glaubt, kann keine Wunder erleben. Bei Tag sieht man keine Sterne. Wer Wunder tut, sagt: Ich kann die Erde nicht lassen. Den Glauben richtig verteilen zwischen den eigenen Worten und den eigenen Überzeugungen. |
2050 |
Überzeugungen nicht durch Worte stehlen lassen, Übereinstimmung der Worte und Überzeugungen ist noch nicht entscheidend, auch guter Glaube nicht. Solche Worte können solche Überzeugungen noch immer je nach den Umständen einrammen oder ausgraben. |
2051 |
Muss ich aber solche Kreise um mich ziehen, dann tue ich es besser untätig im bloßen Anstaunen des ungeheuerlichen Komplexes und nehme nur die Stärkung, die e contrario dieser Anblick gibt, mit nach Hause. Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. |
2052 |
Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeuten eben: Unmöglichkeit von Krähen. Die Märtyrer unterschätzen den Leib nicht, sie lassen ihn auf dem Kreuz erhöhen. Darin sind sie mit ihren Gegnern einig. |
2053 |
Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube. Das menschliche Urteil über menschliche Handlungen ist wahr und nichtig, nämlich zuerst wahr und dann nichtig. |
2054 |
Durch die Tür rechts dringen die Mitmenschen in ein Zimmer, in dem Familienrat gehalten wird, hören das letzte Wort des letzten Redners, nehmen es, strömen mit ihm durch die Tür links in die Welt und rufen ihr Urteil aus. |
2055 |
Wahr ist das Urteil über das Wort, nichtig das Urteil an sich. Hätten sie endgültig wahr urteilen wollen, hätten sie für immer im Zimmer bleiben müssen, wären ein Teil des Familienrates geworden und dadurch allerdings wieder unfähig geworden zu urteilen. |
2056 |
Wirklich urteilen kann nur die Partei, als Partei aber kann sie nicht urteilen. Demnach gibt es in der Welt keine Urteilsmöglichkeit, sondern nur deren Schimmer. Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein. |
2057 |
Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen. |
2058 |
Zölibat und Selbstmord stehen auf ähnlicher Erkenntnisstufe, Selbstmord und Märtyrertod keineswegs, vielleicht Ehe und Märtyrertod. Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts. |
2059 |
Der Weg ist unendlich, da ist nichts abzuziehen, nichts zuzugeben und doch hält jeder noch seine eigene kindliche Elle daran. Gewiss, auch diese Elle Wegs musst du noch gehen, es wird dir nicht vergessen werden. |
2060 |
Nur unser Zeitbegriff lässt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht. Eitelkeit macht hässlich, müsste sich also eigentlich ertöten, statt dessen verletzt sie sich nur, wird verletzte Eitelkeit. |
2061 |
Das ist vielleicht auch die christliche Lehre, sowohl in der tatsächlichen Aufzeigung des Beispieles, dem nachgefolgt werden soll, eines individualistischen Beispieles, als auch in der symbolischen Aufzeigung der Auferstehung des Mittlers im einzelnen Menschen. |
2062 |
Müßiggang ist aller Laster Anfang, aller Tugenden Krönung. Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt. Lächerlich hast du dich aufgeschirrt für diese Welt. |
2063 |
Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher gehts – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt. Die verschiedenen Formen der Hoffnungslosigkeit auf den verschiedenen Stationen des Wegs. |
2064 |
Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides. |
2065 |
Stürmische Nacht, vormittag Telegramm von Max, Waffenstillstand mit Russland. Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten. |
2066 |
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott. |
2067 |
Der Himmel ist stumm, nur dem Stummen Widerhall. Es bedurfte der Vermittlung der Schlange: das Böse kann den Menschen verfuhren, aber nicht Mensch werden. Bett, Verstopfung, Rückenschmerz, gereizter Abend, Katze im Zimmer, Zerworfenheit. Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt. |
2068 |
Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg. Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung. |
2069 |
Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt. |
2070 |
Alles ist Betrug: das Mindestmaß der Täuschungen suchen, im üblichen bleiben, das Höchstmaß suchen. Im ersten Fall betrügt man das Gute, indem man sich dessen Erwerbung zu leicht machen will, das Böse, indem man ihm allzu ungünstige Kampfbedingungen setzt. |
2071 |
Im zweiten Fall betrügt man das Gute, indem man also nicht einmal im Irdischen nach ihm strebt. Im dritten Fall betrügt man das Gute, indem man sich möglichst weit von ihm entfernt, das Böse, indem man hofft, durch seine Höchststeigerung es machtlos zu machen. |
2072 |
Vorzuziehen wäre also hiernach der zweite Fall, denn das Gute betrügt man immer, das Böse in diesem Fall, wenigstens dem Anschein nach, nicht. Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären. |
2073 |
Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie, entsprechend der sinnlichen Welt, nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt. |
2074 |
Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat. Eine durch Schritte nicht tief ausgehöhlte Treppenstufe ist, von sich selber aus gesehen, nur etwas öde zusammengefügtes Hölzernes. |
2075 |
Die Erkenntnis dieser Berührung ist, dass auch die Seele von sich selbst nicht weiß. Sie muss also unbekannt bleiben. Das wäre nur dann traurig, wenn es etwas anderes außer der Seele gäbe, aber es gibt nichts anderes. |
2076 |
Wer der Welt entsagt, muss alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher, das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, dass man ihm ebenbürtig ist. |
2077 |
Jedem Augenblick entspricht auch etwas Außerzeitliches. Dem Diesseits kann nicht ein Jenseits folgen, denn das Jenseits ist ewig, kann also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Berührung stehn. Herzen begonnen, von "Schöner Rarität" und Zeitungen zerstreut. |
2078 |
Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden. Gestern, heute schlimmste Tage. Beigetragen haben: Herzen, ein Brief an Dr. Weiß, anderes Undeutbares. Ekelhaftes Essen: gestern Schweinsfuß, heute Schwanz. Weg nach Michelob durch den Park. |
2079 |
Er ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben, und doch nur so lang, dass nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. |
2080 |
Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. |
2081 |
Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben. Das erste Haustier Adams nach der Vertreibung aus dem Paradies war die Schlange. Hexenschuss, Rechnen in der Nacht. |
2082 |
Glückliche und zum Teil matte Fahrt. Viel gehört. Schlecht geschlafen, anstrengender Tag. Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen. |
2083 |
Im Paradies, wie immer: Das, was die Sünde verursacht und das, was sie erkennt, ist eines. Das gute Gewissen ist das Böse, das so siegreich ist, dass es nicht einmal mehr jenen Sprung von links nach rechts für nötig hält. |
2084 |
Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völliger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben, so dass wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen Menschen rückgeschlossen werden muss. |
2085 |
Abreise F. Weinen. Alles schwer, unrecht und doch richtig. Er frisst den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber, oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf. |
2086 |
Nicht wesentlich enttäuscht. Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben. Der Lehrer hat die wahre, der Schüler die fortwährende Zweifellosigkeit. |
2087 |
Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten, das heißt von der Antwort möglichst wegstrebenden Wegen. |
2088 |
Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen, entfernt er sich vom Hause, unter dem Vorwand, das Haus im Auge behalten zu wollen, erklettert er die beschwerlichsten Höhen, wüssten wir nicht, dass er auf die Jagd geht, hielten wir ihn zurück. |
2089 |
Die sinnliche Liebe täuscht über die himmlische hinweg; allein könnte sie es nicht, aber da sie das Element der himmlischen Liebe unbewusst in sich hat, kann sie es. 14. Januar. Trüb, schwach, ungeduldig. |
2090 |
Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muss Lüge sein. 15. Januar. Ungeduldig. Besserung, Nachtspaziergang nach Oberklee. |
2091 |
Hätte sich der Mensch gleich anfangs, nicht erst bei der Beurteilung auf Seite des zweiten Jemand gestellt, wäre der erste Jemand erloschen und mit ihm das Verlangen. 16. Januar. Aus eigenem Willen, wie eine Faust drehte er sich und vermied die Welt. |
2092 |
Dass unsere Aufgabe genau so groß ist wie unser Leben, gibt ihr einen Schein von Unendlichkeit. Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen. |
2093 |
Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen. |
2094 |
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde. |
2095 |
Das Gesetz der Quadrille ist klar, alle Tänzer kennen es, es gilt für alle Zeiten. Aber irgendeine der Zufälligkeiten des Lebens, die nie geschehen durften, aber immer wieder geschehen, bringt dich allein zwischen die Reihen. |
2096 |
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld. |
2097 |
Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, aber zerstört wurde es nicht. Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden müssen. |
2098 |
Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; dass dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt. |
2099 |
Der trostlose Gesichtskreis des Bösen: schon im Erkennen des Guten und Bösen glaubt er die Gottgleichheit zu sehn. Die Verfluchung scheint an seinem Wesen nichts zu verschlimmern: mit dem Bauche wird er die Länge des Weges ausmessen. |
2100 |
Das Böse ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewusstseins in bestimmten Übergangsstellungen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, sondern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinnliche Welt bildet. |
2101 |
Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen die wahren Verschiedenheiten. |
2102 |
Aber unter allem Rauche ist das Feuer und der, dessen Füße brennen, wird nicht dadurch erhalten bleiben, dass er überall nur dunklen Rauch sieht. Staunend sahen wir das große Pferd. Es durchbrach das Dach unserer Stube. |
2103 |
Es durchbrach das Dach unserer Stube. Der bewölkte Himmel zog sich schwach entlang des gewaltigen Umrisses und rauschend flog die Mähne im Wind. Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener. |
2104 |
Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne dass dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann. |
2105 |
Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht. Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schulzimmer an der Wand ein Bild der Alexanderschlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Taten noch in diesem Leben das Bild zu verdunkeln oder gar auszulöschen. |
2106 |
Der Selbstmörder ist der Gefangene, welcher im Gefängnishof einen Galgen aufrichten sieht, irrtümlich glaubt, es sei der für ihn bestimmte, in der Nacht aus seiner Zelle ausbricht, hinuntergeht und sich selbst aufhängt. |
2107 |
Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite: Zerstörung des Paradieses, die dritte – und diese wäre die schrecklichste Strafe gewesen –: Absperrung des ewigen Lebens und unveränderte Belassung alles andern. |
2108 |
Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat. Zur Vermeidung eines Wortirrtums: Was tätig zerstört werden soll, muss vorher ganz fest gehalten worden sein; was zerbröckelt, zerbröckelt, kann aber nicht zerstört werden. |
2109 |
Durch Auferlegung einer allzu großen oder vielmehr aller Verantwortung erdrückst du dich. Die erste Götzenanbetung war gewiss Angst vor den Dingen, aber damit zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge. |
2110 |
Man konnte sich nicht genug tun in der Schaffung von Gegengewichten, diese naive Welt war die komplizierteste, die es jemals gab, ihre Naivität lebte sich ausschließlich in der brutalen Konsequenz aus. |
2111 |
Wird dir alle Verantwortung auferlegt, so kannst du den Augenblick benützen und der Verantwortung erliegen wollen, versuche es aber, dann merkst du, dass dir nichts auferlegt wurde, sondern dass du diese Verantwortung selbst bist. |
2112 |
Ein Kampf, in dem auf keine Weise und in keinem Stadium Rückendeckung zu bekommen ist. Und trotzdem man es weiß, vergisst man es immer wieder. Und selbst wenn man es nicht vergisst, sucht man doch die Deckung, nur um sich beim Suchen auszuruhen, und trotzdem man weiß, dass es sich rächt. |
2113 |
1. Februar. Lenz Briefe. Zum letztenmal Psychologie! Zwei Aufgaben des Lebensanfangs: Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob du dich nicht irgendwo außerhalb deines Kreises versteckt hältst. |
2114 |
Die Freuden dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Angst vor dem Aufsteigen in ein höheres Leben; die Qualen dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Selbstqual wegen jener Angst. |
2115 |
4. Februar. Langes Liegen, Schlaflosigkeit, Bewusstwerden des Kampfes. In einer Welt der Lüge wird die Lüge nicht einmal durch ihren Gegensatz aus der Welt geschafft, sondern nur durch eine Welt der Wahrheit. |
2116 |
Zerstören dieser Welt wäre nur dann die Aufgabe, wenn sie erstens böse wäre, das heißt widersprechend unserem Sinn, und zweitens, wenn wir imstande wären, sie zu zerstören. Das erste erscheint uns so, des zweiten sind wir nicht fähig. |
2117 |
Die erste Wahrheit ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise. Das ist der traurige Anblick. Der fröhliche ist, dass die erste Wahrheit dem Augenblick, die zweite der Ewigkeit gehört, deshalb verlischt auch die erste Wahrheit im Licht der zweiten. |
2118 |
Die Vorstellung von der unendlichen Weite und Fülle des Kosmos ist das Ergebnis der zum Äußersten getriebenen Mischung von mühevoller Schöpfung und freier Selbstbesinnung. 7. Februar. Soldat mit Steinen, Insel Rügen. |
2119 |
Müdigkeit bedeutet nicht notwendig Glaubensschwäche oder doch? Müdigkeit bedeutet jedenfalls Ungenügsamkeit. Es ist mir zu eng in allem, was Ich bedeutet, selbst die Ewigkeit, die ich bin, ist mir zu eng. |
2120 |
Von einer gewissen Stufe der Erkenntnis an muss Müdigkeit, Ungenügsamkeit, Beengung, Selbstverachtung verschwinden, nämlich dort, wo ich das, was mich früher als ein Fremdes erfrischte, befriedigte, befreite, erhob, als mein eigenes Wesen zu erkennen die Kraft habe. |
2121 |
Daraus, dass ich es gewissermaßen höre, auch wenn ich es nicht höre, in der Weise, dass es nicht selbst hörbar wird, aber die Gegenstimme dämpft oder allmählich verbittert, die Gegenstimme nämlich, welche mir die Ewigkeit verleidet. |
2122 |
Und hörst du ähnlich auch die Gegenstimme dann, wenn das Gebot zur Ewigkeit spricht? Wohl auch, ja manchmal glaube ich, ich höre gar nichts anderes als die Gegenstimme, alles andere sei nur Traum und ich ließe den Traum in den Tag hineinreden. |
2123 |
Warum vergleichst du das innere Gebot mit einem Traum? Scheint es wie dieser sinnlos, ohne Zusammenhang, unvermeidlich, einmalig, grundlos beglückend oder ängstigend, nicht zur Gänze mitteilbar und zur Mitteilung drängend. |
2124 |
Aber warum sind sie von dort ausgewandert? – An der Küste ist die Brandung am stärksten, so eng ist ihr Gebiet und so unüberwindlich. Nichtfragen hätte dich zurückgebracht, Fragen treibt dich noch ein Weltmeer weiter. – Nicht sie sind ausgewandert, sondern du. |
2125 |
Ewigkeit ist aber nicht das Stillstehn der Zeitlichkeit. Was an der Vorstellung des Ewigen bedrückend ist: die uns unbegreifliche Rechtfertigung, welche die Zeit in der Ewigkeit erfahren muss und die daraus folgende Rechtfertigung unserer selbst, so wie wir sind. |
2126 |
Wieviel bedrückender als die unerbittlichste Überzeugung von unserem gegenwärtigen sündhaften Stand ist selbst die schwächste Überzeugung von der einstigen, ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit. |
2127 |
Das heißt zu weit gehen. 10. Februar. Sonntag. Lärm. Friede Ukraine. Es verschwinden die Nebel der Feldherren und Künstler, der Liebhaber und Reichen, der Politiker und Turner, der Seefahrer und... Freiheit und Gebundenheit ist im wesentlichen Sinn eines. |
2128 |
Die Welt kann nur von der Stelle aus für gut angesehen werden, von der aus sie geschaffen wurde, denn nur dort wurde gesagt: Und siehe, sie war gut – und nur von dort aus kann sie verurteilt und zerstört werden. Immer bereit, sein Haus ist tragbar, er lebt immer in seiner Heimat. |
2129 |
Du willst also die Welt bekämpfen, und zwar mit Waffen, die wirklicher sind als Hoffnung und Glaube. Solche Waffen gibt es wahrscheinlich, aber sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen erkennbar und brauchbar; ich will zuerst sehn, ob du diese Voraussetzungen hast. |
2130 |
Sieh nach, aber wenn ich sie nicht habe, kann ich sie vielleicht erwerben. Gewiss, aber dabei könnte ich dir nicht helfen. Du kannst mir also nur helfen, wenn ich die Voraussetzungen schon erworben habe. |
2131 |
Ja, genauer gesagt kann ich dir überhaupt nicht helfen, denn wenn du die Voraussetzungen hättest, hättest du schon alles. Wenn es so steht, warum wolltest du mich also erst prüfen? Nicht um dir zu zeigen, was dir fehlt, sondern, dass dir etwas fehlt. |
2132 |
Einen gewissen Nutzen hätte ich dir damit vielleicht bringen können, denn du weißt zwar, dass dir etwas fehlt, aber du glaubst es nicht. Du bietest mir also auf meine ursprüngliche Frage nur den Beweis dafür an, dass ich die Frage stellen musste. |
2133 |
Ich biete doch etwas mehr, etwas, was du entsprechend deinem Stande jetzt überhaupt nicht präzisieren kannst. Ich biete den Beweis dafür, dass du eigentlich die ursprüngliche Frage anders hättest stellen müssen. |
2134 |
Der Ausgleich wäre allerdings möglich, dass die Zerlegung nur eine solche in der Zeit ist, also nur eine zwar in jedem Augenblick, tatsächlich sich aber gar nicht vollziehende Zerlegung. Es kann ein Wissen vom Teuflischen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teuflisches, als da ist, gibt es nicht. |
2135 |
Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muss für Christus leiden. Wir alle haben nicht einen Leib, aber ein Wachstum, und das führt uns durch alle Schmerzen, ob in dieser oder jener Form. |
2136 |
Dein Wille ist frei, heißt: er war frei, als er die Wüste wollte, er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, er ist frei, da er die Gangart wählen kann, er ist aber auch unfrei, da du durch die Wüste gehen musst, unfrei, da jeder Weg labyrinthisch jedes Fußbreit Wüste berührt. |
2137 |
Ein Mensch hat freien Willen, und zwar dreierlei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jetzt kann er es allerdings nicht mehr rückgängig machen, denn er ist nicht mehr jener, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen damaligen Willen ausführt, indem er lebt. |
2138 |
Das ist das Dreierlei des freien Willens, es ist aber auch, da es gleichzeitig ist, ein Einerlei und ist im Grunde so sehr Einerlei, dass es keinen Platz hat für einen Willen, weder für einen freien noch unfreien. |
2139 |
23. Februar. Ungeschriebener Brief. Die Frau, noch schärfer ausgedrückt vielleicht, die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst. Das Verführungsmittel dieser Welt sowie das Zeichen der Bürgschaft dafür, dass diese Welt nur ein Übergang ist, ist das gleiche. |
2140 |
Mit Recht, denn nur so kann uns diese Welt verführen und es entspricht der Wahrheit. Das Schlimmste ist aber, dass wir nach geglückter Verführung die Bürgschaft vergessen und so eigentlich das Gute uns ins Böse, der Blick der Frau in ihr Bett gelockt hat. |
2141 |
Die Demut gibt jedem, auch dem einsam Verzweifelnden, das stärkste Verhältnis zum Mitmenschen, und zwar sofort, allerdings nur bei völliger und dauernder Demut. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebetsprache ist, gleichzeitig Anbetung und festeste Verbindung. |
2142 |
Ohne innere Rechtfertigung wäre diese Leistung nicht möglich, kein Mensch kann ein ungerechtfertigtes Leben leben. Daraus könnte man in Unterschätzung des Menschen schließen, dass jeder sein Leben mit Rechtfertigungen unterbaut. |
2143 |
Das Grausamste des Todes: ein scheinbares Ende verursacht einen wirklichen Schmerz. Die Klage am Sterbebett ist eigentlich die Klage darüber, dass hier nicht im wahren Sinn gestorben worden ist. Noch immer müssen wir uns mit diesem Sterben begnügen, noch immer spielen wir das Spiel. |
2144 |
Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. |
2145 |
Die Nichtmitteilbarkeit des Paradoxes besteht vielleicht, äußert sich aber nicht als solche, denn Abraham selbst versteht es nicht. Nun braucht oder soll er es nicht verstehn, also auch nicht für sich deuten, wohl aber darf er es den andern gegenüber zu deuten suchen. |
2146 |
Ruhe im Allgemeinen? Äquivokation des Allgemeinen. Einmal das Allgemeine gedeutet als das Ruhen, sonst aber als das "allgemeine" Hin und Her zwischen Einzelnem und Allgemeinem. Erst die Ruhe ist das wirklich Allgemeine, aber auch das Endziel. |
2147 |
Abrahams geistige Armut und die Schwerbeweglichkeit dieser Armut ist ein Vorteil, sie erleichtert ihm die Konzentration oder vielmehr, sie ist schon Konzentration, wodurch er allerdings den Vorteil verliert, der in der Anwendung der Konzentrationskraft liegt. |
2148 |
Abraham ist in folgender Täuschung begriffen: Die Einförmigkeit dieser Welt kann er nicht ertragen. Nun ist aber die Welt bekanntlich ungemein mannigfaltig, was jederzeit nachzuprüfen ist, indem man eine Handvoll Welt nimmt und näher ansieht. Das weiß natürlich auch Abraham. |
2149 |
Neben seiner Beweisführung geht eine Bezauberung mit. Einer Beweisführung kann man in die Zauberwelt ausweichen, einer Bezauberung in die Logik, aber beide gleichzeitig erdrücken, zumal sie etwas Drittes sind, lebender Zauber oder nicht zerstörende, sondern aufbauende Zerstörung der Welt. |
2150 |
Pflichten: Kein Geld, keine Kostbarkeiten besitzen oder annehmen. Nur folgender Besitz ist erlaubt: einfachstes Kleid (im Einzelnen festzusetzen), zur Arbeit Nötiges, Bücher, Lebensmittel für den eigenen Gebrauch. Alles andere gehört den Armen. |
2151 |
Nur durch Arbeit den Lebensunterhalt erwerben. Vor keiner Arbeit sich scheuen, zu welcher die Kräfte ohne Schädigung der Gesundheit hinreichen. Entweder selbst die Arbeit wählen, oder, falls dies nicht möglich, sich der Anordnung des Arbeitsrates fugen, welcher sich der Regierung unterstellt. |
2152 |
Das Verhältnis zum Arbeitgeber als Vertrauensverhältnis behandeln, niemals Vermittlung der Gerichte verlangen. Jede übernommene Arbeit zu Ende führen, unter allen Umständen, es wären denn schwere Gesundheitsrücksichten dem entgegen. |
2153 |
Rechte: Maximalarbeitszeit sechs Stunden, für körperliche Arbeit vier bis fünf. Bei Krankheit und im unfähigen Alter Aufnahme in staatliche Altersheime, Krankenhäuser. Das Arbeitsleben als eine Angelegenheit des Gewissens und eine Angelegenheit des Glaubens an den Mitmenschen. |
2154 |
Mitgebrachten Besitz dem Staat schenken, zur Errichtung von Krankenhäusern, Heimen. Vorläufig wenigstens Ausschluss von Selbständigen, Verheirateten und Frauen. Rat (schwere Pflicht) vermittelt mit der Regierung. |
2155 |
Bachaufwärts dem wandernden Wasser entgegen. Rutengestrüpp. Des Lehrers auffahrende Stimme. Gemurmel der Kinder. Rot vergehende, sich verlassende, erschauernde Sonne. Zuschlagende Ofentür. Der Kaffee wird gekocht. |
2156 |
Aufgelehnt am Tische sitzen wir und warten. Dünne Bäumchen stehen auf der einen Seite des Wegs. März. Was willst du mehr? Wir steigen aus den Gräbern und wollen auch durch diese Welt hinziehen, einen bestimmten Plan haben wir nicht. |
2157 |
Wer dachte damals, als dieses hier gebaut wurde, an so weltbewegende Pläne, wie es die deinen sind? Nun, es ist nichts verloren, ein solcher Gedanke geht nicht verloren, wir werden ihn durchsprechen in der Tafelrunde, und das Gelächter sei dein Lohn. |
2158 |
Der blasse Mond ging auf, wir ritten durch den Wald. Poseidon wurde überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger Küste und eine von seiner Gegenwart betäubte Möwe zog schwankende Kreise um sein Haupt. Der wild rollende Wagen. |
2159 |
Der Lehrer, der auch teilnahm, tritt schon aus der Gruppe und übernimmt des kleinen Grafen Unterricht. Mit einem Stecken schiebt er alles vom Tisch hinunter, was dort war, zieht ihn mit der Fläche nach vorn als Tafel in die Höhe und schreibt darauf mit einer Kreide die Ziffer. |
2160 |
Auch das habe ich erwartet. Auch sie wird man gegen die Wand werfen müssen. Was immer es auch sei, was mich zwischen den zwei Mühlsteinen, die mich sonst zerreiben, hervorzieht, empfinde ich, vorausgesetzt, dass es nicht allzu großen körperlichen Schmerz mit sich bringt, als Wohltat. |
2161 |
Sein Programm war ein wenig einförmig, aber infolge der Zweifellosigkeit der Leistung immer wieder anziehend. An die Vorstellung, in der ich ihn zum ersten Male sah, erinnere ich mich, trotzdem es schon zwanzig Jahre her ist und ich damals ein ganz kleiner Junge war, natürlich noch ganz genau. |
2162 |
Gestern war ich zum erstenmal in den Direktionskanzleien. Unsere Nachtschicht hat mich zum Vertrauensmann gewählt, und da die Konstruktion und Füllung unserer Lampen unzulänglich ist, sollte ich dort auf die Abschaffung dieser Missstände dringen. |
2163 |
Das Wohl der Leute, glaube mir, liegt uns mehr am Herzen als das Wohl des Werkes. Warum auch nicht? Das Werk kann immer wieder neu errichtet werden, es kostet nur Geld, zum Teufel mit dem Geld, geht aber ein Mensch zugrunde, so geht eben ein Mensch zugrunde, es bleibt die Witwe, die Kinder. |
2164 |
Das aber sage deinen Leuten unten: Solange wir nicht aus eurem Stollen einen Salon gemacht haben, werden wir hier nicht ruhen, und wenn ihr nicht schließlich in Lackstiefeln umkommt, dann überhaupt nicht. Und damit schön empfohlen. |
2165 |
Es war eine sehr große Gesellschaft und ich kannte niemanden. Ich nahm mir deshalb vor, zunächst ganz still zu sein, langsam diejenigen herauszufinden, denen ich mich am besten nähern könnte, und dann mit ihrer Hilfe in die übrige Gesellschaft mich einzufügen. |
2166 |
Ich stand beim offenen Fenster, folgte dem Beispiel der andern, die sich von einem Seitentischchen Zigaretten zu holen pflegten, und rauchte in Ruhe. Leider verstand ich trotz aller Aufmerksamkeit nicht, wovon gesprochen wurde. |
2167 |
Das war mir ja im Allgemeinen ganz recht, ich will nicht jetzt nachträglich darüber zu klagen anfangen, ich will nur den Unterschied hervorheben: Sobald ich krank wurde, begannen die Krankenbesuche, finden fast ununterbrochen statt und haben bis heute nicht aufgehört. |
2168 |
Hoffnungslos steckte ein kleines Segel auf und lehnte sich friedlich zurück. Was sollte er fürchten im kleinen Boot, das mit seinem winzigen Tiefgang über alle Riffe dieser gefährlichen Gewässer mit der Gewandtheit eines lebendigen Wesens glitt. |
2169 |
Aber da ist noch Nimmermehr. Nimmermehr ist eine Bastarddogge und sieht so aus, wie es wohl bei sorgfältigster jahrhundertelanger Züchtung sich nicht hätte erzielen lassen. Nimmermehr ist ein Zigeuner. |
2170 |
Er läuft im Zimmer auf und ab, springt manchmal auf den Sessel, zerrt mit den Zähnen an dem Wurststückchen, das ich ihm hingelegt habe, schnippt es endlich mit der Pfote mir zu und beginnt wieder seinen Rundlauf. |
2171 |
Das, was Sie sich vorgenommen haben ist, von welcher Seite man es auch ansehen mag, ein sehr schwieriges und gefährliches Unternehmen. Allerdings soll man es auch nicht überschätzen, denn es gibt noch schwierigere und gefährlichere. |
2172 |
Und vielleicht gerade dort, wo man es nicht vermutet und wo man deshalb ganz harmlos und umgerüstet ans Werk geht. Das ist tatsächlich meine Meinung, womit ich Sie aber natürlich weder von Ihren Plänen abhalten, noch diese Pläne heruntersetzen will. Keineswegs. |
2173 |
Ich führte meinen Maulesel in den Stall, der von Reittieren schon fast überfüllt war, aber ich fand doch noch ein sicheres Plätzchen. Dann stieg ich hinauf in eine der Loggien, breitete meine Decke aus und legte mich schlafen. |
2174 |
Süße Schlange, warum bleibst du so fern, komm näher, noch näher, genug, nicht weiter, dort bleib. Ach für dich gibt es keine Grenzen. Wie soll ich zur Herrschaft über dich kommen, wenn du keine Grenzen anerkennst. |
2175 |
Es wird schwere Arbeit sein. Ich beginne damit, dass ich dich bitte, dich zusammenzuringeln. Zusammenringeln sagte ich und du streckst dich. Verstehst du mich denn nicht? Du verstehst mich nicht. Ich rede doch sehr verständlich: Zusammenringeln! Nein, du fasst es nicht. |
2176 |
Hältst du dann schließlich noch das Köpfchen hoch, so senk es langsam nach der Melodie der Flöte, die ich später blasen werde, und verstumme ich, so sei auch du still geworden, mit dem Kopf im innersten Kreis. |
2177 |
Von dieser Treppe aber war nichts zu lesen. Das mag sein, antwortete ich mir selbst, du wirst eben ungenau gelesen haben. Oft warst du zerstreut, hast Absätze ausgelassen, hast dich sogar mit Überschriften begnügt, vielleicht war dort die Treppe erwähnt und es entging dir so. |
2178 |
Und jetzt benötigst du gerade das, was dir entgangen ist. Und ich blieb einen Augenblick stehn und dachte über diesen Einwand nach. Da glaubte ich mich erinnern zu können, einmal in einem Kinderbuch möglicherweise von einer ähnlichen Treppe etwas gelesen zu haben. |
2179 |
Dann kamen sie zögernd, einer den andern stoßend, hervor, alle zog es zu dem Todesort. Dort lag sie, die kleine liebe Maus, das Eisen im Genick, die rosa Beinchen eingedrückt, erstarrt den schwachen Leib, dem ein wenig Speck so sehr zu gönnen gewesen wäre. |
2180 |
Kurz nach seinem Regierungsantritt besuchte der junge Fürst, noch bevor er die übliche Amnestie erlassen hatte, ein Gefängnis. Unter anderem fragte er, wie man erwartet hatte, nach demjenigen, welcher am längsten in diesem Gefängnis war. |
2181 |
Es war einer, der seine Frau ermordet hatte, zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt worden war und nun das dreiundzwanzigste Gefängnisjahr hinter sich hatte. Der Fürst wollte ihn sehn, man führte ihn in die Zelle, vorsichtshalber war der Gefangene für diesen Tag in Ketten gelegt worden. |
2182 |
Als ich abends nach Hause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein übergroßes Ei. Es war fast so hoch wie der Tisch und entsprechend ausgebaucht. Leise schwankte es hin und her. Ich war sehr neugierig, nahm das Ei zwischen die Beine und schnitt es vorsichtig mit dem Taschenmesser entzwei. |
2183 |
Aber er verließ mich und hüpfte die Wände entlang, halb flatternd wie auf wehen Füßen. "Einer hilft dem andern", dachte ich, packte auf dem Tisch mein Abendessen aus und winkte dem Vogel, der drüben gerade seinen Schnabel zwischen meine paar Bücher bohrte. |
2184 |
Gleich kam er zu mir, setzte sich, offenbar schon ein wenig eingewöhnt, auf einen Stuhl, mit pfeifendem Atem begann er die Wurstschnitte, die ich vor ihn gelegt hatte, zu beschnuppern, spießte sie aber lediglich auf und warf sie nur wieder hin. |
2185 |
Wir begannen mit dem Segelflug. Ich stieg hinauf, er folgte, ich sprang mit ausgebreiteten Armen hinab, er flatterte hinterher. Später gingen wir zum Tisch über und zuletzt zum Schrank, immer aber wurden alle Flüge systematisch vielmal wiederholt. |
2186 |
Der Quälgeist wohnt im Walde. In einer längst verlassenen Hütte aus alten Köhlerzeiten. Tritt man ein, merkt man nur einen unaustreibbaren Modergeruch, sonst nichts. Kleiner als die kleinste Maus, unsichtbar selbst einem nahegebrachten Auge, drückt sich der Quälgeist in einen Winkel. |
2187 |
Weil du nun schon hier bist, gesichert in einer Hütte, trotzdem die Tür längst aus den Angeln gebrochen und vertragen ist. Du aber tastest noch in die Luft, als wolltest du die Tür zuziehen, dann legst du dich nieder. |
2188 |
Endlich sprang ich vom Tische auf und zerschlug die Lampe mit einem Faustschlag. Sofort trat ein Diener mit einer Laterne ein, verbeugte sich und hielt für mich die Tür offen. Ich eilte aus meinem Zimmer die Treppe hinab, der Diener hinter mir. |
2189 |
Unten legte mir ein zweiter Diener einen Pelz um; da ich es wie kraftlos geschehen ließ, tat er noch ein übriges, schlug mir den Pelzkragen hoch und knüpfte ihn mir vorn am Halse zu. Es war nötig, die Kälte war mörderisch. |
2190 |
Unverbrüchlicher Traum. Sie lief die Landstraße entlang, ich sah sie nicht, ich merkte nur, wie sie sich im Laufen schwang, wie ihr Schleier flog, wie ihr Fuß sich hob, ich saß am Feldrand und blickte in das Wasser des kleinen Baches. |
2191 |
Zerrissener Traum. Die Laune eines früheren Fürsten verfügte, das Mausoleum müsse unmittelbar bei den Sarkophagen einen Wächter haben. Vernünftige Männer hatten sich dagegen ausgesprochen, schließlich ließ man den sonst vielfach beengten Fürsten in dieser Kleinigkeit gewähren. |
2192 |
Ein Invalide aus einem Krieg des vorigen Jahrhunderts, Witwer und Vater dreier Söhne, die im letzten Krieg gefallen waren, meldete sich für diesen Posten. Er wurde angenommen und von einem alten Hofbeamten in das Mausoleum begleitet. |
2193 |
Eine Waschfrau folgte ihnen, beladen mit verschiedenen Dingen, welche für den Wächter bestimmt waren. Bis zur Allee, welche dann geradeaus zum Mausoleum führte, hielt der Invalide trotz seiner Stelze mit dem Hofbeamten gleichen Schritt. |
2194 |
Die Kinder hatten ein Geheimnis. Auf dem Dachboden, in einem tiefen Winkel inmitten des Gerümpels eines ganzen Jahrhunderts, wohin kein Erwachsener mehr sich hin tasten konnte, hatte Hans, der Sohn des Advokaten, einen fremden Mann entdeckt. |
2195 |
Er saß auf einer Kiste, die, der Länge nach aufgestellt, an der Wand lehnte. Sein Gesicht zeigte, als er Hans erblickte, weder Schrecken noch Staunen, sondern nur Stumpfheit, mit klaren Augen beantwortete er Hansens Blick. |
2196 |
Auf dem Schoß lag ein gebogener kurzer Säbel in mattleuchtender Scheide. Die Füße staken in gespornten Schaftstiefeln, ein Fuß war auf eine umgestürzte Weinflasche gestellt, der andere auf dem Boden war etwas aufgerichtet und mit Ferse und Sporn ins Holz gerammt. |
2197 |
Dann aber kehrte er doch gleich wieder zurück. Mit gewissermaßen verächtlich aufgestülpter Unterlippe saß der Fremde dort und rührte sich nicht. Hans prüfte durch vorsichtiges Heranschleichen, ob diese Bewegungslosigkeit nicht Hinterlist sei. |
2198 |
Hans stand gerade hinter dem Ladenfenster des Tuchgeschäftes, in welchem er als Handlungsgehilfe angestellt war, und blickte in den Regen auf den Ringplatz des kleinen Landstädtchens hinaus, als von der Kirche her der Briefträger herüberkam. |
2199 |
Das schwach abklingende Läuten des Türglöckchens fiel Hans irgendwie auf, er blickte hin und sah dann auch, wie die Chefin ihr bärtiges, von schwarzen Tüchern umbundenes Gesicht ganz nahe an den Briefumschlag brachte. |
2200 |
Es war spät an einem Dezemberabend, alles lag im Schnee, als Hans bei dem Elternhaus vorfuhr. Der Hausmeister, der ihn erwartet hatte, trat, von seiner Tochter gestützt, aus dem Tor, es war ein gebrechlicher Greis, der schon Hansens Großvater gedient hatte. |
2201 |
Man begrüßte einander, allerdings nicht sehr herzlich, denn Hans hatte im Hausmeister immer nur einen einfältigen Tyrannen seiner Kinderjahre gesehn und die Demut, mit der er sich ihm jetzt näherte, war ihm peinlich. |
2202 |
Trotzdem sagte er der Tochter, die ihm über die steile enge Treppe das Gepäck nachtrug, in ihres Vaters Einkommen werde sich ohne Rücksicht auf das Legat, das er erhalten habe, nicht das Geringste ändern. |
2203 |
Um so mehr freute er sich auf das Alleinsein in seiner alten Stube und im Vorgefühl dessen streichelte er sanft den Kater, der als erste ungetrübte Erinnerung aus vergangenen Zeiten in seiner ganzen Größe an ihm vorüberhuschte. |
2204 |
Nun wurde aber Hans nicht in sein Zimmer geführt, das nach seiner brieflichen Anordnung für ihn hätte vorbereitet werden sollen, sondern in das frühere Schlafzimmer des Vaters. Er fragte, warum das geschehen sei. |
2205 |
Ich bin gewohnt, in allem meinem Kutscher zu vertrauen. Als wir an eine hohe weiße seitwärts und oben sich langsam wölbende Mauer kamen, die Vorwärtsfahrt einstellten, die Mauer entlang fahrend, sie betasteten, sagte schließlich der Kutscher: Es ist eine Stirn. |
2206 |
Fremde Leute erkennen mich. Letzthin konnte ich mich auf einer kleinen Reise mit meiner Handtasche kaum durch den Gang eines überfüllten Waggons drängen. Da rief mich aus dem Halbdunkel eines Abteils ein mir offenbar ganz Fremder an und bot mir seinen Platz an. |
2207 |
Übelkeit nach zuviel Psychologie. Wenn einer gute Beine hat und an die Psychologie herangelassen wird, kann er in kurzer Zeit und in beliebigem Zickzack Strecken zurücklegen, wie auf keinem andern Feld. Da gehen einem die Augen über. |
2208 |
Ich stehe auf einem wüsten Stück Boden. Warum ich nicht in ein besseres Land gestellt worden bin, weiß ich nicht. Bin ich's nicht wert? Das darf man nicht sagen. Reicher als ich kann nirgends ein Strauch aufgehen. |
2209 |
Eine kurze Zeit verstrich, mir gab's keine Ruhe: ein jüdisches Theater in Warschau, und ich soll es nicht sehn? Und ich habe es riskiert, alles auf die Karte gesetzt und ich bin ins jüdische Theater gegangen. |
2210 |
Vor einer Mauer lag ich am Boden, wand mich vor Schmerz, wollte mich einwühlen in die feuchte Erde. Der Jäger stand neben mir und drückte mir einen Fuß leicht ins Kreuz. "Ein kapitales Stück", sagte er zum Treiber, der mir den Kragen und Rock durchschnitt, um mich zu befühlen. |
2211 |
Meiner schon müde und nach neuen Taten begierig, rannten die Hunde sinnlos gegen die Mauer an. Der Kutschwagen kam, an Händen und Beinen gefesselt wurde ich neben den Herrn über den Rücksitz geworfen, so dass ich mit Kopf und Armen außerhalb des Wagens niederhing. |
2212 |
Die Fahrt ging flott, verdurstend mit offenem Mund sog ich den hochgewirbelten Staub in mich, hie und da spürte ich den freudigen Griff des Herrn an meinen Waden. Was trag ich auf meinen Schultern? Es war ein stürmischer Abend, ich sah den kleinen Geist aus dem Gebüsche kriechen. |
2213 |
Das Tor fiel zu, ich stand ihm Aug in Auge. Es zersprang die Lampe, ein fremder Mann mit neuem Licht trat ein, ich erhob mich, meine Familie mit mir, wir grüßten, es wurde nicht beachtet. Die Räuber hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns. |
2214 |
Die Räuber hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns. Öde Felder, öde Fläche, hinter Nebeln das bleiche Grün des Mondes. Er verlässt das Haus, er findet sich auf der Straße, ein Pferd wartet, ein Diener hält den Bügel, der Ritt geht durch hallende Öde. |
Комментарии
При такой раскладке тире тихонько "опускается" на правый мизинец, т.е., на "русскую точку". Двоеточие очень (на мой субъективный взгляд) удобно остается на русской цифре 2.
Запятая и точка остаются там же, где и их английские родственницы, т.е. на русских "б" и "ю", там же живут и точка с запятой рядышком с двоеточием, но при условии, что Вы будете нажимать клавишу Shift.
Немецкое "чудо" ß спокойно обитает на клавише "тире" (это сразу за цифрой "0" и без всяких "шифтов" между прочим).
Умляуты "ö" - русская "ж", "ä" - русская "э", "ü" - русская "х". Без шифта.
Для любителей "Английской США - международная" надо для набора умляутов обязательно нажимать ОДНОВРЕМЕННО клавиши "Шифт" и английские кавычки, потом всё это "дело" отпустить и нажать соответствующую английскую гласную, например, Shift+",o=ö.
Для набора ß придется воспользоваться сочетанием клавиш "правый Альт и английский s".
Вроде бы пока всё.